Iwan Bunin

Leichter Atem


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ihr Peignoir über der Brust zu, nahm mit beiden Händen meinen Kopf und küßte mich zweimal auf die Stirn.

      Ich war völlig durcheinander vor Begeisterung und Leidenschaft, aber sie schob mich sanft zurück und sagte:

      ›Gehen wir, ich bin nicht angekleidet, ich komme gleich wieder, gehen Sie unterdessen zu den Kindern …‹

      ›Aber um Himmels willen, was war denn mit Ihnen?‹ fragte ich, während ich hinter ihr die Treppe zum Balkon hinaufging.

      ›Ach, nichts weiter, eine leichte Betäubung, ich habe die ganze Zeit diesen glitzernden Löffel angestarrt‹, erwiderte sie, wobei sie sich allmählich wieder fing und lebhafter sprach. ›Aber was haben Sie getan, was haben Sie getan!‹

      Die Kinder konnte ich nirgends finden, im Haus war es leer und still, ich setzte mich ins Eßzimmer und hörte, wie sie in einem der hinteren Zimmer plötzlich anfing zu singen, mit kräftiger, klangvoller Stimme – aber zu dem Zeitpunkt erkannte ich die ganze Tragik dieses Klangs noch nicht, weil ich vor Nervosität am ganzen Leibe zitterte. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, die Minuten gezählt, bis der Zug mich endlich nach Constantine bringen würde, ich war aus dem Bahnhof gestürzt und in die erstbeste Droschke gesprungen, konnte es kaum erwarten, in die Stadt zu kommen … Ich wußte, ich hatte vorausgeahnt, daß mein Kommen verhängnisvoll für uns werden würde; aber das, was ich im Garten sah, die geheimnisvolle Begegnung und der plötzliche Umschwung in ihrem Verhalten mir gegenüber, damit hatte ich nicht rechnen können! Nach zehn Minuten erschien sie, das Haar frisiert, in einem leichten hellgrauen Kleid mit einem Anflug von Lila.

      ›Ach‹, sagte sie, als ich ihre Hand küßte, ›ich habe ganz vergessen, heute ist Sonntag, die Kinder sind in der Kirche, und ich habe verschlafen … Die Kinder gehen nach der Kirche zum Kiefernwäldchen – waren Sie dort schon einmal?‹

      Ohne meine Antwort abzuwarten, klingelte sie nach Kaffee für mich, setzte sich hin, sah mich eindringlich an, erkundigte sich, allerdings ohne mir zuzuhören, wie ich lebe, was ich mache, und begann dann, von sich zu sprechen, darüber, daß sie sich nach zwei oder drei für sie sehr schlimmen Monaten, in deren Verlauf sie ›furchtbar gealtert‹ sei – diese Worte waren von einem merkwürdigen Lächeln begleitet –, so gut, so jung fühle wie nie zuvor … Ich gab ihr Antwort, hörte zu, verstand vieles nicht; wir beide sagten nicht das, was wir meinten, meine Hände wurden kalt angesichts der nahenden anderen, verhängnisvollen und unabwendbaren Stunde. Ich leugne nicht, daß ich wie vom Blitz getroffen war, als sie sagte: ›Ich bin gealtert …‹ Plötzlich erkannte ich, daß sie recht hatte: Die mageren Arme, das verblühte, wenn auch wirklich verjüngte Gesicht, die Konturen des abgehärmten Körpers, all das erfaßte ich als die ersten Anzeichen dessen, was uns so schmerzlich, ja peinlich – aber um so heftiger! – das Herz abschnürt beim Anblick einer alternden Frau. Ach ja, wie schnell und heftig hatte sie sich verändert! dachte ich. Und dennoch war sie wunderschön, ich war berauscht von ihrem Anblick. Ich war gewohnt, unausgesetzt von ihr zu träumen, ich hatte den Moment am Abend des 11. Juli nicht vergessen, als ich zum ersten Mal ihre Knie umfaßt hielt. Auch ihr zitterten leicht die Hände, als sie sich die Frisur richtete und mich dabei lächelnd anblickte, und plötzlich – Sie verstehen die katastrophale Kraft dieses Augenblicks! –, plötzlich verzerrte sich ihr Lächeln, und sie sagte mit Mühe, aber bestimmt:

      ›Sie müssen jetzt trotz allem nach Hause fahren, sich von der Reise ausruhen – Sie sehen ganz erschöpft aus, Sie haben so gequälte, schaurige Augen, so brennende Lippen, daß ich es nicht länger mitansehen kann … Soll ich mit Ihnen fahren, Sie begleiten?‹

      Ohne mir Gelegenheit zur Antwort zu geben, stand sie auf und ging hinaus, um Hut und Umhang zu holen.

      Nach kurzer Fahrt hatten wir die Villa Hashim erreicht. Ich blieb an der Vortreppe stehen, um ein paar Blumen zu pflücken. Sie wartete nicht auf mich und öffnete selbst die Tür. Dienstboten hatte ich nicht, nur einen Wächter, der uns nicht bemerkte. Als ich den drückend heißen, im Halbdunkel der geschlossenen Jalousien liegenden Flur betrat und ihr die Blumen überreichte, küßte sie sie, und danach umfaßte sie mich mit der freien Hand und küßte mich. Vor Aufregung waren ihre Lippen trocken, aber ihre Stimme war klar.

      ›Aber höre … Wie sollen wir … Hast du etwas da?‹, fragte sie.

      Ich verstand sie zunächst nicht, so aufgewühlt war ich von diesem ersten Kuß, diesem ersten du, und murmelte:

      ›Was meinst du?‹

      Sie trat einen Schritt zurück.

      ›Wie?‹, fragte sie verwundert, beinahe streng. ›Dachtest du wirklich, daß ich … daß wir danach weiterleben können? Hast du etwas, damit wir aus dem Leben scheiden können?‹

      Ich besann mich und zeigte ihr hastig den mit fünf Kugeln geladenen Revolver, von dem ich mich niemals trennte.

      Sie schritt rasch voraus, von Zimmer zu Zimmer. Überall herrschte Halbdunkel. Ich ging ihr nach, völlig betäubt wie jemand, der an einem glutheißen Tag entkleidet ins Meer steigt, und hörte nur noch das Rascheln ihrer seidenen Röcke. Endlich waren wir da; sie warf den Umhang ab und löste die Hutbänder. Ihre Hände zitterten noch immer, und im Halblicht bemerkte ich erneut etwas Klägliches, Bedauernswertes in ihrem Gesicht …

      Doch sie starb standhaft. In ihren letzten Augenblicken verwandelte sie sich. Während sie mich küßte und sich dann leicht zurücklehnte, um mein Gesicht zu sehen, flüsterte sie mir derart zärtliche, berührende Worte zu, daß ich es nicht ertrage, sie zu wiederholen.

      Ich wollte noch mehr Blumen pflücken, um damit unser Totenbett zu bestreuen. Sie ließ mich nicht gehen, sie hatte es eilig, sie sagte: ›Nein, nein, bitte nicht … Wir haben Blumen … Hier sind deine Blumen‹, und wiederholte ein ums andere Mal:

      ›Nun also, ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist, du mußt mich töten!‹

      ›Ja, und danach mich selbst‹, erwiderte ich dann, ohne eine Sekunde an meiner Entschlossenheit zu zweifeln.

      ›Oh, ich glaube dir, ich glaube dir‹, sagte sie darauf, wie in Trance …

      Eine Minute vor ihrem Tod sagte sie ganz leise und schlicht:

      ›Mein Gott, dafür gibt es keinen Namen!‹

      Und dann noch:

      ›Wo sind die Blumen, die du mir gegeben hast? Küß mich – ein letztes Mal.‹

      Sie selbst richtete den Lauf an ihre Schläfe. Ich wollte abdrücken, aber sie hielt mich auf:

      ›Nein, nicht so, laß es mich richtig machen. So ist es gut, mein Kind … Und nachher bekreuze mich und lege mir Blumen auf die Brust …‹

      Als ich schoß, bewegte sie leicht die Lippen. Ich schoß noch einmal …

      Sie lag ruhig da, und in ihrem erloschenen Blick war eine bittere Glückseligkeit. Ihre Haare waren gelöst, der Schildpattkamm lag am Boden. Schwankend stand ich auf, um meinem Leben ein Ende zu machen. Doch im Zimmer war es trotz der Jalousien hell, und in diesem Licht und in der plötzlich eingetretenen Stille sah ich deutlich ihr schon bleich gewordenes Gesicht … Da packte mich unvermittelt der Wahnsinn, ich stürzte zum Fenster, riß es auf, schlug die Läden auf, klappte die Rahmen zurück, begann zu schreien und in die Luft zu schießen … Den Rest kennen Sie …«

      Im Frühling vor etwa fünf Jahren, während einer Reise durch Algerien, besuchte der Verfasser dieser Zeilen Constantine. Heute denkt er oft zurück an diese regnerischen, kühlen und doch frühlingshaften Abende, die er im Leseraum eines alten, familiären französischen Hotels verbrachte. Auf schweren, verschnörkelten Etageren lagen dort zerlesene illustrierte Journale, in denen man verblichene Portraits von Madame Mareau aus verschiedenen Jahren finden konnte, darunter auch eines aus ihrer Mädchenzeit in Lausanne … Ihre Geschichte ist hier noch einmal erzählt, weil ich sie auf meine Weise erzählen mußte.

      Auf dem Friedhof, über einem frisch aufgeschütteten Lehmhügel, steht ein neues Kreuz aus Eiche, fest, schwer und glatt, eines, das schön