Helmut Brandstätter

Letzter Weckruf für Europa


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gesteuertes Missverständnis der nationalen Regierungen. Denn in vielen Fragen haben sie, die Staatsund Regierungschefs, die sich im Europäischen Rat treffen, die Entscheidungsgewalt. Aber wenn etwas nicht funktioniert, dann zeigen fast alle mit dem Finger auf Brüssel. Wenn es besonders schlicht hergeht, wird die Bürokratie verantwortlich gemacht, die zu kostspielig sei. Bei einer Sitzung des EU-Hauptausschusses im Jänner 2020 argumentierte Bundeskanzler Kurz, trotz Brexit würde die Brüsseler Bürokratie immer teurer. Er versuchte das auch mit Berechnungen zu unterlegen, die allerdings nicht stimmten. Fakt ist vielmehr: Die EU-Kommission muss für die nächsten sieben Jahre eine Steigerung der Verwaltungsausgaben um sieben Prozent kalkulieren, weil die Pensionskosten in den kommenden Jahren höher werden, wie auch in jeder nationalen Bürokratie. Für die Arbeit der Kommission wurde nur eine Steigerung um die Inflationsrate einberechnet. Seitenhiebe gegen „die Bürokraten in Brüssel“ waren und sind wir von der FPÖ oder der AfD gewohnt. Es ist erstaunlich, wie locker Kurz diese Sprüche übernimmt. Das war auch später so, als es um die Finanzierung des Recovery Programms nach der Pandemie ging (siehe Kapitel Geld, ab S. 85).

      Die Wahrheit ist, dass für alle EU-Institutionen rund 50.000 Menschen arbeiten, also ein Beamter auf rund 10.000 Einwohner kommt. Kurz sprach sich bei diesem EU-Hauptausschuss auch gegen eine Erhöhung der Mittel für die Forschung aus. Genau dort werden wir aber dringend mehr Geld brauchen. Umgekehrt argumentierte er, dass er die Landwirtschaft mit nationalen Mitteln unterstützen werde, wenn es wegen eines geringen EU-Budgets weniger Geld aus Brüssel geben sollte.

      Die EU ist praktisch für die nationale Politik. Wenn etwas schief geht, dann waren es „die in Brüssel“. Für Erfolge sind natürlich die eigenen hervorragenden Ideen und Handlungen zuständig. Diese Methode kann scheitern, wie wir beim Brexit gesehen haben. Premierminister David Cameron hat zwar gerne die Vorteile der EU betont, wenn er aber in seiner konservativen Partei unter Druck kam, hat er gegen Brüssel argumentiert. Beim Referendum wollte er dann eine Mehrheit erreichen, aber da waren „die Dämonen schon entfesselt“, wie in einem 2016 erschienenen, gleichnamigen Buch seines Pressesprechers Craig Oliver detailliert und eindrucksvoll geschildert wird. Wenn eine Institution immer für alles Negative verantwortlich ist, dann ist auch der Ruf nach der Beendigung eines solchen Verhältnisses verständlich.

      Aber ein Blick auf den Globus zeigt, dass auf der Welt nur noch Mitspieler ernst genommen werden, die stark und selbstbewusst auftreten. Großbritannien hat einen Vertrag mit China über die Freiheiten in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong. Die Führung in Peking missachtet dieses Abkommen seit kurzem geradezu provokant, zuletzt durch das sogenannte Sicherheitsgesetz. Wären die Briten Teil einer starken EU, dann würden die Chinesen in Hongkong wohl vorsichtiger agieren. Die Europäische Union muss sich der weltpolitischen Realität stellen, und zwar gemeinsam, mit allen Konsequenzen, bis hin zu einem starken militärischen Auftreten. Andernfalls wird die EU nicht mehr sein als eine Verbindung von ein paar wirtschaftlich stärkeren und einigen schwächeren Ländern mit wunderschöner Landschaft und wechselhafter, oft bedeutsamer Geschichte.

      Während der Corona-Krise haben die Regierungen der Länder überwiegend allein gehandelt. Gesundheit gehöre in ihre Kompetenz, hieß es immer. Wir befinden uns jedoch auch mitten in einer riesigen Wirtschaftskrise. Nur wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten glaubt, dass diese gemeinsam besser zu bewältigen ist, dann wird sich die EU verändern. Wenn nicht, dann kann sie zerfallen. Welche gefährlichen Konsequenzen das Ende der EU und der Zerfall Europas nicht nur für unseren Kontinent, sondern für die ganze Welt hätte, wird noch behandelt werden. Der Blick zurück zeigt uns jedenfalls, dass auf diesem Kontinent Großes erfunden und geleistet wurde, Konflikte in Europa aber immer gewaltsam ausgetragen wurden. Die Hoffnung lebt, dass wir aus der Geschichte gelernt haben.

      KAPITEL 3

      GESCHICHTE

      KRIEGE, FRIEDEN UND DAS SPIEL MIT EMOTIONEN

      In keinem anderen Kontinent sind auf so engem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Lebensweisen entstanden, keine Gegend auf der Welt wurde so oft von Völkerwanderungen verändert. Das günstige Klima und die vielen miteinander verbundenen Wasserstraßen haben diese Mobilität begünstigt. Später sind von hier aus Forscher und Abenteurer in großer Anzahl aufgebrochen, um die ganze Erde zu entdecken, immer neugierig, manchmal aber auch nur gierig.

      Aber seit Menschen in Europa lebten, wurde hier Krieg geführt: um Raum für den Anbau von Lebensmitteln, später um Grenzen, Religionen oder einfach zur Demonstration von Macht. Schon Ausgrabungen aus der Steinzeit erzählen von grausamen Auseinandersetzungen bis hin zum Kannibalismus. Vor 45.000 Jahren kam der Homo Sapiens nach Europa; vor 8.000 bis 9.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft, lebte von Ackerbau und Viehzucht und verwendete keramische Gerätschaften. Seit dieser Zeit, der sogenannten neolithischen Revolution, sind die ältesten bäuerlichen Kulturen in Mitteleuropa nachweisbar. In Herxheim in der Pfalz fand man etwa 450 Schädel, Zeugen roher Gewalt, die rund 5.000 v. Chr. ausgeübt wurde. Zur gleichen Zeit gab es in Niederösterreich das „Massaker von Schletz“. In Aspern an der Zaya wurden die Überreste von rund 200 Menschen gefunden, die durch Hiebe auf den Kopf getötet worden waren, wie die Schädelfunde zeigen.

      Gründe für einen Krieg gab es immer. Erst vor wenigen Jahren wurden am Ufer des Flusses Tollense im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen gefunden, die in der Bronzezeit stattgefunden hatten. Archäologen haben anhand der Knochenfunde eruiert, dass hier um 1.300 vor Christi Geburt rund 5.000 Menschen mit Schwertern und Pfeilen aus Bronze zu Fuß und auf Pferden miteinander gekämpft haben. Damals veränderte sich das Klima, die Lebensbedingungen im Norden wurden schlechter, Ressourcen entsprechend knapp. Bei diesem Krieg ging es also offenbar noch um das nackte Überleben eines Stammes; später schickten Herrscher ihre Untertanen aus reiner Machtgier auf die Schlachtfelder, oft verbrämt durch angebliche religiöse Ziele, fanatisiert durch nationalistische Gesänge oder eingebildete „rassische“ Überlegenheit. Von 7.000 v. Chr. bis ins Jahr 2001, als die Jugoslawienkriege zu Ende ging, sind Menschen in Europa also gewaltsam gegeneinander vorgegangen, und schon während der Friedensverhandlungen wurde meistens die nächste Schlacht vorbereitet.

      Der Sprecher des österreichischen Bundesheeres, Oberst Michael Bauer, kam irgendwann auf die Idee, auf der Plattform Twitter, wo Streit auch nicht immer zivilisiert abläuft, mit historischen Friedensschlüssen für historische Bildung zu sorgen. Der erste belegte Friedensvertrag geht auf das Jahr 2.740 v. Christus, auf das Sumererreich zurück, das erste Friedensabkommen in Europa wurde 449/448 v. Chr. geschlossen: der Kalliasfrieden zwischen dem Attisch-Delischen Seebund und dem persischen Achämenidenreich, das nach Europa expandiert war. Der griechische Heerführer Kallias und König Artaxerxes beendeten dadurch die Perserkriege, vorläufig zumindest. Alexander der Makedonier marschierte 334 v. Chr. wieder gegen die Perser und wurde durch die vielen Kriege in seinem kurzen Leben zu Alexander dem Großen. Der jüngste Friedensvertrag, paraphiert am 21. November in Dayton, Ohio, und unterzeichnet am 14. Dezember 1995 in Paris, beendete die Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien.

      Der Holocaust veränderte (vorerst) alles

      In den Ersten Weltkrieg waren die europäischen Großmächte und ihre Führer, die noch dazu großteils miteinander verwandt waren, wie Schlafwandler getaumelt, so der Titel des Buches des Historikers Christopher Clark aus dem Jahr 2012. In über vier Jahren starben 17 Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern und Zivilisten an den Kriegsfolgen. Im November 1918 sah die Welt anders aus, drei Reiche waren untergegangen, das des Zaren, das der Habsburger und das der Hohenzollern. Die Friedensverträge, geschlossen in den Pariser Vororten, wollten mehr bestrafen als befrieden. Manche Historiker sehen die Zeit von 1914 bis 1945 wie einen großen Krieg, aber Hitler wollte mehr als die Revanche für einen ungerechten Frieden, er wollte auch mehr als „Lebensraum im Osten“. Die Vernichtung des Judentums war sein Ziel, und deren Durchführung war so erschreckend genau geplant wie der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn. Die Amerikaner kamen spät, aber sie kamen. Den Holocaust konnten auch