F. John-Ferrer

Wo sind sie geblieben


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Kämpfer ist in ihm erwacht. Dass er sein Leben aufs Spiel setzen will, kommt ihm nicht eine Sekunde lang zu Bewusstsein.

      Er schiebt sich auf den Ellenbogen und Zehenspitzen weiter, den Leib gespannt wie eine Stahlfeder. Der Neuschnee ist wässerig und verursacht beim Gleiten ein leises Schmatzen. Aber der Wind, der von Osten weht, hat die stärkere Stimme: Er winselt und jammert in der Dunkelheit.

      Die Flachstelle ist erreicht. Hajek verschnauft kurz, hält den Atem zurück, stößt ihn in die Beuge des Armes hinein. Weiter vorn beginnt die erste Bodenmulde; der Bach muss gleich dahinter sein. Wo liegt der Scharfschütze? Man sieht diese Burschen nie. Sie sind Meister im Tarnen. Gemein, mit Sprengmunition zu schießen! Das ist eine neue Einführung, die fleißig geübt wird! Hajek will nicht nur den Scharfschützen, sondern, wenn es irgendwie geht, auch dessen Gewehr. Es sollen außergewöhnlich gute Gewehre sein, mit der neuesten Zieloptik ausgerüstet.

      Hajek lauscht eine Weile, dann bewegt er sich schlangengleich weiter. Wenn die Russen Meister der Tarnung sind, ist Hajek ein Meister im Anschleichen.

      Die dahinwindende Gestalt ist kaum zu erkennen. Jetzt verschwindet sie in der Mulde.

      Wieder hält Hajek inne und horcht. Er hört leises Schmatzen, aber es ist nur der Bach. Er muss ganz nahe sein.

      Um dem Obergefreiten Hermann Klotz das Sprenggeschoss zwischen die Augen zu bringen, hat der Sowjetschütze vorher eine Leuchtkugel hochgehen lassen. Ihr Licht erreichte sein Gesicht in der Schießscharte. Dann traf Klotz das fürchterliche Geschoss.

      Hajek ist ein alter Fuchs – bewährt in unzähligen Gefahrenmomenten, eiskalt in seinen Überlegungen. Er weiß, wie der Gegner kämpft; er weiß aber auch, was ihm blüht, wenn er vorzeitig von ihm entdeckt wird, wenn etwas schiefgeht.

      Jetzt hat er den Bach erreicht. Es ist nur ein schmales Rinnsal, das dahinschmatzt und verträumt gluckst. Hajek hebt den Kopf und späht durch den dünnen Schneevorhang, der lautlos niedersinkt. Weiter vorn ist etwas Dunkles. Eine Buschgruppe. Von dort muss der gut gezielte Schuss gekommen sein. Aber Scharfschützen pflegen ihre Stellung nach dem Schuss sofort zu wechseln. Hajek schlängelt sich langsam auf die Buschgruppe zu.

      Er erreicht sie, bleibt liegen, spannt die Sinne an und horcht. In der Ferne brodelt das Frontfeuer. Dort, wo die Trümmerstadt liegt, ist heute ausnahmsweise einmal Ruhe. Eine verdächtige Ruhe.

      Hajek denkt plötzlich an Warnicke. Das wird einen ganz schönen Anpfiff geben, oh ja! Man mag mit Warnicke gut befreundet sein, eine noch so gute Nummer bei ihm sein, aber eine Befehlsverweigerung lässt er nicht durchgehen. Niemals! Aber geht es diesmal nicht um etwas ganz anderes?

      Hajeks Gedankenfaden reißt ab. Es ist ihm, als höre er ein Geräusch. Ganz nah. Hinter dem Strauch. – Ja, Schnee schmatzt unter einem leisen Tritt!

      Hajek nimmt die Russen-MPi, legt sich halb darauf und entsichert sie, tastet in die Taschen, wo die Eierhandgranaten stecken. Er überlegt schnell: Soll er Handgranaten werfen oder Dauerfeuer in Richtung des Geräusches loslassen?

      Er wartet noch, schiebt sich etwas nach links, um am Busch vorbeispähen zu können.

      Ungefähr zwanzig Meter entfernt bewegt sich ein Hauch von einem Schatten. Jetzt ist er wieder weg. Weiter, befiehlt sich Hajek und schiebt sich ein paar Meter vor.

      Eine Buschgruppe erscheint.

      Hajek weiß, dass der Feind ganz in der Nähe ist; er spürt ihn geradezu, er wittert ihn.

      Zum Busch hin, denkt Hajek und legt das letzte Stück im Schneckentempo zurück. Unheimlich langsam. Dann hat er die Buschgruppe erreicht.

      Er lauscht.

      Er vernimmt jetzt ein verhaltenes Hüsteln, das in ein krampfhaft unterdrücktes Husten übergehen will. Der Russe scheint sich verkühlt zu haben. Nun ja, bei dem Sauwetter! Auch Russen kann so etwas passieren.

      Der da hüstelt, hat bestimmt schon oft Schießerfolge gehabt. Vorhin den Hermann, unlängst den Schorsch Blenk und vielleicht sogar auch den Alfred Rangel.

      Hajek nimmt zwei Handgranaten aus der Tasche, zögert einen Augenblick, zieht die erste mit den Zähnen ab, zählt in Gedanken langsam bis drei und wirft. Gleich darauf die zweite. Er schnellt hoch, krümmt den Finger und schießt Dauerfeuer durch das Buschwerk. Er schwenkt die MPi hin und her. Er hört das Krachen der beiden Explosionen. Sieht die beiden Blitze.

      Jetzt springt er vor und stürzt in Richtung des Pulvergestankes.

      Die Leute in den Stellungen haben die Detonation und das Rattern der Maschinenpistole gehört.

      Ebner hält das MG schussbereit und schreit: »Jetzt hat er ihn! Er hat ihn, Max!«

      Feldwebel Hajek hat den Scharfschützen. Er liegt vor ihm. Eine zweite Gestalt, die ein paar Meter entfernt liegt, richtet sich jetzt auf und rennt davon. Mit ein paar Sätzen ist Hajek bei dem Russen und schlägt ihm die leer geschossene MPi über den Kopf. Der Russe bricht zusammen.

      Hajek stürzt sich über ihn, packt ihn, reißt ihn hoch und beutelt ihn wie irr.

      »Du Schuft!«, brüllt er. »Du gemeines Schwein!« Hajek ist wie von Sinnen. Er weiß nicht, was er tut. Die Gestalt in seinen Fäusten gibt keinen Laut von sich. Schwankt hin und her. Ein weißvermummter Kopf wackelt haltlos nach beiden Seiten, nach hinten und vorn.

      Da stößt Hajek den Russen weg. Der Russe fällt aufs Gesicht, erhebt sich langsam, nimmt die Arme halb hoch und lallt:

      »Kamerad … Kamerad …«

      Hajek schüttelt den Bann ab, geht auf den Russen zu, versetzt ihm Püffe und Stöße und treibt ihn zu den Stellungen hinauf, laut kommandierend: »Marsch! Vorwärts! Dawai, dawai!« Und der Russe stolpert voran, fällt hin, rappelt sich wieder hoch und wankt weiter, mit einer Hand seinen Hinterkopf haltend, den anderen Arm ergeben hochhaltend.

      Sie kommen an dem Toten vorbei, der im Schnee zwischen zwei dunklen Flecken liegt. Hajek hebt zwei Gewehre auf. Der Russe geht von allein weiter, mit weichen Knien, taumelnd.

      Eine Viertelstunde später ist Hajek wieder in der Ziegelei. Warnicke ist da. Er sagt kein Wort, er schaut nur den Russen an, der taumelnd im Lichtschein der Stalllaterne steht und sich aufrecht zu halten versucht. Es ist ein junger Kerl mit einem gut geschnittenen Gesicht, aus dessen Mundwinkel ein dünnes Blutrinnsal tropft.

      Der Russe bewegt die Lippen.

      »Mama … oh Mama«, stammelt er, und dann sinkt er zusammen.

      Hajek steht mit hängenden Armen da, völlig durchnässt, schmutzig; er atmet schwer. Wie gemein das alles ist, denkt er. Wie gemein! Warum ist dieser Krieg bloß so gemein?

      In diesem Augenblick empfindet Martin Hajek keinen Grimm für den geschlagenen Gegner. Ein Gefühl von Leere ist in ihm. Er lässt den Kopf sinken.

      »Bringt den Kerl zum Gefechtsstand«, hört er Warnickes heisere Stimme.

      Zwei Landser treiben den Russen hoch, packen ihn und schubsen ihn hinaus. Die anderen stehen im Lichtkreis der Stalllaterne und besichtigen die beiden Beutegewehre.

      Warnicke geht zu Hajek und rüttelt ihm die Schulter.

      »War ’ne riskante Sache«, sagt er. »Schwein gehabt, wie?«

      »Ja«, murmelt Hajek. »Wieder mal Schwein gehabt.«

      Die beiden Männer sehen sich stumm an. Warnicke nickt unmerklich, etwas wie ein Lächeln huscht über sein knochiges Gesicht, dann murmelt er:

      »Will mir alles noch überlegen, Hajek. Sie wissen, was?«

      »Jawohl«, murmelt Hajek.

      Leutnant Warnicke verlässt den Ofenraum und schlingt den grauen Wollschal um den Hals.

      Am 15. November gelingt es den Sowjets, nördlich von Tscherkassy den Flussübergang zu erzwingen und das Grenadier-Bataillon in Richtung der Bahnlinie zurückzuwerfen. Der Flussübergang bringt den roten Sturmtruppen empfindliche Verluste, denn die Deutschen weichen erst nach verbissenem Widerstand.