der auch ich angehöre, die den Krieg nicht mehr erlebt hat und in Frieden und wachsenden Wohlstand hineingeboren wurde, spürte noch die Auswirkungen unserer blutigen Geschichte. Als ich im Jahr 1981 als Volontär bei der Kommission in Brüssel gemeinsam mit rund hundert anderen jungen Leuten arbeitete, kamen wir manchmal beim Abendessen darauf, dass unsere Väter vielleicht aufeinander geschossen hatten oder dass Verwandte aus ihrer Heimat vertrieben wurden, entweder während des Krieges oder danach. Wir wollten für ein starkes Europa arbeiten, weil uns noch bewusst war, dass ein friedliches Zusammenleben in Europa nicht selbstverständlich ist. Diese einfache Erkenntnis ist in den letzten Jahren verlorengegangen oder sie wurde von Populisten, die Wählerstimmen durch die Abwertung anderer Nationen gewinnen wollten, bewusst torpediert.
Nationalstaaten als Spiegel für ehrgeizige Politiker
Die Corona-Krise des Jahres 2020 hat – 75 Jahre nach Ende des weltweiten Völkerschlachtens und des beispiellosen Verbrechens des Holocaust mit insgesamt rund 70 Millionen Toten – offengelegt, was in den Jahren zuvor schon gärte. Einige führende Politiker in den Nationalstaaten waren auf einmal keine Europäer mehr, die gemeinsam eine Pandemie bekämpfen wollten, sondern gaben sich als nationale Führer, die aus der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg einen persönlichen Sieg machen wollten. Das gilt nicht für alle, aber die Versuchung, Schlagbäume und Militär als Schutz gegen einen unsichtbaren Gegner und sich selbst als Spender von Vertrauen zu zeigen, war allzu groß.
Die gesamten Folgen der Pandemie sind noch nicht absehbar, aber deutliche Einschnitte in unser gewohntes Leben sind bereits passiert. Die Wirtschaft ist rasend schnell und massiv eingebrochen, deutlich stärker als bei der Finanzkrise in den Jahren nach 2008. Die Arbeitslosigkeit ist trotz großzügiger Kurzarbeitsprogramme so hoch wie nie seit den 1930er Jahren, Gräben tun sich auf zwischen Menschen mit sicheren Jobs und solchen, die vielleicht keine Arbeit mehr finden werden. Denn die Digitalisierung unseres Lebens wird einen weiteren Schub erfahren, und zwar zunächst mit der Konsequenz, dass Innovationen zu höherer Produktivität bei weniger Beschäftigung führen werden. Digitalisierung erleichtert die Überwachung der Menschen, wie wir aus China wissen. Diese und andere Fragen werden uns noch lange beschäftigen.
Auch China ist von der Krise betroffen, erholt sich aber bereits wieder. Chinesische Konzerne werden die Schwäche der europäischen Wirtschaft ausnützen wollen und versuchen, Unternehmen der Hi-Tech-Branche, deren Wert durch den Aktienkurs gesunken ist, billig zu übernehmen. Dagegen werden sich kleine europäische Volkswirtschaften nur schwer wehren können. Der Handel wird sich stärker ins Internet verlagern, was wiederum amerikanischen Konzernen wie Amazon nutzen wird. In Europa werden auf Dauer Arbeitsplätze wegfallen. Höhere Arbeitslosigkeit hat immer negative Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wir sind geradezu abhängig von ökonomischem Wachstum, niemand weiß, wie wir mit einer auf Dauer schrumpfenden Wirtschaft umgehen sollen.
Aber was sind die politischen Folgen? Angela Merkel hat in einer Regierungserklärung Mitte Juni 2020, knapp vor Übernahme der halbjährlichen EU-Präsidentschaft, vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gewarnt: „Wir dürfen nicht naiv sein. Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen, warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen.“ Als aus der AfD-Fraktion laute Zwischenrufe kamen, erwiderte sie: „Scheint sich jemand angesprochen zu fühlen.“
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trat ganz unverblümt auf und schaltete das eigene Parlament aus. Er werde mit Notverordnungen regieren, solange er wolle, ließ er wissen. Hat der Druck aus dem europäischen Ausland dafür gesorgt, dass Orbán Mitte Mai einige Bestimmungen zurückgenommen hat? Sicher ist, dass es ihm wichtig war, die Nachrichten darüber in der EU zu verbreiten. Dass Verschärfungen im Strafrecht bleiben, hat er nicht erwähnt.
Viktor Orbán und seine Brüder im Geiste wollen die Krise nutzen, um ein anderes Europa zu formen. Am 9. Juli veranstaltete der ungarische Ministerpräsident gemeinsam mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, dem slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša und François-Xavier Bellamy, einem französischen Abgeordneten der Republikaner, eine Videokonferenz unter dem Titel „Europa unzensuriert“. Dabei erklärte Orbán, die Zentraleuropäer sollten die „Westeners“ mit ihrem „semi-marxistischen Konzept“ auffordern, sie in Ruhe zu lassen. Die Forderung nach Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln ist auch für Janša „kultureller Marxismus“. Heftige Konflikte für den Juli-Gipfel waren da schon vorgezeichnet, die dann auch bei der Verteilung der Milliarden des EU-Aufbauplans ausgebrochen sind. Einige westliche Staaten wollten die Förderung an die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln binden. Orbán sprach nachher davon, dass es Versuche gab, ihn zu erniedrigen. Aber: „Ich habe den Stolz unserer Nation verteidigt.“ Der Stolz der Ungarn besteht also darin, den Rechtsstaat nicht mehr ernst zu nehmen? Wir wollen nicht glauben, dass das die Mehrheit der Ungarn so sieht.
In Österreich agierte die Regierung zunächst geschickt und band auch das Parlament ein, aber dass ausgerechnet ein grüner Gesundheitsminister, der durchaus sensible Rudi Anschober, eine Verordnung erließ, wonach geregelt wurde, wie viele Personen sich in Privathaushalten aufhalten dürfen, sorgte doch für eine böse Überraschung. Dass der österreichische Nationalrat in sehr schnell beschlossenen Gesetzen der Regierung Ermächtigungen erteilte, die in Friedenszeiten normalerweise undenkbar sein sollten, war notwendig, musste aber auch Misstrauen hervorrufen. Und erst recht, dass die Regierung Ausgangssperren verkündete, deren juristische Grundlagen fehlten. Am 15. Juni 2020 konfrontierte Armin Wolf Bundeskanzler Sebastian Kurz in der ZIB 2 mit der Tatsache, dass dieser ohne rechtliche Grundlage erklärt hatte, es gäbe nur vier Gründe, das Haus zu verlassen. Und dass Strafen verhängt wurden, die von den Verwaltungsgerichten später aufgehoben wurden. Das Land Niederösterreich hat sogar pauschal alle Strafen aufgehoben. Kurz dazu eher kleinlaut: „Das kann ich nicht beurteilen.“ Während der Pandemie hat er entschlossener geklungen. Krisen verführen von der Macht leicht zu Verführende.
Viele Regierungen verspürten auch die Versuchungen digitaler Kontrollmöglichkeiten. Wie tief diese Überwachung per Smartphone in China schon vor dem Virus gegangen war, haben die westlichen Medien schon länger verwundert beschrieben. Das könnte auch bei uns Alltag werden. Ebenfalls erschreckend: Die Grenzen, die es seit dem Schengen-Abkommen, erstmals vereinbart im Jahr 1985 und seither verfeinert, nicht mehr geben sollte, wurden dafür missbraucht, medizinisches Material zu blockieren. Eine Union, also der Zusammenschluss und gemeinsame Aktionen der Staaten, waren plötzlich die Ausnahme in Europa. 35 Jahre nach der Abschaffung der Schlagbäume existierte plötzlich wieder ein Europa der Grenzen.
Eine neue Generation von „starken Männern“
Ja, es geht – fast – nur um männliche Politiker. Wenn man von Wien in einige Staaten des Balkans blickt, dann entdecken wir Parallelen. Und es stellt sich immer stärker die Frage, was heute Menschen dazu bewegt, in die Politik zu gehen. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war das klar: Männer wie Adenauer oder De Gaulle wussten, dass ein neuerlicher Krieg den Kontinent und ihre beiden Länder endgültig zerstören würde. In Österreich hatten Leopold Figl oder der spätere ÖGB-Chef und Innenminister Franz Olah erlebt, wohin Hass führte. Im Konzentrationslager Dachau hatten sie Zeit, darüber zu reden. Das änderte nichts daran, dass sie einen klaren Kompass für ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen hatten und, ihrem inneren Kompass folgend, nach dem Krieg mit vielen anderen eine erfolgreiche Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat aufbauten.
Nun sind die Ausgangslagen am Balkan und in Österreich grundsätzlich verschieden, haben aber ähnliche politische Player hervorgebracht.
In Österreich ist mit Sebastian Kurz und seinem ihm ergebenen Umfeld, bestehend überwiegend aus jungen Frauen und Männern, eine ideologie- und ideenbefreite Generation angetreten, für die ein politisches Projekt lediglich die Funktion hat, eine Botschaft zu produzieren – und diese hat nur einen Zweck: Sie soll den Anführer in das bestmögliche Licht zu rücken. So lud der junge Kurz zum „24-Stunden-Verkehr“ mit der U-Bahn ein, weil das lässig klingt. Vor dem EU-Gipfel im Juli warnte er vor einer EU als „Schuldenunion“, um bestehende Ressentiments gegen Europa zu mobilisieren. Die ÖVP setzt eben auf die versprengten FPÖ-Wähler.