die schwarzäugige Marie, das jüngste Töchterchen, auf den Schoß, spielte mit einer Hand auf dem Fortepiano und sang alte französische Lieder, um so den langen afrikanischen Tag zu verkürzen, während der heiße Wind vom Garten her großzügig durch die geöffneten Fenster hereinblies … Constantine, das in der erbarmungslos sengenden Sonne alle seine Fensterläden geschlossen hielt, wirkte in diesen Stunden wie eine tote Stadt: Nur die Blauracken schrien immer wieder hinter den Mauern der Gärten, und melancholisch, mit der Schwermut der Kolonialländer, schallte der Klang der Hornbläser über die Hügel außerhalb der Stadt, wo von Zeit zu Zeit Kanonen mit dumpfem Schlag die Erde erschütterten und weiße Soldatenhelme aufblitzten.
Die Tage in Constantine verliefen einförmig, aber niemand hätte bemerkt, daß Madame Mareau darunter gelitten hätte. Ihr Charakter, der feinfühlig und sittsam war, zeigte weder eine gesteigerte Empfindlichkeit noch übermäßige Nervosität. Ihre Gesundheit konnte man nicht als robust bezeichnen, aber sie bereitete Monsieur Mareau auch keine Sorge. Lediglich ein Vorfall hatte ihm zu denken gegeben: Einmal in Tunis hatte ein arabischer Gaukler sie so schnell und tief hypnotisiert, daß sie nur mit Mühe und Not wieder zu sich kam. Das war jedoch noch zur Zeit der Übersiedlung aus Frankreich gewesen; seither hatte sie einen derart heftigen Willensverlust, eine derart krankhafte Empfänglichkeit nie wieder erfahren. So war Monsieur Mareau glücklich, gelassen und überzeugt davon, ihre Seele sei ungetrübt und ihm aufrichtig zugetan. Dem war auch so, selbst im letzten, dem vierzehnten Jahr ihres Familienlebens … Da jedoch erschien in Constantine ein gewisser Emile Du Buis.
Emile Du Buis war der Sohn von Madame Bonnet, einer langjährigen guten Bekannten der Mareaus, und erst neunzehn Jahre alt. Madame Bonnet, die Witwe eines Ingenieurs, hatte außer Emile, ihrem Sohn aus erster Ehe, der in Paris aufgewachsen war und bereits Rechtswissenschaft studierte, sich allerdings mehr dem Verfassen von nur ihm allein verständlichen Gedichten widmete und sich zur nichtexistierenden Schule der »Sucher« zählte, noch eine Tochter, Elise. Diese war im Mai 1889 kurz vor ihrer Hochzeit erkrankt und innerhalb weniger Tage verstorben. Emile, der noch nie zuvor in Constantine gewesen war, war nun zum Begräbnis angereist. Man kann gut verstehen, wie sehr dieser Tod Madame Mareau berührte, der Tod eines jungen Mädchens, das schon den Brautschleier anprobiert hatte; auch weiß man, wie leicht sich unter derartigen Umständen Menschen näherkommen, selbst wenn sie einander zuvor kaum gekannt haben. Zudem war Emile für Madame Mareau wirklich nur ein Knabe. Bald nach dem Begräbnis reiste Madame Bonnet zu Verwandten nach Frankreich. Emile blieb in Constantine, im Landhaus seines verstorbenen Stiefvaters, in der Villa Hashim, wie man sie in der Stadt nannte, und war beinahe täglich zu Gast bei den Mareaus. Wie immer er war, was immer er vorgab zu sein, er war trotz allem noch sehr jung, sehr empfindsam, und er suchte Menschen, denen er sich für eine Zeitlang anschließen konnte. »Ist es nicht eigenartig?« sagten manche. »Madame Mareau ist gar nicht wiederzuerkennen! Wie lebhaft sie geworden ist, wie hübsch!«
Diese Anspielungen waren indes unbegründet. Zu Anfang wurde lediglich ihr Leben ein wenig heiterer, wurden ihre Mädchen ein wenig unbekümmerter und koketter, weil Emile seinen Schmerz und das Gift, das ihm – wie er meinte – das »Fin de siècle« einflößte, zwischendurch immer wieder vergaß und sich manchmal stundenlang mit Marie und Louise abgab wie mit seinesgleichen. Bei alledem war er dennoch ein Mann, kam aus Paris und war nicht gerade ein Dutzendmensch; er war Teil jenes für gewöhnliche Sterbliche unzugänglichen Lebens, das die Pariser Schriftsteller führten: Häufig rezitierte er mit fast somnambuler Ausdruckskraft seltsame, aber wohlklingende Verse, und vielleicht war es wirklich gerade ihm zu verdanken, daß Madame Mareaus Gang leichter und beschwingter geworden war, ihre häuslichen Toiletten ein wenig eleganter und ihr Tonfall zärtlicher und neckischer; vielleicht war in ihrer Seele auch ein Fünkchen rein weiblicher Freude erwacht, daß da jemand war, den man ein wenig bevormunden, mit dem man halb scherzhaft in belehrendem Ton sprechen konnte, mit einer Unbefangenheit, die der Altersunterschied zwischen ihnen so selbstverständlich gestattete, und daß dieser Mensch eine Anhänglichkeit zu ihrem ganzen Haus entwickelt hatte, in dem allerdings – das zeigte sich natürlich sehr bald – die Hauptperson für ihn unangefochten sie war. Aber all das ist schließlich nichts Besonderes! Meistens tat er ihr vor allem nur leid.
Er hielt sich aufrichtig für einen geborenen Poeten und wollte auch äußerlich einem solchen gleichen; er trug die Haare lang und zurückgekämmt und kleidete sich mit künstlerischer Bescheidenheit; die schönen braunen Haare paßten zu seinem blassen Gesicht ebenso wie zu seiner schwarzen Kleidung, doch diese Blässe war allzu blutleer und hatte einen Anflug von Gelb. Seine Augen glänzten fortwährend, wirkten jedoch durch das ausgemergelte Gesicht fiebrig, und so eingefallen und flach war seine Brust, so dünn waren seine Beine, so hager seine Arme, daß es einem nachgerade unbehaglich war, wenn er übermäßig lebhaft die Straße entlang oder durch den Garten lief, leicht vornübergebeugt, als gleite er dahin, um sein Gebrechen zu verbergen – die Tatsache, daß ein Bein kürzer als das andere war; in Gesellschaft war er bisweilen unangenehm und arrogant, er war bemüht, geheimnisvoll und nachlässig zu erscheinen, manchmal elegant und anmaßend, manchmal herablassend und zerstreut und in jeder Hinsicht selbstbestimmt; doch allzu oft schon hatte er seine Rollen nicht durchgehalten, sich verhaspelt und begonnen, mit geradezu naiver Offenheit und Hast zu sprechen. Und natürlich konnte er seine Gefühle nicht lange verheimlichen, konnte nicht lange so tun, als glaube er nicht an Liebe und Glück auf Erden: Bald wußte das ganze Haus von seiner Verliebtheit. Dem Hausherrn fiel er bereits lästig mit seinen Besuchen; er brachte nun Tag für Tag Bouquets mit seltenen Blumen von der Villa mit, saß von morgens bis abends da und rezitierte immer unverständlichere Verse – die Kinder hörten ihn mehr als einmal jemanden beschwören, gemeinsam mit ihm zu sterben –, und nachts trieb er sich in den Vierteln der Einheimischen herum, in den Spelunken, wo die Araber, in schmutzigweiße Burnusse gehüllt, begehrlich »Bauchtänze« betrachteten und starke Liköre tranken … Kurz, es waren keine anderthalb Monate vergangen, als sich seine Verliebtheit ins Unerträgliche gesteigert hatte.
Seine Nerven versagten ihm komplett den Dienst. Einmal saß er beinahe den ganzen Tag schweigend da, stand dann auf, verneigte sich, nahm seinen Hut und ging hinaus – und wurde nach einer halben Stunde in einem entsetzlichen Zustand von der Straße wieder hereingetragen: Er schlug hysterisch um sich und schluchzte so jämmerlich, daß er die Kinder und das Dienstmädchen erschreckte. Doch Madame Mareau maß auch diesem Ausbruch anscheinend keine besondere Bedeutung bei. Sie selbst brachte ihn wieder zu Bewußtsein, indem sie geduldig seine Krawatte lockerte und ihm zuredete, er solle ein Mann sein, und sie lächelte nur vor sich hin, als er ohne Rücksicht auf ihren Gemahl ihre Hand ergriff und mit Küssen bedeckte und ihr aufopfernde Ergebenheit schwor. Dennoch mußte man all dem ein Ende bereiten. Als Emile, den die Kinder bald vermißten, sich einige Tage nach seinem Anfall wieder einfand, ruhig zwar, aber eher wie jemand, der eine schwere Krankheit überstanden hatte, sagte Madame Mareau ihm sanft all das, was man in solchen Fällen zu sagen pflegt.
»Mein Freund, Sie sind doch wie ein Sohn für mich«, sagte sie und sprach dabei dieses Wort – Sohn – zum ersten Mal aus, und tatsächlich empfand sie ihm gegenüber eine beinahe mütterliche Zärtlichkeit. »Bringen Sie mich nicht in eine lächerliche und peinliche Situation.«
»Aber ich schwöre Ihnen, Sie täuschen sich!« rief er mit aufrichtiger Leidenschaft. »Ich bin Ihnen nur treu ergeben, ich will Sie nur sehen und nichts weiter!«
Unvermittelt fiel er auf die Knie – sie waren im Garten, an einem stillen, heißen dämmrigen Abend – und umfaßte ungestüm ihre Hüften, vor Leidenschaft einer Ohnmacht nahe … Und während sie auf sein Haar, seinen weißen schmalen Nacken blickte, dachte sie mit schmerzlicher Freude:
»Ach, ja, ja, ich könnte beinahe so einen Sohn haben!«
Immerhin geriet er danach bis zu seiner Abreise nach Frankreich nie mehr so außer sich. Das war im Grunde kein gutes Zeichen, es konnte bedeuten, daß seine Leidenschaft tiefer geworden war. Äußerlich aber änderte sich alles zum Besseren – nur einmal noch konnte er sich nicht beherrschen. An einem Sonntag nach dem Mittagessen, bei dem mehrere Fremde zugegen waren, sagte er, ohne sich auch nur im geringsten Gedanken darüber zu machen, daß alle mithörten:
»Ich flehe Sie an, schenken Sie mir eine Minute …«
Sie stand auf und folgte ihm in den leeren,