ersten Blick vielleicht unwichtig erscheinen mochten, die aber für die Praxis des Warenaustausches von großer Bedeutung waren, wurde gesprochen. Dabei handelte es sich um die Vereinfachung der Zollnomenklatur und den Ausbau der internationalen Handelsstatistik. Mit diesen Fragen war man bereits tief in den Alltagsbetrieb des Handelsverkehrs auf internationaler Grundlage eingedrungen. So zeigte sich auch hier in Berlin in den Fragen des alltäglichen Wirtschaftsverkehrs zwischen Deutschland und England, daß Genf im einzelnen seine Früchte zu tragen begann.
Noch viel eindringlicher erlebte ich die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskonferenz auf der nächsten Etappe meiner Reise, in Paris, wo ich mitten in die Schlußrunden des Kampfes zwischen den beiden Delegationen um den deutsch-französischen Handelsvertrag hineinkam. In Frankreich hatte die Weltwirtschaftskonferenz eine bemerkenswerte Wirkung gehabt. Als ich Ende April zur Wirtschaftstagung nach Genf abgereist war, stand Frankreich im Begriff, sich einen ganz besonders überhöhten neuen Zolltarif zuzulegen. Industrie und Landwirtschaft im Verein mit den dazugehörigen politischen Parteien schienen sich verschworen zu haben, den französischen Markt um jeden Preis vor dem Eindringen ausländischer Waren zu schützen, auch wenn dabei der französische Export zu Schaden kommen würde. An diesem Protektionismus, der in jener Zeit Frankreich beherrschte, waren die Verhandlungen schon mehrfach fast gescheitert. Immer wieder hatten sie vertagt werden müssen, weil eine Einigung über die Zollsätze unmöglich schien.
Aus diesem Grunde hatten sich die Verhandlungen, die kurze Zeit nach der Londoner Konferenz im Jahre 1924 begannen, auch fast drei Jahre lang hingezogen. Von Zeit zu Zeit waren immer wieder kurzfristige, provisorische Vereinbarungen getroffen worden, um nicht durch einen vertraglosen Zustand die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern völlig zu unterbrechen.
Für die jüngeren Mitglieder der Delegation war diese Verhandlungsweise eigentlich recht angenehm gewesen. Jedesmal, wenn sich die Delegationen wieder entzweit hatten – und das kam sehr oft vor –, reisten die Hauptdelegierten nach Berlin zurück, um neue Weisungen einzuholen. Der technische Stab aber mußte in Paris gelassen werden, damit nicht der Eindruck eines völligen Abbruchs entstand. So hatten wir denn oft tagelang Zeit, uns in Paris und seiner schönen Umgebung umzusehen. Wir lernten die Hauptstadt Frankreichs bei Tag und Nacht gründlich kennen, und jeder von uns hätte nach Abschluß der Verhandlungen einen ausgezeichneten Fremdenführer abgegeben. Dazu kam noch die französische Inflation, die uns Ausländer mit einem stabilen Markgehalt von Woche zu Woche wohlhabender werden ließ.
Nun aber gingen die Verhandlungen doch endlich ihrem Abschluß entgegen. Frankreich war auf der Weltwirtschaftskonferenz mit seinem Protektionismus in eine derartige Isolierung geraten, daß es die französische Regierung vorzog, eine Neuorientierung ihrer Zollpolitik vorzunehmen. Auch die Wirtschaftskreise sahen ein, daß sich Frankreich im Welthandel mit seinen Schutzzöllen mehr schaden als nützen würde; die Vertreter der französischen Industrie und Landwirtschaft hatten ja mit eigenen Augen in Genf den Ansturm der übrigen Länder gegen die französische Handelspolitik miterlebt und machten daher durch ihre Vertreter im Parlament einem gemäßigteren Kurs der Regierung keine Schwierigkeiten mehr.
Diese Mäßigung zeigte sich nun auch in den Handelsvertragsverhandlungen. Am Morgen des 17. August wurde im Arbeitszimmer des Handelsministers Bokanowsky zum letzten Male über den grundlegenden Handelsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich im Pariser Handelsministerium gesprochen. Der Unterzeichnungsakt fand später im Amtszimmer von Briand am Quai d’Orsay statt. Der deutsche Delegationsführer, der spätere Staatssekretär Posse, und der deutsche Botschafter, von Hoesch, unterzeichneten für das Reich, während Briand und Bokanowsky ihre Unterschrift für Frankreich gaben. Es war ein Vertragswerk von 210 Druckseiten, in dem die Wirtschaftsbeziehungen bis in die kleinsten Einzelheiten genau geregelt wurden. Allein 170 Seiten waren ausgefüllt mit Warenbezeichnungen und Zollsätzen, die in sechs verschiedenen Listen aufgeführt waren. Das Abkommen hat außerordentlich viel zur Hebung der beiderseitigen Wirtschaftsbeziehungen beigetragen und ist bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges ihre Grundlage geblieben. Es war der erste Vertrag seit 1870, den beide Länder über einzelne Warenpositionen miteinander abschlossen, und er wurde in den folgenden Jahren in internationalen Wirtschaftskreisen stets als ein Muster für die Auswirkung der neuen handelspolitischen Linie gepriesen, welche die Weltwirtschaftskonferenz in Genf festgelegt hatte.
Frankreich hatte eine Zeitlang versucht, die handelspolitischen Fragen, die sich aus den hohen Zöllen ergaben, durch privatwirtschaftliche Vereinbarungen, d. h. durch Kartelle, zu lösen. Nach französischer Ansicht waren die Eisenindustrie, die Chemie und die Elektrotechnik hierfür besonders geeignet. Ich hatte in Genf erlebt, auf welchen Widerstand diese Theorie gestoßen war und wie am Ende der Weltwirtschaftskonferenz die Franzosen selbst kaum noch darauf zurückkommen konnten. Im Rahmen des deutsch-französischen Verhältnisses war lediglich eine privatwirtschaftliche Vereinbarung zwischen den beiderseitigen Eisen- und Stahl-Industrien zustande gekommen, die allerdings eng mit dem Handelsvertrag verkoppelt wurde und in der Schlußphase noch als Druckmittel für dessen Abschluß eingesetzt werden konnte.
So entwickelte sich schließlich jenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen, das zum Vertrage führte, und das, wie die spätere Wirtschaftsentwicklung der beiden Länder zeigte, ein echtes Gleichgewicht war, wenn es auch zunächst sehr stark zugunsten Deutschlands zu wirken schien.
Wenn man die langen Warenlisten des Vertrages durchsah, in denen bei jedem einzelnen Artikel die Nummer des Zolltarifs und der Zollsatz angegeben wurden, dann konnte man erkennen, daß nunmehr wieder französischer Wein, französisches Frühgemüse und französische Textilien, Parfüms und andere Luxuswaren in Deutschland zum Verkauf kommen würden, während deutsche Maschinen, deutsche Feinmechanik und Optik und all die anderen deutschen Ausfuhrartikel wieder unter einigermaßen normalen Bedingungen in Frankreich abgesetzt werden konnten. Beim Durchblättern dieser Listen wurde mir klar, daß ich am Ende einer deutsch-französischen Entwicklung angelangt war, die vor Jahren mit einer ersten Wirtschaftsunterhaltung zwischen Stresemann und Clémentel im Hyde Park Hotel in London begann und nun hier in diesem Vertrag endete und zu ganz konkreten, für jeden einzelnen Deutschen und Franzosen persönlich spürbaren Ergebnissen geführt hatte.
Gleichzeitig gingen meine Gedanken zurück in den Reformationssaal nach Genf, zu dem eintönigen und auf den ersten Blick so sterilen Treiben der Wirtschaftssachverständigen. Auch diese Arbeit eines internationalen Gremiums fand hier in den Seiten des deutsch-französischen Handelsvertrages ihren konkreten, für den Mann auf der Straße greifbaren Niederschlag. Schrittweise war ich von Genf über Stockholm und Berlin hier in Paris von der trockenen Theorie bis zur lebensvollen Praxis des alltäglichen Güteraustausches durch die verschiedenen Phasen hindurchgegangen, in denen sich im Jahr der Wirtschaft 1927 ein Wendepunkt anzukündigen schien. Wie oft habe ich Ende 1949 und Anfang 1950, wenn ich aus Presse und Rundfunk von den ersten deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen nach dem Zweiten Weltkriege hörte, die unter der Leitung eines mir von mancher früheren Wirtschaftsverhandlung her bekannten ehemaligen Kollegen stattfanden, an die Zeit zurückgedacht, die ich mit der Wirtschaftsdelegation von 1924 bis 1927 in Paris verbrachte. Die Geschichte schien sich zu wiederholen, auch hinsichtlich der letzten Schwierigkeiten, die sich noch kurz vor Vertragsabschluß im Januar 1950 zwischen Deutschland und Frankreich ergaben, insbesondere aus den Kreisen der deutschen Landwirtschaft.
In späteren Jahren bin ich nie wieder so intensiv mit den internationalen Wirtschaftsproblemen in Berührung gekommen. An die Stelle der trockenen Zahlen und Tatsachen, die auf den ersten Blick so nüchtern und undramatisch schienen, trat wieder die Politik mit ihren äußerlich viel sensationelleren Begleiterscheinungen. „Primat der Politik“, hieß es von Stresemann bis Hitler. Was ich im Jahre 1927 an mir vorüberziehen sah, erweckte in mir die ersten Zweifel an der Richtigkeit dieser für Politiker so naheliegenden Behauptung. Ich hatte auch in der Wirtschaft eine Dramatik entdeckt, die zwar weniger an der Oberfläche lag, deren Fernwirkungen aber um so nachhaltiger waren. Als man sich später von den Grundsätzen der Wirtschaftskonferenzen von 1927 immer mehr lossagte, wuchs das Elend in Europa. Die Massen der Arbeitslosen und der wirtschaftlich Benachteiligten gerieten in Bewegung, und erst durch sie erhielten extreme Strömungen ein Gewicht, das ihnen die Macht verlieh, Europa und die Welt zur Katastrophe zu treiben.
Wenn ich unter diesem Gesichtspunkt all die Jahre der politischen Konferenzen