Julia Fritz

Fremdsprachenunterricht aus Schülersicht


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Aspekte (Item 2), der Lehrperson (Item 4), die Selbsteinschätzung (Item 1), das emotionale Erleben (Item 3) sowie die Einstellung zu einer bestimmten Fremdsprache bzw. zum Erlernen derselben (Item 5 und 6), wobei zu hinterfragen bleibt, ob die Aussagen der Items 5 und 6 wirklich dem Unterrichtserlebnis oder eher anderen Faktoren zuzurechnen sind.

      Doch wenngleich die Auswahl dieser Items durchaus nachvollziehbar erscheint, bleibt ungeklärt, worauf diese beruht. Gleichzeitig werden an dieser Stelle die Grenzen eines quantitativen Vorgehens bei der Erforschung des Unterrichtserlebnisses deutlich. Denn obwohl bspw. die Beantwortung des vierten Items darüber Auskunft gibt, ob den SchülerInnen die Art der Lehrkraft beim Unterrichten der Fremdsprache gefällt, liefert es keine tieferen Einsichten, was den Lernenden genau daran gefällt. Wenn man sich dem Unterrichtserlebnis der Lernenden nähern will, ist dies also nicht hinreichend über vordefinierte Items möglich, da ein solches auf Vorannahmen der Forschenden basierendes Verständnis zu kurz greift. Nun ging es bei der MES-Studie nicht in erster Linie darum, das Unterrichtserlebnis zu erforschen, sondern die Einstellungen der SchülerInnen zu erfassen. Trotzdem wird die zentrale Bedeutung des Unterrichtserlebens bei der Erklärung von Einstellungsunterschieden als eines der zentralen Ergebnisse der Studie hervorgehoben (s.o.), sodass eine nähere Beschäftigung mit dem Konstrukt unerlässlich erscheint.

      Auch Beckmann nennt „das Unterrichtserlebnis der Schüler und Studierenden“ (Beckmann 2016:9) als einen wichtigen Aspekt ihres Erkenntnisinteresses, macht in ihrer Untersuchung jedoch nicht explizit, wie sie das Unterrichtserlebnis konzeptualisiert. So lässt der Fragebogen ein Konstrukt „Unterrichtserlebnis“ vermissen und es kann nur angenommen werden, dass die Fragengruppe 9 des Schülerfragebogens auf die Erfassung des Unterrichtserlebnisses abzielt.1 Hier werden die Lernenden zunächst gebeten, die Priorisierung von Kompetenzen bzw. Unterrichtsgegenständen in allen belegten Schulfremdsprachen einzuschätzen und die Antwortalternativen „Hörverstehen, Leseverstehen, Schreiben, Sprechen, Grammatik und kulturelle Aspekte des Landes der Zielsprache“ (ebd.: 154) entsprechend ihrer Berücksichtigung im Unterricht zu sortieren. Im Anschluss an diese Frage sollen die Lernenden einschätzen, inwiefern die Prioritäten, die im Unterricht gesetzt werden, mit ihren Interessen übereinstimmen (vgl. ebd.). Das Verständnis, welches Beckmann bei der Interpretation des Unterrichtserlebnisses zugrunde legt, entspricht hier also der Frage, ob der Fremdsprachenunterricht den eigenen Interessen – im Sinne von (Kompetenz‑)Zielen – gerecht wird.

      Damit sei stellvertretend auf zwei quantitativ ausgerichtete Fragebogenstudien aus dem Bereich der fremdsprachendidaktischen Forschung verwiesen, die mit dem Begriff des Unterrichtserlebnisses arbeiten, diesen jedoch nicht genauer definieren. Für eine präzise Begriffsbestimmung soll ein Rückgriff auf die Pädagogik weiterhelfen, wo die terminologische Auseinandersetzung bereits auf eine viel längere Tradition zurückblickt.

      Historisch und systematisch betrachtet lassen sich die Termini „Erleben“ oder „Erlebnis“ im Bereich der Lebensphilosophie verorten und finden bereits Erwähnung in den Arbeiten von Nietzsche und Dilthey (vgl. Reinhold et al. 1999:135). Eine Zusammenschau der Verbreitung, Verwendung und Entwicklung des Begriffs legt Klaas (2013) vor.2 Dabei verweist er auf die Unterscheidung von „Erlebnis“ und „Erleben“. Während Letzteres demnach als Erlebensstrom die „fortwährende Auseinandersetzung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt meint, stellt das Erlebnis ein singuläres Ereignis innerhalb dieses Erlebensstroms dar“ (Klaas 2013:218). Dass er für seine Studie den Begriff des Erlebens zugrunde legt, begründet er damit, dass nicht „die singuläre Episode, sondern der Erlebensstrom“ (ebd.: 222) im Fokus stehe.

      Neben dieser temporären Differenzierung erscheint der zweite Aspekt seiner begrifflichen Auseinandersetzung noch wichtiger. Klaas spricht unter Bezugnahme auf das Lexikon der Pädagogik „vom Erlebnis als besonders einschneidende, existentiell bedeutsame Episode des Erlebens“ (Klaas 2013:218, Hervorh. d. Verf.). Erlebnisse zeichnen sich also ferner dadurch aus, dass wir sie als besonders eindrückliche und einprägsame Erfahrungen mit einem hohen emotionalen Beiklang wahrnehmen (vgl. Schöndorf 1995:25f.). Auch Clausen hebt diesen Punkt hervor:

      Unter Umständen wird die Unterrichtswahrnehmung der Schüler auch durch einzelne kritische Unterrichtsereignisse geprägt, besonders eindrucksvolle Unterrichtsepisoden, die bei der Beurteilung erinnert werden (vgl. u.a. Weinstein, 1985). (Clausen 2002:189, Hervorh. d. Verf.)

      Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt die Bedeutungszuweisung und Beurteilung der Episode(n) durch die Lernenden ein weiteres zentrales Merkmal des Unterrichtserlebnisses dar. War in den bislang zitierten Studien von Unterrichtswahrnehmung die Rede, war damit zumeist eine wie auch immer geartete subjektive Bewertung durch die Lernenden impliziert. Folgt man jedoch dem Ansatz von Schenz (2007:172), gilt es hier zu differenzieren: „Das Erlebnis als Erleben und Beurteilen der eigenen Wahrnehmungen beinhaltet ein Gefühl.“ Zum Erlebnis wird eine Wahrnehmung demnach erst dann, wenn sie emotional geordnet, beurteilt und ihr eine Bedeutsamkeit für das eigene Handeln zugeschrieben wird (vgl. ebd.: 171). Damit unterscheidet sich Schenz auch von Reinhold et al. (1999:135), nach denen Erlebnisse sowohl bewusst oder unbewusst, reflektiert oder auch unreflektiert sein können.

      Die voranstehenden Erläuterungen dienten dazu, zentrale Merkmale des Begriffs „Erlebnis“ herauszuarbeiten, welche die Grundlage für eine Definition des Unterrichtserlebnisses in dieser Arbeit bilden. So lassen sich Unterrichtserlebnisse als individuell bedeutsame Wahrnehmungen begreifen, die auf kritischen oder besonders eindrucksvollen Ereignissen innerhalb des (Fremdsprachen‑)Unterrichts basieren und vom Lernenden emotional geordnet sowie einer subjektiven Beurteilung unterzogen werden. Dabei können sowohl singuläre Ereignisse – im Sinne von Erlebnissen – als auch länger andauernde oder wiederkehrende Episoden – im Sinne eines Erlebensstroms – von Bedeutung für die SchülerInnen sein, sodass hier, wenn von Unterrichtserlebnissen die Rede ist, unabhängig von ihrer zeitlichen Dauer beide Formen impliziert sind.

      3.5 Zwischenresümee und Schlussfolgerungen für die empirische Studie

      Der Vergleich vorliegender Studien, die ein Erkenntnisinteresse an den Sichtweisen der SchülerInnen auf (Fremdsprachen‑)Lernen und (Fremdsprachen‑)Unterricht formulieren, zeigt, dass dabei die Perspektive der Lernenden mit ihren Unterrichtswahrnehmungen in den Fokus gerückt wird. Im Rahmen von vorwiegend quantitativen Studien wurden affektive Faktoren (Einstellungen, Motivation, Emotionen etc.) als Ergebnisse des Fremdsprachenlernprozesses zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben. Der dynamische Prozess, d.h. die Entwicklungen und Veränderungen, die diesen Ergebnissen zugrunde liegen, wurden hingegen nur bedingt erfasst. Es liegen kaum Antworten vor, aufgrund welcher Bedingungen sich die Motivation, das Interesse bzw. die Einstellungen in die eine oder andere Richtung entwickeln, welche Faktoren auf die fachliche Hin- oder Abwendung in den individuellen Schülerbiografien einwirken und welche Rolle in diesem Prozess Unterrichtserlebnisse spielen. Die subjektiven Lernerfahrungen im Fremdsprachenunterricht und wie SchülerInnen diese interpretieren, bleiben bislang, wenn es um die Erklärung von Einstellungsunterschieden geht, als deren Ursache häufig unberücksichtigt. Doch nur wenn der Blick auf die fachbezogene Erlebnisgeschichte der Lernenden gerichtet wird, kann es gelingen, eben diese individuellen Bedingungszusammenhänge aufzudecken. Es fehlt demnach an empirischen Studien, die nicht nur das Wahl- bzw. Abwahlverhalten sowie die Schülersicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten erheben, sondern auch die Ursachen stärker mit in den Blick nehmen.

      Zwecks Erarbeitung einer umfassenden Strategie zur Senkung der Abwahlquote sind umfangreiche zusätzliche Studien erforderlich, die weitere Zusammenhänge zwischen der Unterrichtsgestaltung und dem Wahl- bzw. Abwahlverhalten aufzeigen. (Bittner 2003:352)

      Hier erweist sich der Zugang über das individuelle Unterrichtserleben der SchülerInnen als besonders anschlussfähig und verspricht insofern neue Erkenntnisse. Indem die Frage gestellt wird, wie die Lernenden ihren Fremdsprachenunterricht wahrnehmen, ergeben sich durchaus Überschneidungen zu bereits vorhandenen Arbeiten zur Schülersicht (vgl. Kap. 3.3). Anders als in diesen Studien wird hier hingegen vielmehr die Prozessdimension und damit das Erfahrungswissen der Lernenden betont, was gleichzeitig eine andere methodische Herangehensweise erforderlich macht. Diese soll im nachfolgenden Kapitel näher erläutert werden.

II. Empirie – Konzeption und Durchführung der Studie