Bernd Neumann

Uwe Johnson


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das Wort ergriff. Alle Einwände des »Waldgesichts«, wie man sie imaginieren kann: Zeitmangel; Unerfahrenheit; eine Frau auf diesem Posten, der einen ganzen Mann erforderte; mangelnde Lust und Eignung – nichts verfing.

      Auch Uwe Johnson, der ihr sonst immer tanzstundenartig den Mantel hielt, argumentierte jetzt nicht mehr für sie. Sie sollte nun partout Vorsitzende werden. Das ging allein schon deshalb nicht, weil sie es ihrer Mutter nie würde mitteilen können. Der lange Dialektiker aus Güstrow aber sah ihrer Argumentationsnot ganz und gar ungerührt zu. Was mochte in ihm vorgehen? Hatte er doch die Stirn gehabt, ihre aus vorübergehendem Selbstzweifel geborene Bemerkung: Am besten sei es wohl, sie breche das Studium ab und werde Sekretärin, mit dem allzu nüchternen Bemerken zu kommentieren, daß er solches nicht ungern sähe? Das in die Enge getriebene, verwirrte »Waldgesicht« verfiel schließlich darauf, ganz einfach die Wahrheit zu sagen: »Dieses Amt ist mit meiner politischen Überzeugung nicht zu vereinbaren.« Im Anschluß an diesen Satz verließ sie den Raum. Das Schweigen der anderen muß in der Stille, die nach dem Zuschlagen der Tür einsetzte, sehr hörbar gewesen sein. Was tun? Man entschloß sich dazu, ausgerechnet den »Jugendfreund« Johnson zu ihrem Erzieher zu ernennen. Daß wiederum Uwe Johnson selbst sich zum »Erziehungsleiter« der unbotmäßigen Kommilitonin bestimmen ließ, mochte durchaus dem Schutz dieses Bürgerkindes dienen, das sich in den revolutionären Umbruchszeiten so gefährlich unberaten aufgeführt hatte.

      Uwe Johnson hat seine Studenten-Liebe unmittelbar nach Schluß der Sitzung aufgesucht, sich für den Verlauf der Sitzung entschuldigt und ihr gleichzeitig eröffnet, durch welche Funktion er nun der Angebeteten auch organisatorisch verbunden sei. (In der Babendererde ist es Jürgen, der den Diskussionsstil der FDJ mißbilligt, ohne sich zugleich von der gesamten Organisation zu trennen. Der aber, notabene, auf Überzeugen statt auf Terrorisieren des Andersdenkenden setzt.) Mit diesem späten Besuch Johnsons an besagtem 12. November 1953 beginnt die engere Bekanntschaft zwischen den beiden. Danach ließ der zum »Erziehungsleiter« bestimmte Verehrer den erwähnten Armreif schmieden.

      Im Sommer 1954, am Ende des 2. Studienjahrs und kurz vor beider Wechsel nach Leipzig, schrieb Uwe Johnson, jetzt Praktikant beim Reclam Verlag, dem »Waldgesicht« Briefe von dort. Beider Beziehung lief nun bereits auf ihr Ende zu. Bei aller Liebe und Fürsorge, bei allen Einfällen und aller literarischen Produktivität: Er ist ihr nie näher gekommen als bis zu jener Zone, die sein erstes Werk als das Gebiet der besonderen, verzichtbestimmten, heiter-resignativen Fern-Liebe zwischen Ingrid Babendererde und Jürgen Petersen beschreibt:

      Auch war niemals Hoffnung gewesen in seiner Liebe und niemals Zuversicht; es genügte übrigens vollständig zu wissen dass er den Spiegel in der Tat nicht zerbrochen hatte. (Babendererde, S. 183)

      Auch bei Uwe Johnson ging kein Spiegel in Scherben.

      Sie waren sich einig in einem gutwilligen gleich wieder verleugneten Lächeln. [...] Ingrid hatte Lust Jürgen zu küssen. Ja warum: für sein angestrengtes Reden und Dahocken, für die Jürgensche schwierige Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit? Nein, für nichts und wieder nichts, eben überhaupt. Das lässt sich nun nur machen ohne Vorbereitung und Umstände, Jürgen aber sass sehr entfernt von ihr; so ungeschickt ist dieses Leben. Als sie aufsah, war es vorüber, dafür stand die leidig vernünftige Einsicht: besser blieb es für Jürgen bei dem Vorhandenen. (Babendererde, S. 107)

      Früher Verzicht hat auf diese Weise eine früh vollendete Literatur hervorgebracht. Im Grunde wußte der Verliebte bereits am Anfang der Beziehung, daß nicht alle seine Träume in Erfüllung gehen würden. Nachdem er die Begehrte mit einer verlockend saftigen Birne verglichen hatte, fuhr Johnson in dem erwähnten Brief an Frau Luthe (30. August 1952) fort:

      Das Komische daran ist, daß die Sache nach platonischem Vorbild begann und sinnlich konkrete Veränderungen dieser Entwicklungshöhe sich bisher nicht ergeben haben und sich auch nicht ergeben werden. Erfreulich und bedauerlich.

      Bedauerlich vor allem. Denn der Verfasser dieser Zeilen wollte sich in der Realität noch immer nicht in den Verzicht finden. Johnson hätte, mit seiner »schwierigen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit«, doch allzu gern der »leidig vernünftigen Einsicht« seiner Freundin abgeholfen. Jürgen indes vermag in der Babendererde auf Ingrids Liebe zu verzichten. Er hat sein Alter ego Klaus neben sich, dem er die Geliebte zusprechen kann. Der Johnson der Rostocker Studentenjahre aber stand allein. Für den Sommer 1954 wünschte er sich, was später erst der junge Schriftsteller als Erfüllungserlebnis in Marthas Ferien hat aufschreiben können: Wasserfahrt und – implizit – »uneheliche Hochzeit«. Johnsons Rostocker »Jugendliebe« orientierte sich zudem an Arne Mattssons frühem Film Sie tanzte nur einen Sommer, den der Student just in diesen Tagen gesehen hatte und den er für die »Geschichte einer Liebe, erzählt in [...] wunderbarer Reinheit und realistischer Echtheit« befand. (Brief an Frau Luthe)

      Auf der Höhe ist euer Zelt versteckt in einer Lichtung inmitten verflochtenen Laubgesträuchs und Nadelholzes. Nur nach Osten ist eine Schneise offen, abgesenkt, aber der See muss ganz frei gewesen sein von Fischerbooten, und auf der Insel seid ihr allein. (Marthas Ferien, S. 45)

      Das »Waldgesicht« hatte glatt »Nein« gesagt zum Alleinsein mit Uwe Johnson. Wollte statt der Wasserfahrt lieber ihre Verwandten in Kassel besuchen. Worauf in dem enttäuschten jungen Mann dann doch der »Erziehungsleiter« erwachte, der der Schutzbefohlenen erregt vorwarf, dem »kapitalistischen Westen« nachzulaufen. So entstand, im Sommer 1954, ein quälender Bruch, von dem sich ihre Beziehung nie wieder erholen sollte. Nach dem entscheidenden Gespräch machte der Student sein Fahrrad unendlich langsam fahrbereit. Keine Tür öffnete sich mehr. Das »Waldgesicht« reiste statt dessen ins Hessische ab. Uwe Johnson aber sandte ihr, die sich ihm solcherart entzog, statt sich von ihm erziehen zu lassen, ein Telegramm in den kapitalistischen Westen nach. Das lautete: »Sofort zurückkommen, gez. Uwe Johnson« – und erfüllte seine Wirkung schon deshalb nicht, weil die Mutter es ihrem Kind gar nicht erst aushändigte. »Das Hin und Her unserer Trennung muß auch ihn ziemlich zermürbt haben, und er sagte einmal: ›Mach das nicht wieder!‹« Wozu es allerdings keine Veranlassung mehr geben sollte. Die Liebesaffäre mit »Gertie«, dem »Waldgesicht«, erkaltete zunehmend in diesem Sommer 1954. Zwar ging man noch zusammen nach Leipzig. Hier aber lernte, und das ist eine andere, die nächste Geschichte, Uwe Johnson Elisabeth Schmidt kennen. Und das »Waldgesicht« wird, nachdem nunmehr Uwe sich getrennt hatte, unter seinen Freunden das »Asphaltgesicht« heißen.

      Die Trennung war endgültig. Was noch zu erzählen bleibt, ist die damalige Rückwirkung auf die Konzeption der Ingrid Babendererde. Die Briefe zwischen Manfred Bierwisch und Uwe Johnson, deren erste 1955 gewechselt wurden, kreisen auch um die erotischen Erfüllungswünsche ihrer Verfasser. Ohne Antwort war des Freundes Bierwisch direkte Erkundigung vom 6. Juni 1955 geblieben: »Ist G. Deine Geliebte?« »Ossian« (so Johnsons studentischer Übername in Leipzig) erwog zu dieser Zeit bereits, spätestens aber im September 1955, seine Ingrid Babendererde – ertrinken zu lassen. Ein Gedanke übrigens, der angesichts der Andeutung über »Ossians« nunmehrigen erotischen Erfolg bei der Nachfolgerin des »Waldgesichts«, Elisabeth Schmidt, auftrat. Bierwisch erwarb sich Meriten um die deutsche Literatur, indem er den Freund von solch mörderischem Ende seines Romanerstlings per Postkarte vom 4. Oktober 1956 abbrachte. »Lass Ingrid nicht zugrunde gehen!« So kam es dann auch. Ingrid mußte ihrem Vater nicht ins nasse Grab nachfolgen. Ihr Tod, unmotiviert, wie er nur hätte ausfallen können, würde die Qualität des Buches ernsthaft beeinträchtigt haben.

      Die Liebesgeschichte war beendet. Nicht aber die Geschichte ihrer Bekanntschaft, ein biographisches Nachspiel, das literarische Erlebnisgrundlage werden sollte: Das »Waldgesicht« reiste gern, und das nicht nur nach Kassel. Sie war, damals bereits, in Schweden gewesen und kannte auch einen in der DDR arbeitenden schwedischen Journalisten. Eines Tages bekam die junge Frau Besuch vom Staatssicherheitsdienst. Ein deutscher und ein russischer Mitarbeiter der »Firma« standen vor ihrer Tür. Die beiden erklärten: Das »Waldgesicht« solle Kommilitonen, daneben auch skandinavische Besucher bespitzeln, bekam dafür Reisemöglichkeiten in Aussicht gestellt. Von niemand anderem als dem »Waldgesicht« ist die Rede, wenn es heißt:

      Eine Studentin erzählte von ihrer Arbeit auf der leipziger Messe und deren Folgen. Sie betreute einen skandinavischen