Tscherkassy nicht mehr zu halten.
Man zieht daher eine Batterie 15-cm-Feldhaubitzen ab und schickt sie an die Bahnlinie. Ein Zug Infanteriegeschütze muss, so schwer es auch fällt, aus der Verteidigungslinie herausgezogen und ebenfalls zur Einbruchstelle abkommandiert werden.
Östlich der Stadt – jenseits des Dnjepr – drängt der Feind mit schweren Waffen heran und versucht, den Flussübergang zu erzwingen. Aber die am östlichen Stadtrand liegenden Verteidiger verhindern jeden Übersetzversuch. Dreimal setzt der Russe zu einem Gewaltstreich an, dreimal wird er blutig zurückgeschlagen. Die sowjetischen Sturmboote, in denen sich die Sturmtruppen ducken, werden durch schweres Granatwerferfeuer und im Direktbeschuss mit Pak und Maschinengewehrgarben zerlöchert. Die Schreie der Getroffenen und in den kalten Wellen mit dem Tode Ringenden geht im rasenden Gehämmer der Kleinwaffen unter.
Nach diesem Übersetzversuch schicken die Sowjets Flugzeuge und decken den Trümmerhaufen Tscherkassy mit Bombenteppichen zu. Es ist, als würde die gemarterte Stadt immer wieder mit einem riesigen Spaten umgegraben – von unten nach oben. Von oben nach unten. Die Toten in der Erde finden keine Ruhe, die Lebenden erwarten den Tod.
Es ist die Hölle.
Kaum, dass die Bomber abgeflogen sind, setzt wieder schweres Artilleriefeuer ein. Im Gefechtsstand der 2. Kompanie rasselt das Feldtelefon. Leutnant Warnicke, seit einigen Tagen vollkommen nüchtern und mit seiner gelichteten Kompanie aufs engste verbunden, nimmt den Bataillonsbefehl entgegen: »Alte Stellung sofort räumen und neue Verteidigungslinie nordwärts der Bahnlinie beziehen.«
Eine Dreiviertelstunde später rückt die nur noch aus einundachtzig Mann bestehende Kompanie ab.
Es schneit, es ist bitter kalt. Mit hängenden Köpfen trotten die Landser in loser Marschordnung Richtung Bahnlinie. Niemand spricht. Gleichgültig geworden, abgestumpft gegen Not und Tod, in zerlöchertem Schuhwerk, in steif gefrorenen Mänteln, schwer beladen mit Munition und Handfeuerwaffen – so schlurft die Kompanie nach Norden. Zur Bahnlinie Tscherkassy–Smjela.
Aus dem Matschwetter ist Frostwetter geworden. Der Schnee ist zu einer harten Decke gefroren, auf der jeder Schritt dumpf poltert. Ein bitterkalter Wind bläst durch die Kleider bis auf die Haut. Die Gesichter der Landser sind blaugefroren, stoppelbärtig, seit Wochen nicht mehr gewaschen.
Die zugewiesene Verteidigungslinie verläuft längs der teilweise aufgerissenen, mit umgeknickten Telegrafenmasten gesäumten Bahnstrecke. Schnee bedeckt die Gleise. Im Westen erheben sich weiße Hügel. Nach Norden verläuft eine schmale verschneite Straße, die in einem Hügeleinschnitt verschwindet.
Warnicke bezieht ein trostlos leeres und halbverfallenes Bahnwärterhäuschen als Gefechtsstand. Die Strippenzieher traben los und legen Leitungen zu den Zügen und zum Bataillon, das zwischen Bahnlinie und Tscherkassy liegt.
»Eingraben!« lautet der Befehl, und die Landser schnallen die Feldspaten vom Koppel und versuchen, in die knochenhart gefrorene Erde so etwas Ähnliches wie ein Deckungsloch zu buddeln. Ein paar findige Köpfe zerren Eisenbahnschwellen aus dem harten Schnee und bauen damit notdürftige Unterstände.
Die Arbeit macht warm und taut die Geister auf. Flüche werden laut. Da und dort lacht sogar jemand. Die Widerstandskräfte sind mobilisiert, man ist nicht unfroh darüber, sich jetzt in einer anderen Richtung verteidigen zu müssen.
Der II. Zug des Feldwebels Hajek ist an die rechte Flanke der Kompanie geschickt worden, in die Nähe der nach Norden verlaufenden Straße. Sie führt schnurgerade auf den Hügeleinschnitt zu und verschwindet dann. Rechts der Straße liegt ein kleiner verlassener Bauernhof, den Hajek als Unterschlupf bezieht. Die muffige Stube ist fast leer, zurückgelassen wurde nur ein zerbrochener Tisch, ein dreibeiniger Stuhl und, weil man ihn nicht mitnehmen konnte, der Lehmofen, der der Familie als Schlafplatz gedient haben mochte. Die Fenster sind viereckige Löcher, die Tür fehlt. Ebner inspiziert den Hof, in der Hoffnung, ein verlassenes Huhn zu finden, um es für den Kochtopf zu präparieren. Aber es ist kein Huhn da. Im Stall stinkt es nach Schimmel.
Wenn man nach Osten blickt, sieht man die rauchenden Trümmer von Tscherkassy, hört man das Wummsen der Einschläge. Der Himmel ist schneeträchtig und hängt tief.
Trostloses Russland!
In Hajeks Ohren klingt noch Warnickes Ermahnung: »Sie sind an einer wichtigen Stelle, Feldwebel. Sie sind die Rückendeckung. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht vom Feind überrascht und überrollt werden. Höchste Wachsamkeit!«
Als ob man nicht andauernd daran dächte, sich durch Wachsamkeit am elenden Leben zu erhalten!
Wenn es den Sowjets gelänge, Tscherkassy in den Rücken zu fallen, ist alles aus!
Jeder weiß das, und jeder will sein Bestes tun, um den Kameraden in der Trümmerstadt den Rücken freizuhalten.
Hajek ruft seine Leute zusammen. Er ermahnt die Gruppenführer und erklärt ihnen genau die Lage. Dann teilt er den Vorposten ein. Der Gefreite Gimmler und der Obergefreite Alsdorf werden zum Hügeleinschnitt, den die Straße durchläuft, geschickt.
»Bezieht Stellung und passt auf«, sagt Hajek. »Sobald ihr was hört oder seht, sofort zurückkommen und Meldung erstatten.«
Die beiden Stammleute trotten mit einem MG und den Munitionskästen davon. Der kalte Wind schiebt sie ihrem Ziel entgegen. Als sie am Hügeleinschnitt ankommen, sehen sie, dass die Straße in ein paar Krümmungen einem Waldstück entgegenführt. Vom Hügeleinschnitt aus kann man gut zum Wald hinüberschauen. Bis dorthin sind es etwa zwei Kilometer. Es ist nichts zu sehen. Der Wind treibt dünne Schneestaubwolken durchs Gelände.
Gimmler und Alsdorf schnallen den Spaten ab und buddeln sich warm. Eine Stunde brauchen sie, bis sie ein Loch geschafft haben, in dem sie mit dem MG liegen können. Sie ziehen zwei Zeltbahnen über das Loch und schützen sich somit lediglich gegen den kalten Wind.
»So«, sagt Gimmler, als sie unter der Zeltbahn liegen, »jetzt gibt’s was Spezielles für die fleißigen Knaben. Er holt eine flachbauchige Kognakflasche aus der Manteltasche, küsst sie zärtlich und sagt: »Von meiner Emmi. Bei jedem Schluck soll ich an sie denken. – Prost, Emmi!« Gimmler trinkt und reicht Alsdorf die Flasche.
»Prost, Emmi«, sagt auch er und trinkt.
Danach drehen sie sich mit klammen Fingern Zigaretten aus Krüllschnitt und Zeitungspapier. Unter der Zeltbahn riecht es nach verbranntem Papier. Die beiden Landser schauen ins Gelände und schweigen.
Plötzlich kichert Gimmler.
»Was lachst du?«, fragt Alsdorf.
»Ich muss daran denken, wie ich mit meinem Persilkarton eingerückt bin. Da hat man mir doch wörtlich gesagt: »Meine Herren, mit den Russen geht’s genauso ruckzuck wie mit den Franzosen. Die hauen wir genauso schnell in die Pfanne.«
Alsdorf nickt.
»Das war vor zweieinhalb Jahren«, fährt Gimmler fort. »Und solange raufen wir uns jetzt schon mit dem Iwan rum. Er haut uns in die Pfanne, und nicht wir ihn. Oder bist du anderer Meinung?«
Alsdorf kaut auf der Zigarette und schüttelt den Kopf. »Den Krieg haben wir schon verloren«, murmelt er. »Seit Stalingrad geht’s abwärts mit der Großdeutschen Wehrmacht. Nur ein Vollidiot glaubt noch an den Endsieg.«
»Und solche gibt es noch jede Menge, mein Lieber.«
Sie schweigen und klopfen mit den Stiefelspitzen den harten Boden, um die Füße warmzuhalten. Es fängt zu schneien an. Dünn. Stetig. Zwischen Höheneinschnitt und dem Waldstreifen drüben sinkt ein immer dichter werdender Vorhang nieder.
»Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie es wird, wenn der Iwan uns einkassiert«, sagt Alsdorf und saugt den Rest der Selbstgedrehten mit spitzen Fingern. »Sibirien soll ziemlich das Ende sein … ich meine, nicht nur das Ende der Welt.«
»Denken wir nicht daran«, murmelt der Gefreite, »sonst hau ich gleich in den Sack.«
»Wälder soll es dort geben«, fährt Alsdorf nach einer Weile fort, »die noch keiner betreten hat, richtige Urwälder.