andere Völker, die seit dem Krieg von sowjetischen Panzern beherrscht waren, lehnten sich auf. Am 7. Oktober 1989 beobachte ich in Ost-Berlin die offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik. Unweit des Alexanderplatzes war eine riesige Tribüne aufgebaut, von wo aus der damals 77-jährige Staatschef Erich Honecker gemeinsam mit den anderen überwiegend greisen Mitgliedern des Politbüros und dem vergleichsweise jugendlichen sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow die Militärparade beobachtete. Auf der ehemaligen Stalinallee, die seit Herbst 1961 Karl-Marx-Allee hieß, demonstrierten Panzer sowjetischer Bauart die Macht des Militärs im „Arbeiter- und Bauernstaat“, tausende Soldaten marschierten im Stechschritt nach dem Vorbild preußischer Exerzierregimenter an den kommunistischen Führern vorbei. Ich stand ganz vorne, nahe dem Alexanderplatz, von wo auch viele Ost-Berliner die Szene mitverfolgten. Da trat ein DDR-Bürger einen Schritt nach vorne, an einen abgesperrten Bereich heran. Ein Volkspolizist wies ihn rüde an, wieder auf den Gehsteig zurückzugehen. Der Mann sah den Uniformierten an und fragte: „Warum?“ Das war eine Revolution im Kleinen, der Polizist schaute verwundert und drehte sich um. Als ob er geahnt hätte, dass das Geschehen nur mehr der letzte Akt einer schlechten Show war, die verzweifelte Farce einer Führung, die nur mehr wenige Wochen existieren würde.
In diesem Herbst des Jahres 1989 veränderte sich ganz Europa. Östlich des Eisernen Vorhangs ganz radikal, im Westen zunächst unbemerkt. Mauer und Stacheldraht hatten auch dazu geführt, dass viele Menschen im Westen nur wenig über das Leben jenseits der Todesstreifen wussten. Am Balkan machten sich die ersten Vorboten nationaler Konflikte bemerkbar, die in blutige Kriege münden sollten. Und es ging alles sehr schnell: in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der ČSSR – die Tschechoslowakische Sozialistische Republik der Tschechen und Slowaken –, Estland, Lettland, Litauen.
Bereits am 10. November 1989, einen Tag nach Öffnung der Berliner Mauer, musste Todor Schiwkow als Generalsekretär der kommunistischen Partei Bulgariens zurücktreten. Er war seit 1954 im Amt gewesen. In Rumänien wollte Nicolae Ceaușescu beweisen, dass er sich zurecht Titel wie „das Genie der Karpaten“ oder „Sohn der Sonne“ verliehen hatte und glaubte, mit Hilfe des Geheimdienstes Securitate den Sturm der Demokratisierung des Ostens zu überleben. Nach kurzem Prozess wurden der Diktator und seine Frau Elena, laut Propaganda eine „Gelehrte von Weltruhm“, am 25. Dezember 1989 standrechtlich erschossen. Fotos und Videos sollten den Tod der beiden beweisen. In Ungarn fanden am 25. März 1990 die ersten freien Wahlen statt, Regierungschef wurde der Christdemokrat Joszef Antall. In Estland erklärte der Oberste Rat der Estnischen Sowjetischen Sozialistischen Republik unter dem Vorsitzenden Arnold Rüütel ausgerechnet am 8. Mai 1990, 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, seine erneute Souveränität von der Sowjetunion. Ab sofort nannte sich das Land Republik Estland, eine Bezeichnung, die 1991 zusammen mit den ebenfalls wieder unabhängigen Ländern Litauen und Lettland durchgesetzt wurde.
In Mittel- und Osteuropa waren die nationalen Zusammensetzungen und Grenzen weitgehend unbestritten, nur Tschechen und Slowaken gründeten am 1. Jänner 1993 ihre eigenen Staaten, nachdem sie sich zuvor mit einer Föderation geplagt hatten.
Die glücklichste Generation – in Westeuropa
Ich verfolgte diese Entwicklungen beruflich als Journalist – bis Jänner 1991 als Korrespondent in Deutschland und anschließend als Chef der politischen Magazine und Dokumentationen im ORF in Wien –, aber im Herzen vor allem auch als glückliches Nachkriegskind.
Meine Generation ist aufgewachsen mit dem Erlebnis des ständig zunehmenden, unbeschränkt scheinenden Wachstums. Alles wurde mehr, zunächst einmal der Wohlstand. Auch in Mittelklassenfamilien waren in meiner Kindheit Süßigkeiten noch eine Besonderheit, etwa, wenn jemand zu Besuch kam. Oder Fleisch, das es meistens nur am Sonntag gab. Eine Woche Ferien am Faaker See waren ein Ereignis, zwei Wochen in Lignano Luxus. Aber im Rückblick waren nicht die materiellen Erfahrungen so wichtig, sondern der spürbare Zuwachs an persönlicher Freiheit. Wir waren die erste Generation, die an den Universitäten mitbestimmen durfte, nach dem Universitätsorganisationsgesetz der SPÖ-Alleinregierung im Jahr 1975, damals zum großen Ärger der Professoren. Dabei war es der junge ÖVP-Unterrichtsminister Alois Mock gewesen, der schon im Jahr 1969 die Mitbestimmung in den Studienkommissionen eingeführt hatte. Ausgerechnet die schwarz-blaue Regierung Schüssel hat im Jahr 2000 die Mitbestimmung zurückgenommen. Dazu kam, dass meine Generation leichter im Ausland studieren konnte. Und schließlich waren wir dabei, als sich die Freiheit in ganz Europa ausbreitete. Was für ein Erlebnis für uns, was für eine Chance für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger!
Die neue Freiheit führte zur Öffnung der Grenzen, und die EU war und soll Garant dafür sein, dass die Europäer nicht mehr gegeneinander Krieg führen werden. Diese Hoffnung bewegt mich bis heute. Was für ein Glück haben wir gehabt, dass wir nach dem schrecklichsten aller europäischen Kriege geboren wurden. Doch das bringt eine riesige Verantwortung mit sich, die niemals selbstverständliche Errungenschaft der Freiheit und des Friedens für die nächsten Generationen zu erhalten.
Jedes Volk muss mit seiner Geschichte leben, deshalb ist es so wichtig, dass wir sie kennen. Die Lehren der Geschichte strahlen stets länger in die Politik und das Zusammenleben in der Gegenwart aus, als den Nachgeborenen lieb sein kann. Denn es ist nicht immer einfach, die Traumata und Verwundungen, die aus der Vergangenheit herüberstrahlen, zu verstehen. Wir Österreicher wissen um die manchmal noch spürbaren Auswirkungen unseres Bürgerkriegs des Jahres 1934. Die oft zum Hass gesteigerte Abneigung zwischen „Schwarzen“ und „Roten“ macht sich zum Teil bis heute bemerkbar. Dazu kommt, dass viele unserer Vorfahren wenig heldenhaft und sicher auch verblendet ihre Grenzen, Plätze und Herzen öffneten, als Adolf Hitler am 12. März 1938 einmarschierte und sich die Opportunisten aller Lager mit den braunen Horden verbrüderten. Aus dem bereits latenten widerlichen Antisemitismus des Alltags in Österreich wurde der mörderische in der Ostmark. Carl Zuckmayer schildert in seiner Autobiografie, dass er sowohl die ersten Tage der Nazi-Herrschaft in Berlin Ende Jänner 1933 als auch den Einmarsch Hitlers in Wien erlebte und wie er den Unterschied zu Berlin sah: „Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. […] Was hier in Wien entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“ Die 1930er Jahre hatten Not und Armut gebracht, auch in Österreich, aber es waren nicht nur die Hungernden und Arbeitslosen, die ihre jüdischen Nachbarn plötzlich quälten, verhöhnten und schließlich ermordeten. Es waren auch Juristen und Ärzte dabei, die zunächst auf den Straßen Wiens Juden erniedrigten und dann in den Konzentrationslagern über Leben und Tod entschieden.
Österreich hat nach Krieg und Shoah länger gebraucht als Deutschland, um sich zu den Verbrechen der Hitlerzeit zu bekennen. Dort wiederum zeigte die AfD in den letzten Jahren ganz offen, dass sie die bisherige Einigkeit der deutschen Politik, den Holocaust als einmaliges Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu sehen und zu verurteilen, nicht mittrug. Nein, die Nazi-Zeit war kein „Vogelschiss der Geschichte“, wie AfD-Chef Gauland bewusst verharmlosend meinte.
Wir haben unsere Freiheit – sowohl in Deutschland als auch in Österreich – von den Alliierten geschenkt bekommen. Oder, um es ganz menschlich zu sagen: von den Soldaten, die für unsere Befreiung gekämpft haben. An dieser Stelle muss ich an den wunderschönen Strand in Rayol – Canadel-sur-Mer unweit von St. Tropez denken. Dort kann man einen herrlichen Urlaub verbringen. Aber wer mit offenen Augen über die kleine Landstraße oberhalb des Strandes geht, sieht dort eine Gedächtnisstelle für die Gefallenen des Afrika Kommandos, das am 15. August 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni, den Süden Frankreichs befreite. Dort wird mit weißen Kreuzen einiger christlicher französischer Soldaten gedacht, die bei der Landung am Strand gefallen sind, aber maurische Figuren erzählen auch von muslimischen Uniformierten in den Reihen der Befreier.
Rückfall in den Nationalismus
Aber zurück zur Befreiung der Jahre 1989/1990, zu dieser friedlichen Revolution: Unsere östlichen Nachbarn mussten nach der Teilung Europas allzu lange auf der stalinistischen, und nach Stalins Tod auf der sowjetischen Seite der Geschichte leben. Und sie haben sich auf unterschiedliche Weise vom Joch der Unterdrückung,