ging sogar so weit, daß einmal erwogen wurde, ob ich nicht auch als Dolmetscher für die Sowjetdelegation einspringen sollte, da viele der russischen Delegierten besser deutsch als englisch oder französisch sprachen. Ich hatte mich auf die Sensation, die mein Auftreten für die Russen auf dieser Konferenz hervorrufen würde, innerlich schon ein bißchen gefreut, als dann im letzten Augenblick doch von dieser allzu starken Betonung des Zusammenhaltes zwischen den beiden Delegationen abgesehen wurde.
Auch mit England bestand eine ziemlich enge Verbindung. Clemens Lammers vom Reichsverband der Deutschen Industrie kam so oft mit seinem Gegenspieler, Sir Arthur Balfour, der den britischen Industrieverband vertrat, zusammen, daß er in der deutschen Delegation fast nur noch mit Sir Clemens angeredet wurde.
Es fehlte natürlich auch an Mißtönen auf dieser Konferenz nicht. Zwischen England und Rußland hatte sich die Lage gerade in diesen Tagen wieder einmal so zugespitzt, daß die englische Regierung den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion erwog. Durch eine Polizeiaktion gegen die Sowjethandelsorganisation „Arcos“ in London waren den Engländern Schriftstücke in die Hände gefallen, welche die Sowjetvertretung schwer belasteten. Es handelte sich um Spionage, Entwendung amtlicher englischer Dokumente und sowjetische Propaganda in England. Der Leiter der russischen Handelsorganisation, Khinchuk, befand sich als sowjetischer Delegierter auf der Wirtschaftskonferenz, während die englische Polizei in London seine Büros durchsuchte. Daß er unter diesen Umständen im Reformationssaal die englischen Vertreter, unter denen sich der britische Handelsminister Runciman befand, nicht gerade mit freundlichen Augen betrachtete, liegt auf der Hand.
Auch in Genf beschwerten sich die Russen über die Polizei. Die Schweizer hatten aus Furcht vor Attentaten von zaristischen Emigranten strenge Absperrungsmaßnahmen vor und in dem Hotel der russischen Delegation getroffen, das ausgerechnet Hôtel d’Angleterre hieß. Der Bürgersteig vor dem Gebäude war durch eine Art Drahtverhau abgesperrt. Scharfe Kontrollen am Eingang und auf den Fluren erweckten fast den Eindruck eines Internierungslagers. Erst als die Russen sich heftig darüber beschwerten und mit Abreise drohten, wurden diese Maßnahmen aufgehoben. –
Als ich wieder nach Paris zurückfuhr, hatte ich den Eindruck, daß die Konferenz äußerlich und innerlich kein Ruhmesblatt des Völkerbundes darstellte. Sie hatte zwar mit ungeheurem Fleiß eine riesige Menge von Material zusammengetragen, wie es in dieser Vollständigkeit eben nur eine Weltorganisation wie der Völkerbund zustande bringt. Um aber zu praktischen Resultaten zu kommen, hätten die einzelnen Staaten einen Teil ihrer Souveränität auf wirtschaftlichem Gebiet an eine höhere Instanz, d. h. damals an den Völkerbund, abgeben müssen. Diese hätte auf Grund der Sachverständigenempfehlungen die entsprechenden, für alle bindenden Entscheidungen treffen müssen. Davon aber war man im Jahre 1927 noch ebenso weit entfernt wie heute.
Kurze Zeit nur hielt ich mich in Paris bei den schier endlos dauernden Wirtschaftsverhandlungen auf. Dann mußte ich zur Juni-Ratstagung nach Genf zurück und fuhr von dort nach Stockholm zum Kongreß der internationalen Handelskammer, der dort am 27. Juni begann. Diese Tagung ähnelte in vieler Hinsicht der Weltwirtschaftskonferenz. Zum großen Teil waren auch die Delegierten die gleichen. Nur die Beamten aus den verschiedenen Ländern, die in Genf als Sachverständige fungiert hatten, fehlten, außerdem auch die Russen.
Ich selbst arbeitete bei dieser Gelegenheit nicht nur für die deutsche Delegation, sondern auch gleichzeitig als amtlicher Dolmetscher des Kongresses und übersetzte, wie meine Völkerbundskollegen in Genf, vom Französischen ins Englische und umgekehrt. Man war allseitig so zufrieden mit mir, daß ich vom Generalsekretär der Handelskammer, Dolleans, das Angebot erhielt, als ständiger Mitarbeiter in das Pariser Sekretariat einzutreten.
Wenn auch Zusammensetzung und Rahmen des Kongresses der Genfer Tagung ähnelten, so war doch die ganze Atmosphäre in dem großen Sitzungssaal des schwedischen Reichstags, in dem die Vollversammlungen stattfanden, sehr viel wirklichkeitsnäher als in Genf. Die Vertreter des Handels zogen hier aus den Genfer Beschlüssen die ersten praktischen Folgerungen. Mit außerordentlichem Nachdruck unterstrichen sie die Genfer Forderung nach Abbau der Zollschranken. Interessanterweise machten in Stockholm die Amerikaner zunächst in dieser Frage einige Schwierigkeiten, da sie in der Unterstreichung der Schutzzollfrage mit Recht eine Spitze gegen Amerika erblickten. Dem allgemeinen Druck der Konferenzmeinung mußten sie sich aber schließlich doch fügen. So hatte Stockholm den Ball von Genf aufgefangen und ihn ein gut Stück Wegs weitergeschleudert. Am Ziele allerdings würde er erst angekommen sein, wenn die Handelskammern in den einzelnen Ländern die Regierungen zum Abbau der hohen Zölle veranlaßt haben würden.
Die Wirklichkeitsnähe des Kongresses zeigte sich aber vor allen Dingen in den Fragen des alltäglichen, praktischen Handelsverkehrs, die dort besprochen wurden. Wechsel- und Scheckrecht, Verschiffungs- und Versicherungsfragen, Bahn- und Schiffsverbindungen, Messen und Ausstellungen, Zollformalitäten und Zollnomenklaturen wurden hier von den Männern der Praxis für die Praxis erörtert, und sofort wurden Verfahren zur Behebung etwaiger Schwierigkeiten, zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verkehrs und zur Förderung des Handels beschlossen. Von hier aus war der Weg zu den entscheidenden Regierungsstellen in den einzelnen Ländern erheblich kürzer als von dem hohen Gremium in Genf.
Ich erlebte hier, wie die allgemeinen Grundsätze, die von der Weltwirtschaftskonferenz aufgestellt waren und die ich mit so viel Skepsis betrachtet hatte, der Verwirklichung doch ein erhebliches Stück nähergerückt wurden. Die Weltwirtschaftskonferenz zeigte hier ihre ersten positiven Wirkungen.
Auch außerhalb der eigentlichen Konferenz war die Atmosphäre unter den Geschäftsleuten in Stockholm erheblich lebendiger und optimistischer als unter den Sachverständigen von Genf. Jeden Abend fanden in diesem oder jenem Hotel Veranstaltungen statt, auf denen alte Freundschaften erneuert und neue geschlossen wurden. Daneben kam es sicherlich auch zu manchem guten Geschäft, nicht nur zum Nutzen der Beteiligten und ihrer Länder, sondern auch im Interesse der Wiederherstellung jener größeren weltwirtschaftlichen Gemeinschaft, „auf die die technische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts hindrängt“, wie es der Industrieausschuß in Genf formuliert hatte.
Sehr begünstigt wurde diese positive Tätigkeit des Kongresses durch den Tagungsort. Die Hauptstadt Schwedens mit ihren soliden Häusern und ihren schönen Geschäften, mit dem Königsschloß und dem Reichstag und den Ausflugsmöglichkeiten an die See nach Saltsjoebaden und anderen landschaftlich herrlichen Orten bildete um die Zeit der Mitternachtssonne einen exquisiten Rahmen für ein Treffen der Geschäftsleute aus der ganzen Welt. Der Schlaf wurde dabei auf ein Minimum beschränkt, denn um Mitternacht konnte man auf den Straßen noch bequem die Zeitung lesen, und um 1 Uhr morgens war es bereits wieder heller Tag. So nahm ich am 2. Juli von dieser Veranstaltung einen erheblich hoffnungsvolleren Eindruck mit auf den Rückweg als von der Weltwirtschaftskonferenz in Genf.
Einen weiteren und vielleicht noch stärkeren Beweis für die neue Atmosphäre, welche die Genfer Konferenz in der Wirtschaft zu verbreiten begann, bildeten die deutsch-englischen Industriebesprechungen in Berlin, zu denen ich telegraphisch aus Stockholm beordert wurde. Am 5. und 6. Juli trafen sich Vertreter der Federation of British Industries und des Reichsverbandes der Deutschen Industrie im Hotel Esplanade. Es waren auf beiden Seiten große Namen vertreten. Lord Gainford, der Präsident des britischen Industrieverbandes, war persönlich anwesend. Auf deutscher Seite waren die bekanntesten Persönlichkeiten aus der Industrie an den Verhandlungen beteiligt: Sorge, Duisberg, Bücher, Deutsch, Silverberg und Springorum. Die Industriellen hielten sich nicht lange bei allgemeinen Dingen auf. Sie erklärten als Männer der Praxis, „es müsse denjenigen Gebieten der Vorrang gegeben werden, auf denen schon in naher Zeit greifbare Ergebnisse erzielt werden könnten“. Das war ein ganz anderer Ton als in Genf oder selbst in Stockholm. Hier sollte keine Zeit verlorengehen, und so wurde denn die Frage des Abbaus der Handelshemmnisse, in der Genf und Stockholm mit so großem Nachdruck für eine Neuorientierung eingetreten waren, sofort an dem Punkt in Angriff genommen, der unter den damaligen Umständen am nächsten lag. Das war die Beseitigung der Ein- und Ausfuhrverbote. Dabei hatten gerade die Industriellen praktisch ein gewichtiges Wort mitzureden, da ja meistens ihre Vertreter in den Parlamenten bisher für derartige Verbote eingetreten waren. Wenn sie jetzt eine neue Linie verfolgten, so war die Aussicht auf eine praktische Verwirklichung, d. h. auf eine tatsächliche Aufhebung dieser Hindernisse für