Gewissen verantwortlichen“ Sachverständigen, aus denen sich die Konferenz zusammensetzte, im Grunde doch nicht ganz so unabhängig waren, sondern fast wie offizielle Delegierte den Standpunkt ihrer Länder vertraten, der stark von politischen Gesichtspunkten beeinflußt war, hatte ich schon im Zusammenhang mit dieser Frage feststellen können. Die Nutznießer des ersten Weltkrieges, die kleinen wie die großen, waren auf das Argument Laytons von den 11 000 km neuer Zollgrenzen überhaupt nicht eingegangen, obwohl es sich dabei um eine einwandfreie Tatsache handelte. Noch mehr aber zeigte sich die politische Gebundenheit dieser Sachverständigen bei der Erörterung einer weiteren Ursache der damaligen Wirtschaftsschwierigkeiten. Das war die internationale Schuldenfrage. In dieser Hinsicht war die Weltwirtschaftskonferenz, ähnlich der Londoner Dawes-Konferenz, eine „Versammlung, auf der vom Thema nicht gesprochen werden darf“, wie Stresemann es in London bezeichnet hatte. Aber genau so wie in London über die Ruhrfrage, wurde auch hier in Genf schließlich doch über das Schuldenproblem gesprochen. Die Frage war zu gewichtig, als daß sie sich aus politischen Rücksichten von dieser Konferenz hätte fernhalten lassen, „Eine zweite und weitreichende Veränderung gegenüber dem Jahre 1913 ist der Eintritt der Vereinigten Staaten in die Reihe der kapitalausführenden Länder der Welt, indem sie aus einer Schuldnernation einer der Hauptgläubiger der Welt geworden sind“, so umriß Layton in einer der Vollsitzungen dieses Problem und fuhr dann fort: „Großbritannien war früher ein noch bedeutenderer Geldgeber, aber es kaufte die Erzeugnisse der Länder, die es mit seinem Kapital entwickelte.“ Und zur amerikanischen Delegation gewandt, stellte er dann fest: „Heute trifft Amerika Maßnahmen, um sich die Erzeugnisse der Länder fernzuhalten, die durch sein Kapital entwickelt oder, wie in Europa, wieder aufgebaut wurden.“ Das war eine deutliche Kritik an der Haltung und an der Handelspolitik Amerikas, das als größtes Gläubigerland der Nachkriegszeit durch seine Zolltarife seinen Schuldnern nicht gestattete, ihren Verpflichtungen in der einzigen Form nachzukommen, in der große Kapitalübertragungen von einem Land ins andere vor sich gehen können, nämlich durch Warenlieferungen und Dienstleistungen. Dieser indirekten Aufforderung gegenüber verhielt sich allerdings die amerikanische Delegation völlig schweigsam.
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zeigte aber auch Layton, daß er von den politischen Erwägungen seines Landes gehemmt war. Nur ganz kurz erwähnte er Reparationen und den Exportdruck, den sie bei den Reparationsschuldnern auslösten und der sich in Form erhöhter Konkurrenz auf dem Weltmarkt bemerkbar machte.
Die Hemmungen, die der Engländer in diesem Punkt hatte, lagen bei den Russen nicht vor, und so nannte denn Obolenski-Ossinski das Kind beim Namen. „Als Resultat des letzten Krieges sind gewisse Staaten mit Zahlungen belastet, die sie zwingen, Waren auf den Markt zu werfen, die sie eigentlich selbst notwendig haben – ein sinnloser Vorgang vom wirtschaftlichen Standpunkt aus –, oder umgekehrt, den Ankauf von Waren zu verweigern, die sie tatsächlich brauchen.“ Unter dem etwas betretenen Schweigen der „Sachverständigen“ zog er dann daraus die Konsequenz. „Alle Kriegsschulden und alle Zahlungen, die auf den Krieg Bezug haben, müßten gestrichen werden, da dies das einzige Mittel ist, um die Widersprüche, die ein direktes Erbe des Krieges 1914–18 sind, zu beseitigen. Der Erlaß dieser Schulden würde ein großer Schritt zur Wiederherstellung des Welthandels sein.“
Aber auch die Sowjetunion selbst, insbesondere ihr Ausscheiden aus der Weltwirtschaft als Lieferant und noch mehr als Verbraucher, war eine der großen Ursachen der Nachkriegsschwierigkeiten. „Vor dem Kriege war Rußlands internationaler Handel größer als der Indiens; aber im Jahre 1925 war sein Anteil am Welthandel kleiner als der Dänemarks vor dem Kriege“, stellte Layton fest und fuhr dann vorsichtig fort: „Ich möchte keinesfalls zur Erörterung stellen, wie oder wann die unvermeidliche Reibung zweier entgegengesetzter wirtschaftlicher Systeme behoben werden kann. Darüber muß sich die russische Delegation selbst äußern.“
„Kredite“, erwiderte Sokolnikoff, „zur Stärkung der russischen Kaufkraft sind neben dem Aufhören jeder Art von wirtschaftlichem und politischem Boykott gegenüber der Sowjetunion die Vorbedingung für eine Rückkehr Rußlands zum Welthandel.“ Er bot ausländischen Kapitalisten Konzessionen in der Sowjetunion an; dafür müsse man sich allerdings mit dem sozialistischen Wirtschaftssystem, vor allem mit dem Außenhandelsmonopol, abfinden.
Eine weitere Frage mit starkem politischen Hintergrund, besonders gegenüber der amerikanischen Delegation, war das Auswanderungsproblem. „Wollte Italien seine Zolltarife morgen abschaffen“, erklärte der italienische Delegierte Belloni, „wie es einer meiner Vorredner als Ziel des Wirtschaftsfriedens hingestellt hat, so frage ich mich, was soll aus unseren Arbeitern werden? ... Wenn man bedenkt, daß vor dem Kriege im Jahre durchschnittlich 800 000 Personen aus ganz Europa auswanderten, so wird klar, daß in der Lösung des Problems der Freizügigkeit in der Welt eines der sichersten Mittel liegt, um uns dem endgültigen Wirtschaftsfrieden zu nähern ... Jetzt zwingt der furchtbare Bevölkerungsdruck manche Länder zur Schaffung eines künstlichen Handels- und Industrieklimas, das allen Angehörigen der Nation Arbeit und Schutz gewährt.“ In ähnlicher Weise sprachen andere Vertreter aus Ländern mit hohem Bevölkerungsüberschuß, der vor dem Kriege nach Amerika abgewandert war. Dies kam einer deutlichen Aufforderung an die Vereinigten Staaten zur Lockerung ihrer Einwanderungsbestimmungen gleich. Aber auch hierzu schwieg die amerikanische Delegation.
So entstand denn aus diesen Äußerungen und Gegenäußerungen allmählich ein ziemlich vollkommenes Bild der damaligen Lage und ihrer Schwierigkeiten. Abbau der Zollschranken und sonstiger Handelshemmnisse, Streichung der Schulden und Reparationen, Kredite an Rußland gegen Industriekonzessionen als Mittel zum Wiederanschluß der Sowjetunion an die Weltwirtschaft, Verständigung zwischen den Industrien der einzelnen Länder in Form von Kartellen, Freigabe der Einwanderung nach Übersee: das waren die Abhilfemaßnahmen, die auf der Konferenz von 1927 als dringend notwendig für eine Wiedergesundung der Weltwirtschaft empfohlen wurden.
In welchem Ausmaß diese Sachverständigenkonferenz aber von der Politik her beeinflußt wurde, das zeigte sich deutlich an ihrem Schlußbericht mit den Empfehlungen, die sie den Regierungen der beteiligten Länder für die Behebung der Wirtschaftsschwierigkeiten unterbreitete. Von Kriegsschulden und Reparationen, die in der Aussprache als eine der Hauptursachen der Krise hervorgetreten waren, war überhaupt nicht die Rede. Ebensowenig wurde etwas Positives über die Freizügigkeit, d. h. die Einwanderung nach Übersee, gesagt. Das war am Widerstand der amerikanischen Delegation gescheitert. Auch das Rußlandproblem blieb so gut wie unberührt. Gegen den Widerstand der französischen Delegation hatte man das Hauptgewicht auf den Abbau der Zollschranken und der Handelshemmnisse gelegt, während die Frage der internationalen Industrievereinbarungen als Mittel zur Lösung der Wirtschaftskrise nur mit größter Zurückhaltung behandelt wurde. Auch das war zum Teil auf den Widerstand der Amerikaner zurückzuführen, die sich dabei durch ihre Anti-Trust-Tradition und wohl auch von der Befürchtung leiten ließen, daß eine allzu stark konzentrierte europäische Industrie zu einem gefährlichen Konkurrenten auf dem Weltmarkt werden könnte.
So war denn, als am 23. Mai die Konferenz im Reformationssaal zu ihrer Schlußsitzung zusammentrat, das Ergebnis recht dürftig. Das Elend Europas, das wie eine dunkle Wolke über der Weltkonferenz gestanden hatte, war seiner Linderung kaum nähergekommen. Diese Erkenntnis drängte sich dem Beschauer beim Anblick der müde und ohne Schwung auseinandergehenden Versammlung sehr deutlich auf.
Die Großen der Wirtschaft hatten nicht so miteinander Kontakt gefunden wie die Großen der Politik. Es war kein wirtschaftliches Locarno aus Genf hervorgegangen. Waren die einzelnen Industriellen mit ihren Kollegen aus den anderen Ländern wenigstens näher in Fühlung gekommen? Auch hier lautete die Antwort negativ. „Haben Sie sich mit Ihren deutschen Kollegen nicht über die neuesten Rationalisierungsmethoden unterhalten?“, fragte eine Genfer Zeitung einen imaginären französischen Industriellen. „Das ist gar nicht nötig“, ließ das Blatt ihn antworten, „ich habe nämlich im französischen Parlament einen Abgeordneten zum Freund, der besorgt mir einen netten kleinen Zollschutz für meine Waren, dann bin ich vor der Konkurrenz sicher.“
Aber es gingen auch noch andere Dinge hinter den Kulissen vor. So herrschte zwischen der deutschen und der russischen Delegation ein sehr enger Kontakt. Nächtelang saßen Deutsche und Russen oft beieinander und erörterten die auf der Konferenz einzuschlagende Taktik. In vielen Dingen,