Unterricht im Sport sich erschlich. (Begleitumstände, S. 52)
Generell war den Studenten eine strenge Studiendisziplin auferlegt. Außerdem galt eine Art Benimm-Kodex:
ein höfliches und ehrerbietiges Benehmen gegenüber den Professoren und Dozenten, insbesondere das disziplinierte Verhalten in den Vorlesungen; der regelmäßige und pünktliche Besuch der Vorlesungen, Seminare, Übungen, Praktika und Spezialseminare [...]; ein sorgfältiges Selbststudium entsprechend den Studienplänen.
Zum Studium gehörte weiterhin ein Berufspraktikum. Johnson absolvierte es im Sommer 1954 zwischen dem 21. Juni und dem 24. Juli im Leipziger Reclam Verlag, wohnte während dieses Monats bei Erhart Franz in der Paul-Schneider-Straße 5 zur Untermiete. Das Stipendium wurde dem Praktikanten währenddessen von der Universität weitergezahlt. Die Fahrtkosten wurden ihm erstattet, und er erhielt zusätzlich eine Pauschale von 75 Mark. Die Wahl des Ortes Leipzig für das Praktikum mag bereits Johnsons Entschluß widergespiegelt haben, von 1954 an sein Studium in der Stadt an der Pleisse fortzusetzen.
LEBEN UND STUDIUM IN ROSTOCK
Zum Herbstsemester 1952 kam der Güstrower Abiturient nach Rostock. Am 12. Juni 1952 bekam er sein Studienbuch (Hochschulnummer 69/M52) ausgestellt. Am 19. August 1952 wurde Uwe Klaus Dietrich Johnson, von nun an allerdings würde er seinen Namen auch auf amtlichen Unterlagen konsequent auf Uwe Johnson verkürzen, für sein erstes Studienjahr immatrikuliert. Auf dem ersten Paßfoto seiner Universitätsjahre blickt, mit offenem Kragen und frisch geschnittenen, aber doch nicht ganz kurzen Haaren, hinter schwer-schwarzem Hornbrillengestell, ein selbstbewußter junger Intellektueller ruhig in das Objektiv. Im ersten Studienjahr, zwischen dem Herbst 1952 und dem Frühjahr 1953, bekam Johnson die obligatorischen drei Wochenstunden Grundlagen des Marxismus-Leninismus verabreicht. Sie werden im Studienbuch an extra prominenter Stelle aufgeführt. Hinzu kamen Systematische Pädagogik und Entwicklungspsychologie (hier hatte einer, der nicht Lehrer werden wollte, dennoch einen Lehrerstudiengang gewählt), ferner Mittelhochdeutsche Grammatik, Sprechkunde, die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789, eine Einführung in die Sprachwissenschaft und, was dann auch für das nächste Studienjahr gelten würde, die Lektüre neuenglischer Texte sowie Russische Sprache und Literatur.
Im zweiten Studienjahr kamen dann Althochdeutsche Grammatik und Hauptprobleme der Deutschen Satzlehre hinzu, ebenso die Geschichte der Deutschen Literatur 1789 bis 1815 (bei Hildegard Emmel). Weiterhin hörte Johnson Meisterwerke der Weltliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts und ein Spezialseminar zu Faust II. Daneben standen noch Anfängerübungen im Schwedischen – Johnson wußte um seine Herkunft – und die Lektüre neuenglischer Texte – was unverkennbar Johnsons damals schon vorhandene komparatistische Interessen belegt –, eine Geschichte der Französischen Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft und eine Geschichte der Französischen Literatur im Absolutismus. Hinzu kamen noch Englische Debattierübungen und die Antike Philosophie Platons. Uwe Johnsons Studienergebnisse erwiesen sich, wie zu erwarten, als insgesamt hervorragend. Dies ungeachtet des Umfangs seines Stundenplans und, obwohl er nebenbei schrieb und, so das Zeugnis seiner Rostocker Studienfreundin, des »Waldgesichts«, weniger fürs Studium gearbeitet habe als beispielsweise sie. Das Zwischenprüfungsergebnis vom 18. Mai 1953 lautete: Gesamtnote »Sehr Gut«.
Diese Gesamtzensur umfasst folgende Prädikate: 1. Schriftliche Abschlussarbeit – Sehr Gut. 2. Leistungen während des Studienjahres – Sehr Gut. 3. Teilnahme am Unterricht – regelmässig.
Am 27. Mai 1953 legte der Student die Zwischenprüfung über Herder und Kant sowie über die Literatur des Demokratischen Deutschland ebenfalls mit »Sehr Gut« ab. Auch in Marxismus-Leninismus erzielte er (am 12. Juni) ein »Sehr Gut«. Gleiches galt für die russische Sprache und die Geschichte der Deutschen Literatur von 1700 bis 1789. Nur in der Mittelhochdeutschen Grammatik kam er über ein »Gut«, wenn auch mit Pluszeichen, nicht hinaus. Am 15. Oktober 1953 wurde ihm dieses Prüfungsergebnis offiziell bestätigt.
Bereits der Studienanfänger Johnson organisierte sein Dasein als Schriftsteller. Seine finanziellen Mittel waren begrenzt. Dennoch bevorzugte er, das eigene Schriftbild ausschließlich in schwarzer Tinte zu erblicken, ungeachtet aller Mehrkosten. Eine Fülle solcher schriftstellerischer Utensilien wird Walter Benjamin fordern – als unerläßlich für die Inspiration. In bezug auf die Rostocker Zeit hat Uwe Johnson in Begleitumstände das folgende geschrieben:
Wie soll er da eine Fülle auftreiben, wenn die Regierung selber schreiben lässt auf holzigem Papier! Will er das bewerkstelligen mit dem Ankauf unzähliger »Geschenkpackungen« aus einem monatlichen Budget von 130 Mark Stipendium, wird er Senf wählen müssen als Belag für sein Brot. Es ist selbst verschuldet, wenn einer sein Schriftbild nur in schwarzer Farbe erträgt (auf den Vorwurf der Exzentrizität antworte ich mit der Auskunft, dass grüne Farbe reichlich im Handel war), solches Schwarz aber so tief im Süden der Republik angefertigt wird, dass es den Bezirk Rostock nur zufällig erreicht. Hier versichere ich einem Mädchen namens Christian, dass ich anfangs aber ohne jede Ahnung war von dem Geschäft, das deine Mutter betrieb, mit Schreibwaren, Christian. Was war Luxus? Eine Schreibmaschine war Luxus. Fülle war manchmal geboten. (Begleitumstände, S. 69 f.)
Bei dem im Text erwähnten »Mädchen namens Christian« handelte es sich um die Kommilitonin Christine Krakow, mit der Johnson im Rahmen des Vietinghoffschen Englisch-Unterrichts im Herbst 1953 bekannt geworden war, mithin in jener Zeit, auf die sich auch die zitierte Passage der Begleitumstände bezieht. Bereits da muß er sich als Berufsschriftsteller im Benjaminschen Sinn betrachtet haben. Das Schreiben als eigene, besondere Form der Existenz. Als eine Profession, die der geeigneten Stimuli bedurfte. Einsparungen vorzunehmen, das erschien dem asketischen Blonden in nahezu allen Bereichen des Lebens als notwendig und möglich. Nicht aber im zentralen seiner Schreibexistenz.
Tatsächlich mußte er energisch sparen. Johnsons Stipendium betrug von 1952 bis 1955 130 Mark im Monat. Seine Mutter verdiente, zu Beginn des Jahres 1955, ganze 263 Mark. Der dann zum »Arbeiterkind« gewordene Uwe Johnson erhielt, wie erwähnt, sein Stipendium auf 180 Mark aufgestockt. Die Rostocker Straßenbahn gewährte gegen »Vorlage des Studentenausweises und eines Lichtbildes« eine verbilligte Monatskarte zum Preis von 7,50 Mark. Als Stipendienempfänger war Johnson beitragsfrei versichert. Daneben besaß er dank des mütterlichen Berufes einen Freifahrschein für die Strecken der »Deutschen Reichsbahn«. Ebenso das Recht, zu ermäßigten Preisen in der Reichsbahnkantine in Güstrow zu essen. Dieses Recht nahm er häufig wahr (und erlauschte sich hier entscheidende Kenntnisse zur Darstellung des Dispatcher-Berufs). Für ihre Studenten unterhielt die Rostocker Alma mater einen Mensabetrieb in der Schwaanschen Straße. Der Student Johnson, es ist verbürgt, daß er die Leipziger Mensa regelmäßig aufsuchte, wird auch in Rostock diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Dort wurden, so stand es geschrieben, Mittag- und Abendessen »verabfolgt«. Das Mittagessen kostete 0,60 Mark. Das Abendessen, auf eigener Karte ausgeschrieben, war für 0,30 bis 1,10 Mark zu haben. Als Tischzeiten galten wochentags 11.30 bis 13.30 und von 17.30 bis 19.30. Auch sonntags konnte einer zwischen 11.30 und 13.00 verköstigt werden. Daneben standen allen Studenten Lebensmittelkarten zu, die ausgeteilt wurden vom Prodekanat in der Schwaanschen Straße Nr. 3, 1. Stock, wochentags zwischen 10 und 14 Uhr.
ALICE HENSAN, DIE »GUTE MUTTER« VON ROSTOCK
Die offizielle Bestimmung lautete 1952: »Immatrikulierte Studenten erhalten sofort Zuzugsgenehmigung.« Damit war freilich noch kein Zimmer gefunden. Das besagte Rostocker Prodekanat hätte Johnson vielleicht helfen können. Tatsächlich aber war es die Kommilitonin Käthe Woischik, die ihm zu seiner ersten Studentenbude verhalf. Das Zimmer lag damals noch in der Rostocker St.-Georg-Straße, aus der Drachentöter-Straße wurde nur wenig später die Friedrich-Engels-Straße. Heute hat die Straße ihren alten Namen zurückerhalten. Im Einfamilienhaus mit der Nummer 71, einem in glasierten Backsteinziegeln aufgeführten zweistöckigen Bau mit umgebendem Garten, wohnte die verwitwete Dame Alice Hensan mit Familie. In ihr sollte Uwe Johnson, dessen Beziehung zur eigenen Mutter seit längerem gespannt, ja zerrüttet war, einer »Ersatz-Mutter« begegnen, die ihm lebenslang ebenso eng verbunden bleiben wird wie Uwe Johnson ihr. Unter allen Rostocker Begegnungen ragt diese