Iwan Bunin

Leichter Atem


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ist der Todestag meines Vaters. Ich liebe Sie!«

      Sie wandte sich zum Gehen. Erschrocken rief er ihr hinterher:

      »Vergeben Sie mir, das war das erste und letzte Mal!«

      Und wirklich, weitere Bekenntnisse vernahm sie von ihm nicht. »Ich war betört von ihrer Verlegenheit«, schrieb er an jenem Abend in seinem gewählten, schwülstigen Stil in sein Tagebuch. »Ich habe mir geschworen, ihren Seelenfrieden nicht mehr zu stören. Bin ich nicht ohnedies glücklich zu preisen?« Er kam weiterhin regelmäßig in die Stadt – in der Villa Hashim übernachtete er nur – und verhielt sich unterschiedlich, aber stets mehr oder weniger schicklich. Manchmal war er wie früher unangebracht ausgelassen und naiv und tobte mit den Kindern im Garten herum; meistens aber saß er neben ihr und »berauschte sich an ihrer Gegenwart«, las ihr aus Zeitungen und Romanen vor und »war glücklich, daß sie ihm lauschte«. »Die Kinder störten uns nicht«, schrieb er über diese Tage, »ihre Stimmen, ihr Lachen, ihr Tollen, ihr ganzes Wesen waren gleichsam hauchdünne Leitungsdrähte unserer Gefühle, durch sie wurden diese Gefühle noch zauberhafter; wir führten ganz alltägliche Gespräche, aber darin klang etwas anderes an – unser Glück: Ja, ja, auch sie war glücklich, das kann ich versichern. Sie liebte es, wenn ich Gedichte rezitierte; an den Abenden betrachteten wir vom Balkon aus Constantine, das im bläulichen Mondschein zu unseren Füßen lag …« Im August schließlich bestand Madame Mareau darauf, daß er abreisen, sich wieder seinem Studium widmen solle, und unterwegs notierte er: »Ich fahre fort! Ich fahre fort, vergiftet von der bitteren Süße der Trennung! Sie schenkte mir zum Abschied ein samtenes Halsband, das sie als Mädchen trug. Im Moment des Abschieds segnete sie mich, und ich sah den feuchten Schimmer in ihren Augen, als sie sagte: Leben Sie wohl, mein teurer Sohn! …«

      Ob er recht hatte, ob Madame Mareau im August glücklich war, weiß man nicht. Aber daß sie sich mit seiner Abreise schwertat, läßt sich nicht bestreiten. Dieses Wort – Sohn –, das sie schon zuvor häufig in Unruhe versetzt hatte, klang für sie nun so, daß sie es nicht mehr ruhig und gelassen hören konnte. Schon früher hatte sie oftmals, wenn ihr auf dem Weg zur Kirche Bekannte begegneten und scherzten: »Worum wollen Sie denn beten, Madame Mareau, so tugendhaft und glücklich, wie Sie sind!« mit traurigem Lächeln geantwortet: »Ich will Gott klagen, daß er mir einen Sohn verwehrt …« Jetzt ließ der Gedanke an einen Sohn, an das Glück, daß dieser ihr durch seine bloße Existenz auf dieser Welt immerfort gegeben hätte, sie nicht mehr los. Eines Tages, kurz nach Emiles Abreise, sagte sie zu ihrem Mann:

      »Jetzt habe ich alles verstanden! Ich weiß jetzt ganz sicher, daß jede Mutter einen Sohn haben muß, daß jede Frau, die keinen Sohn hat, erkennen wird – wenn sie in sich hineinhört und ihr ganzes Leben überdenkt –, daß sie unglücklich ist. Du bist ein Mann, du kannst das nicht nachempfinden, doch so ist es … Ach, wie zart und leidenschaftlich man einen Sohn lieben kann!«

      Sie war sehr zärtlich zu ihrem Mann in diesem Herbst. Manchmal, wenn sie mit ihm allein war, sagte sie unvermittelt scheu zu ihm:

      »Hector, hör einmal … Ich schäme mich fast, dich zu fragen, und doch … Denkst du manchmal an den März sechsundsiebzig zurück? Ach, wenn wir einen Sohn hätten!«

      »All das hat mich sehr beunruhigt«, erzählte Monsieur Mareau später. »Um so mehr, als sie stark abzunehmen begann. Sie wurde immer schwächer, immer schweigsamer und nachgiebiger in ihrem Charakter. Zu Besuch bei Bekannten war sie immer seltener, in die Stadt zu fahren vermied sie, wenn es nicht unbedingt notwendig war … Für mich gibt es keinen Zweifel, daß sich ein schlimmes, unerklärliches Leiden ihrer Seele und ihres Körpers bemächtigte!« Und die Bonne setzte hinzu, Madame Mareau habe in jenem Herbst, anders als früher, stets einen dichten weißen Schleier angelegt, wenn sie ausfuhr, und diesen sofort bei ihrer Rückkehr vor dem Spiegel zurückgeschlagen und aufmerksam ihr erschöpftes Gesicht gemustert. Es ist müßig zu erkunden, was damals in ihrer Seele vor sich ging. Aber wollte sie Emile sehen, hat er ihr geschrieben, hat sie ihm geantwortet? Er präsentierte dem Gericht zwei Depeschen, die angeblich auf seinen Namen und als Antwort auf seine Briefe geschickt worden waren. Die eine war vom 10. November: »Sie bringen mich um den Verstand. Fassen Sie sich. Geben Sie unverzüglich Nachricht von sich.« Die zweite Depesche war vom 23. Dezember: »Nein, nein, kommen Sie nicht, ich flehe Sie an. Denken Sie an mich, lieben Sie mich wie eine Mutter.« Doch konnte natürlich nicht zweifelsfrei bewiesen werden, daß Madame Mareau diese Depeschen geschickt hatte. Zweifelsfrei stand nur fest, daß sie von September bis Januar in dumpfer Unruhe lebte und kränkelte.

      Der Spätherbst jenen Jahres war in Constantine kalt und regnerisch. Darauf folgte, wie immer in Algerien, sogleich ein herrlicher Frühling. Und Madame Mareau fand wieder zu ihrer Lebhaftigkeit, zu jenem glückseligen, zarten Rausch, den zur Zeit der Frühlingsblüte diejenigen erleben, die ihre Jugend bereits durchkostet haben. Sie begann wieder auszugehen, fuhr mit den Kindern aus, besuchte mit ihnen den Garten der verlassenen Villa Hashim und wollte sie mitnehmen nach Algier, um ihnen Blida zu zeigen, wo es ganz in der Nähe eine waldige Schlucht gibt, die die Affen sehr lieben … Und so ging es bis zum 17. Januar 1890.

      Am 17. Januar erwachte sie von einem ungewöhnlich glücklichen, zärtlichen Gefühl, das sie, so kam es ihr vor, die ganze Nacht hindurch in Unruhe versetzt hatte. Das große Zimmer, in dem sie alleine schlief, weil ihr Mann diensthalber für längere Zeit abwesend war, lag bei geschlossenen Jalousien in fast völliger Dunkelheit. Dennoch war an dem durch die zugezogenen Gardinen sickernden fahlblauen Schimmer zu erkennen, daß es noch früh war. Und richtig, die kleine Uhr auf dem Nachttisch zeigte auf sechs. Sie genoß die morgendliche Kühle, die aus dem Garten hereindrang, hüllte sich in ihre leichte Decke und drehte sich zur Wand … »Warum ist mir so wohl?« überlegte sie, während sie wieder einschlief. In verschwommenen, schönen Traumbildern erschienen ihr Italien und Sizilien, Bilder jenes fernen Frühlings, von der Reise in der Schiffskajüte, deren Fenster auf das Deck und das kalte, silbrige Meer blickten, mit den Vorhängen aus roter Seide, die im Laufe der Zeit brüchig geworden und verblichen war, mit der hohen, vom jahrelangen Putzen blankgewetzten kupfernen Türschwelle … Dann sah sie endlose Meeresbuchten, Lagunen, Niederungen, eine große arabische Stadt, ganz weiß, mit flachen Dächern, und jenseits davon wellige, dunstig-blaue Hügel und Vorgebirge. Das war Tunis, wo sie nur einmal gewesen war, in ebenjenem Frühling, als sie auch in Neapel und Palermo war … Dann plötzlich war es, als werde sie von einem kalten Schauer erfaßt – sie zuckte zusammen und schlug die Augen auf. Es war schon die neunte Stunde, man hörte die Stimmen der Kinder, die Stimme ihrer Bonne. Sie stand auf, warf sich den Peignoir über, trat auf den Balkon, ging hinunter in den Garten und setzte sich in den Schaukelstuhl neben dem runden Tisch auf dem Sandplatz, unter eine blühende Mimose, deren goldenes Dach darübergebreitet war und in der Hitze einen schweren Duft verströmte. Das Dienstmädchen brachte ihr Kaffee. Wieder dachte sie an Tunis – und sie erinnerte sich an das eigenartige Gefühl, das sie dort empfunden hatte, an diese süße Angst, diese glückselige Willenlosigkeit, wie ein Vorgefühl des nahen Todes, die sie in dieser blaßblauen Stadt in der warmen, zartrosa Dämmerung empfunden hatte, als sie zurückgelehnt in einem Schaukelstuhl auf dem Dach des Hotels lag, während der Araber, ein Hypnotiseur und Gaukler, dessen dunkles Gesicht sie nur verschwommen sah, vor ihr in der Hocke saß und sie mit seinen kaum hörbaren, monotonen Weisen und den langsamen Bewegungen seiner mageren Hände einlullte. Plötzlich, während sie gedankenverloren und mit weit geöffneten Augen auf den sprühenden silbrigen Funken starrte, den die Sonne an dem kleinen Löffel im Wasserglas aufblitzen ließ, verlor sie das Bewußtsein. Als sie abrupt wieder zu sich kam, stand Emile über sie geneigt.

      Alles, was nach dieser unerwarteten Begegnung passierte, weiß man aus den Worten von Emile selbst, aus seinen Erzählungen, aus seinen Antworten bei den Vernehmungen. »Ja, ich bin aus heiterem Himmel in Constantine aufgetaucht«, erzählte er. »Ich kam, weil mir klar geworden war, daß mich selbst die himmlischen Heerscharen nicht würden aufhalten können. Am Morgen des 17. Januar fuhr ich vom Bahnhof aus ohne jegliche Vorankündigung geradewegs zum Haus von Monsieur Mareau und ging in den Garten. Ich war bestürzt über den Anblick, der sich mir bot, hatte aber kaum einen Schritt getan, als sie wieder zur Besinnung kam. Sie schien gleichfalls überrascht, von meinem unerwarteten Besuch ebenso wie davon, was ihr widerfahren war, tat dies aber nicht laut kund. Sie sah mich an wie jemand, der gerade