auf dem Motorrad unternommen und war daher fast so unbehelligt über die Grenze gelangt wie die beiden Minister selbst. Er hatte dann von Thoiry aus einigen Freunden den Tip gegeben, und auf diese Weise war die kleine Journalistengruppe vor dem Hause des Père Léger zustandegekommen.
Bei dem eigentlichen Gespräch von Thoiry war als Dolmetscher nur der Vertraute Briands, Professor Hesnard, anwesend. Von deutscher Seite hatte lediglich Legationssekretär Feine die Fahrt als Begleiter Stresemanns mitgemacht. Ich selbst war in Genf geblieben.
Hesnard erzählte mir aber noch am Abend des Tages ziemlich ausführlich, wie die Unterhaltung verlaufen war, denn er betrachtete mich schon damals durchaus als ein Mitglied der „engeren Familie“, das über kurz oder lang doch mit diesen vertraulichen Besprechungen oder ihrer Fortsetzung befaßt sein würde.
Die Lösungsmöglichkeiten, die von Briand und Stresemann ins Auge gefaßt wurden, beruhten im wesentlichen auf einer beschleunigten Beendigung der Besetzung deutschen Gebietes als Gegenleistung für deutsche Wirtschafts- und Finanzhilfe bei der Sanierung der äußerst ernsten französischen Wirtschaftslage. Briand mochte sich wohl darüber klar sein, daß die besetzten Gebiete in Deutschland als Pfand von Jahr zu Jahr an Wert verlieren würden, und daß daher zu jenem Zeitpunkt ein höherer Preis für ihre Aufgabe zu erzielen sei als später. So wurde denn von der Möglichkeit einer Stützung des französischen Franken durch Flüssigmachung eines Teils der deutschen Eisenbahnobligationen gesprochen. Es wurden auch deutsche Konzessionen im Rahmen der Pariser Handelsvertragsverhandlungen erwogen. Hesnard ließ durchblicken, daß bei diesen finanziellen Erörterungen beide Gesprächspartner, die ja auf diesem Gebiet keine Sachverständigen waren, in recht vagen Begriffen gesprochen hätten. Auch sei nicht klar geworden, ob die zusätzliche finanzielle Last für Deutschland wirklich tragbar sei.
Stresemann hatte aber nicht nur die Räumung des Rheinlandes in die Debatte geworfen, sondern auch von der Rückkehr der Saar zum Reich gesprochen. Er hatte ein paar hundert Millionen Goldmark dafür angeboten. Eng zusammen damit hing ein anderes Geschäft mit Belgien, das ebenfalls wegen seiner schwierigen Finanzlage vielleicht bereit gewesen wäre, Eupen-Malmedy gegen eine Regelung des Problems der im Kriege in Belgien in Umlauf gesetzten Markbeträge zurückzugeben. Darüber hatten schon vorher, zum Teil unter Einschaltung des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht, Verhandlungen stattgefunden, die allerdings von Frankreich mit sehr scheelen Augen angesehen worden waren.
Briand seinerseits brachte neben den finanziellen und wirtschaftlichen Fragen vor allen Dingen Abrüstungsangelegenheiten zur Sprache. Frankreich sei durch die von Zeit zu Zeit immer wieder festgestellten Mängel in der deutschen Abrüstung, vor allem aber durch die halbmilitärischen Verbände, wie den Stahlhelm und andere, sehr beunruhigt, denn durch diese Organisierung seiner wehrfähigen Jugend erhalte sich Deutschland eine große Reservearmee.
Weiter, als Lösungsmöglichkeiten in großen Umrissen anzudeuten, sind Briand und Stresemann wohl damals in Thoiry nicht gegangen. Aber allein die Tatsache, daß überhaupt ein derartiger Ausgleich als etwas praktisch Realisierbares in Erwägung gezogen werden konnte, war schon ein außerordentlich großer Schritt vorwärts. Die Freude und Genugtuung darüber hat wohl beide Gesprächspartner an jenem Nachmittag die Schwierigkeiten aus den Augen verlieren lassen, die sich der praktischen Durchführung ihrer Pläne damals noch entgegenstellten. Daß sie aber durchaus auf dem richtigen Wege waren, ergibt sich daraus, daß 1929 auf der Haager Konferenz eine Lösung im Ausgleich zwischen Reparationen und Rheinlandräumung tatsächlich gefunden wurde, die im großen gesehen den Gedankengängen von Thoiry entsprach.
Voller Begeisterung über die Perspektiven, die sich vor ihm eröffnet hatten, kehrte Stresemann am Spätnachmittag von seinem geheimnisvollen Ausflug wieder nach Genf zurück. „Die Räumung des Rheinlandes ist nur noch eine Frage von Monaten“, rief er einige Tage später in einer Pressekonferenz den deutschen Journalisten zu. Er hatte auf verschiedene Angriffe der Rechtspresse geantwortet und sich dabei in eine Art Kampfstimmung gegen die deutschnationale Opposition hinreißen lassen. Sie wurde ihm in den nächsten Jahren noch oft vorgehalten, denn es zeigte sich, daß die materiellen und politischen Schwierigkeiten, die den in Thoiry in Aussicht genommenen Lösungen entgegenstanden, doch größer waren, als die beiden „unverbesserlichen Optimisten“, wie sich Briand einmal in einer Rede bezeichnete, vorausgesehen hatten. Insbesondere hatten sie wohl die harten Realitäten der finanziellen und wirtschaftlichen Vorbedingungen ihres Planes damals noch nicht klar genug erkannt. Es dauerte noch mehrere Jahre, bis die Dinge zur Lösung reif waren.
Am Tage nach Thoiry kehrte Briand nach Paris zurück. Die großen Tage in Genf waren nun vorüber, und die deutsche Delegation bekam einen Vorgeschmack von der Monotonie der routinemäßigen Völkerbundsarbeit.
Stresemann verließ mit einem großen Teil der „Prominenten“ der Delegation am 22. September nachmittags um 5 Uhr Genf unmittelbar im Anschluß an einen Empfang der ausländischen Presse. „Voller Hoffnung kehre ich nach Deutschland zurück“, waren die letzten Worte, die ich dabei zu übersetzen hatte.
7
DIE WIRTSCHAFT HAT DAS WORT (1927)
Viele Worte über die Wirtschaft und von der Wirtschaft hatte ich im Jahre 1927 zu übersetzen. Wirtschaftsfragen standen fast die ganze Zeit für mich im Vordergrund. Aber nicht nur für mich, denn auch die Welt schien in diesem Jahre in ihren politischen Bemühungen etwas einzuhalten und ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich der Wirtschaft zuzuwenden.
Fast routinemäßig nahm ich, nun schon im dritten Jahre, im Januar meine Tätigkeit bei den deutsch-französischen Handelsvertragsverhandlungen in Paris wieder auf, arbeitete im Mai auf der ersten großen Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbundes in Genf, wurde anschließend daran zum Kongreß der Internationalen Handelskammer nach Stockholm geschickt, nahm unmittelbar darauf an den Besprechungen zwischen dem Reichsverband der deutschen Industrie und seinem englischen Gegenstück, der Federation of British Industries, in Berlin teil und kehrte dann wieder zu meinem Ausgangspunkt Paris zurück, wo im August schließlich das große dreijährige Werk, der deutsch-französische Handelsvertrag, abgeschlossen werden konnte.
So sah ich knapp dreiviertel Jahre nach den eindrucksvollen Szenen, die sich beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund abgespielt hatten, am 4. Mai 1927 den Reformationssaal in Genf wieder, in dem im September vorher die Vollversammlung getagt hatte. Auch jetzt wieder war hier in dem überfüllten Saal eine Art Vollversammlung zusammengetreten, aber auf Stresemanns Platz saß der Träger eines anderen weltberühmten Namens als erster Delegierter Deutschlands: Carl Friedrich von Siemens, der Seniorchef der bekannten deutschen Firma. An Stelle des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt nahm den zweiten Platz Staatssekretär Trendelenburg vom Reichswirtschaftsministerium ein. Prälat Kaas war durch den Fraktionskollegen Clemens Lammers vom Reichsverband der deutschen Industrie (übrigens nicht identisch mit dem späteren Reichsminister) ersetzt worden, die Interessen der Landwirtschaft nahm der ehemalige Reichsminister Dr. Hermes wahr, und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund wurde durch sein Vorstandsmitglied Eggert vertreten.
Einen ähnlichen Querschnitt durch das Wirtschaftsleben ihrer Länder stellten die anderen Delegationen dar. An Stelle der großen Namen der europäischen Politik, wie Briand und Chamberlain, traten die Koryphäen der Wirtschaftswissenschaft, der berühmte Schwede Gustav Cassel oder der Herausgeber der weitverbreiteten englischen Wirtschaftszeitschrift „Economist”, Sir Walter Layton, bekannte Industrielle, wie Loucheur aus Frankreich oder Pirelli aus Italien, und der Allgewaltige – auch dem Umfang nach – der Gewerkschaftsbewegung, Léon Jouhaux, dessen donnernde Volksreden immer etwas an Büchners „Danton“ erinnerten.
Wenn man genauer hinsah, so entdeckte man zwischen dieser Vollversammlung der Weltwirtschaftskonferenz und den Tagungen des Völkerbundes im gleichen Saal noch weitere Unterschiede. Sie hätten zur damaligen Zeit auf politischem Gebiet eine Sensation ersten Ranges dargestellt, und selbst in dieser nüchternen Wirtschaftsatmosphäre erregten sie erhebliches Aufsehen. Das war erstens ein unscheinbares Schild auf einem der Tische mit der Aufschrift „Sowjetunion“. Die Bank war zur Eröffnungssitzung zwar noch leer, da die Russen sich verspätet hatten, aber sie war danach immer voll besetzt von Delegierten, die