französischen Fassung an den Stellen, an denen bei Stresemann geklatscht worden war, auch bei mir Beifall gespendet wurde, und daß am Schluß, als ich erleichtert von der Tribüne herunterging, ein sehr beachtenswerter Applaus die französischen Worte Stresemanns anerkannte. Wäre es anders oder umgekehrt gewesen, so hätte ich hinterher von der Delegation einige unfreundliche Worte zu hören bekommen wegen „wirkungsloser Formulierungen“ oder „langweiligen Vortrags“ und „verpatzter Pointen“. Ich habe später manchmal ausdrücklich die Weisung erhalten, dafür zu sorgen, daß bei dieser oder jener Stelle der Übersetzung applaudiert würde, und habe mir dann oft damit geholfen, daß ich hinter solchen Stellen besonders lange Pausen machte und innerlich den Zuhörern zurief: „Wollt Ihr wohl klatschen“ – was auch meistens half.
Leid tat mir nur der arme Völkerbundsdolmetscher, der hinter mir die englische Fassung der Rede verlesen mußte und dem kaum noch jemand zuhörte, da die meisten entweder auf Deutsch oder auf Französisch alles verstanden hatten, so daß er oft seine Stimme stark erheben mußte, um bei der allgemeinen Unterhaltung und dem Hin- und Herlaufen überhaupt verstanden zu werden. Trotzdem erzielte auch er zum Schluß einen Achtungsapplaus bei den wenigen Delegierten, die nur Englisch verstanden.
Dann betrat Briand die Tribüne, leicht gebeugt, mit etwas struppigem Haar und herabhängendem Schnurrbart. Ein kleiner, unscheinbarer Mann. Aber schon nach den ersten Worten wurde er ein anderer. Als Redner war Briand ein vollendeter Meister. Er sprach völlig ungekünstelt, er kannte keine Rednerpose, jeder im Saal hatte zunächst das Gefühl, als wenn sich Briand mit ihm persönlich unterhielte.
„Nun, meine Herren Spötter“, so apostrophierte der Spötter Briand sarkastisch die Kritiker des Völkerbundes und der Völkerverständigung in allen Ländern, „was sagen Sie jetzt, wo Sie an dieser Sitzung teilnehmen? Müssen Sie nicht selbst zugeben, daß das, was wir heute hier erlebt haben, wenige Jahre nach dem furchtbarsten Krieg, der jemals die Welt durcheinandergebracht hat, während das Blut auf den Schlachtfeldern noch nicht trocken geworden ist, ein wahrhaft erschütterndes Erlebnis darstellt? Hier sehen Sie die gleichen Völker, die sich vordem so hart aneinander gestoßen haben, friedlich zusammensitzen zur gemeinsamen Arbeit am Weltfrieden.“
Allmählich verließ Briand seinen Konversationston, er erwärmte sich, seine Stimme nahm immer mehr jenen volltönenden, dunklen Klang an, der seine Zuhörer oft veranlaßte, sie mit einem Cello zu vergleichen.
„Was bedeutet nun dieser heutige Tag für Deutschland und für Frankreich? Das will ich Ihnen sagen: Es ist jetzt Schluß mit jener langen Reihe schmerzlicher und blutiger Auseinandersetzungen, die die Seiten unserer Geschichte beflecken, es ist Schluß mit dem Krieg zwischen uns, Schluß mit den langen Trauerschleiern. Keine Kriege, keine brutalen Gewaltlösungen soll es von jetzt ab mehr geben. Ich weiß, daß Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren Ländern auch heute noch bestehen, aber in Zukunft werden wir sie genau so wie die Einzelpersonen vor dem Richterstuhl in Ordnung bringen. Deshalb sage ich: fort mit den Gewehren, den Maschinengewehren, den Kanonen! Freie Bahn für die Versöhnung, die Schiedsgerichtsbarkeit und den Frieden!“
Mit erhobener Stimme hatte der alte Mann auf der Tribüne diese Worte fast in beschwörendem Tone ausgerufen. Donnernder Beifall antwortete ihm. Minutenlang konnte er nicht weitersprechen. Ruhig und zufrieden gingen seine Augen über die aufgewühlte Versammlung.
Dann blickte er zu Stresemann hin und hob etwas die Hand, um sich Ruhe zu verschaffen. In die lautlose Stille, die darauf eintrat, fielen die nun folgenden Worte wie die Schläge einer tiefen Glocke. „Ihnen aber, meine Herren Vertreter Deutschlands, möchte ich nur noch eines sagen: was Heldentum und Kraft anbetrifft, brauchen sich unsere Völker keine Beweise mehr zu liefern. Auf den Schlachtfeldern der Geschichte haben beide eine reiche und ruhmvolle Ernte gehalten. Sie können sich von jetzt ab um andere Erfolge auf anderen Gebieten bemühen.“ Jetzt war kein Halten mehr. Viele der Delegierten erhoben sich von ihren Sitzen, schrien ihre Begeisterung in irgendeiner Sprache hinaus und brachten dem „Mann mit dem Cello“ eine lang andauernde, überwältigende Ovation dar.
Er sprach dann noch eine ganze Weile weiter, mit tiefem Gefühl, mit Humor und mit Sarkasmus. „Schwierigkeiten gibt es noch reichlich; Herr Stresemann und ich stehen jeder in seinem Land an einem Posten, der uns allzu sehr damit in Berührung bringt. Und diese Schwierigkeiten sind nicht etwa verschwunden, weil er aus der Wilhelmstraße und ich vom Quai d’Orsay in dieses schöne Genf gekommen sind.“
„Wenn Sie aber nicht nur als Deutscher und ich nicht nur als Franzose hierher kommen, sondern wenn wir beide uns daneben auch als Bürger einer höheren, völkerverbindenden Gemeinschaft fühlen, dann werden wir in dieser Atmosphäre des Völkerbundes alle Schwierigkeiten überwinden.“
Als Briand geendet hatte, wollte der Beifall nicht aufhören. Ein kanadischer Delegierter durchbrach alle in Genf sonst üblichen Schranken der Formalität, stieg auf seinen Stuhl und brachte mit wehendem Taschentuch drei Hurras auf den französischen Ministerpräsidenten aus, die von der sonst so ernsten und gesetzten Versammlung mit der Begeisterung einer Schulklasse aufgenommen wurden.
Damit war die erste Sitzung, die wir imVölkerbund erlebten, zu Ende. Sie war für uns alle ein großes Erlebnis, für mich eines der größten während meiner ganzen Laufbahn. Nach den Szenen dieses Vormittags konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Deutschland nach den Jahren des Krieges und der Unruhe der Nachkriegszeit jetzt endgültig wieder den Anschluß an die internationale Welt gefunden hatte und als ein vollgültiges Mitglied in den Kreis der Nationen aufgenommen worden war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß wir in vielen Punkten noch durch die Folgen des Krieges behindert blieben, daß die deutsche Rechtsopposition in ihrer Kleinmütigkeit und aus parteitaktischen Erwägungen heraus das Ergebnis der Politik Stresemanns zu verkleinern suchte, und daß eine der bayerischen Regierung nahestehende Zeitung die Aufnahme des Reiches in den Völkerbund in fetten Lettern als „Demütigung Deutschlands“ bezeichnete.
Nach den Ereignissen des 10. September war Deutschland in Genf Trumpf. Die deutsche Delegation stand im Mittelpunkt des Interesses. Stresemann wurde innerhalb und außerhalb des Völkerbundes zum Helden des Tages. Seine Popularität zeigte sich unter anderem auch darin, daß er im Volke vielfach nur mit seinem Vornamen genannt wurde. „J’ai vu Gustave“, konnte man immer wieder von groß und klein in den Genfer Kinos, in der Straßenbahn oder auf den Promenaden sagen hören. Es war für ihn ein Triumph auf diesem sonst so kühlen internationalen Pflaster, wie er wohl selten dort jemand beschieden worden ist.
Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Die Sitzungen jagten einander, im Plenum, in den Kommissionen und auch im Völkerbundsrat. Diese höchste internationale Instanz tagte damals in einer großen Glasveranda, die zum Hotel National gehörte, in dem das Völkerbundssekretariat seinen Sitz hatte. Etwas erhöht stand hier am einen Ende des länglichen Raumes der hufeisenförmige Ratstisch, an dem Stresemann einige Tage später zum ersten Male Platz nahm.
Im Innenraum des Hufeisens saßen die beiden amtlichen Dolmetscher des Völkerbundes, ein Engländer und ein Franzose, sowie die Stenographen. Die Verhandlungssprachen waren auch hier, wie in der Vollversammlung, Englisch und Französisch. Alles, was auf Französisch gesagt wurde, übersetzte der Engländer sofort ins Englische und umgekehrt. Das Übersetzungssystem war genau das gleiche, wie ich es zuerst im Haag kennengelernt hatte. Jeder Redner sprach so, als fände die Verhandlung nur in einer Sprache statt, ohne Unterbrechung, während der betreffende Dolmetscher sich möglichst genaue Notizen machte und dann die Rede in der Ichform, d. h. so, als spräche der Delegierte wörtlich noch einmal, die Ausführungen in die andere Sprache übertrug. Dieses System ermöglicht zweisprachigen Konferenzteilnehmern sofort eine Kontrolle des Dolmetschers. Gelegentlich kam es vor, daß einer der Delegierten, z. B. wie schon erwähnt, Chamberlain, den Dolmetscher unterbrach, wenn er seiner Ansicht nach diese oder jene Stelle nicht ganz richtig wiedergegeben hatte. Allerdings erfolgten solche Unterbrechungen verhältnismäßig selten, denn die Völkerbundsdolmetscher waren hervorragende Meister ihres Faches. Außerdem hatte der Völkerbund das gleiche System, für das auch Geheimrat Gautier bei schriftlichen Übersetzungen eintrat. Die Dolmetscher übersetzten immer nur in ihre Muttersprache. Insofern war für mich die Aufgabe schwieriger, da ich ja immer nur in eine fremde Sprache übersetzen mußte, denn es war natürlich nicht