Helmut Brandstätter

Letzter Weckruf für Europa


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Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, die im Einklang mit diesem Vertrag eine einheitliche, stabile Währung einschließt,

      IN DEM FESTEN WILLEN, im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts sowie der Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker zu fördern und Politiken zu verfolgen, die gewährleisten, dass Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf anderen Gebieten einhergehen,

      ENTSCHLOSSEN, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen,

      ENTSCHLOSSEN, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern,

      IN BEKRÄFTIGUNG ihres Ziels, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch die Einfügung von Bestimmungen über Justiz und Inneres in diesen Vertrag zu fördern,

      ENTSCHLOSSEN, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen,

      IM HINBLICK auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben.

      Man muss diese Präambel mehrfach und genau lesen, da sie sehr differenziert formuliert ist. Entschlossen waren die Unterzeichner bei der Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit einer „stabilen Währung“, bei der „Unionsbürgerschaft“, dem „Subsidiaritätsprinzip“ und einer „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“. Eine „gemeinsame Verteidigung“ wurde schon unter Vorbehalt genommen, dazu „könnte“ es kommen. Wobei der Nutzen einer gemeinsamen Verteidigung klar beschrieben wird: „Die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern.“ Das sollten wir tun, aber davon sind wir weit entfernt. So sind wesentliche Fortschritte, die für die EU überlebenswichtig sind, nur mit der Formulierung „in dem Wunsch“ eingeleitet: „Solidarität zwischen den Völkern unter Achtung der Kultur und der Geschichte“ sowie der „Ausbau der Demokratie“.

      Immerhin, im Vertrag von Maastricht geht es nicht mehr nur um einen gemeinsamen Markt, um den Abbau von Zöllen oder Bewegungsfreiheit. Nein, hier werden die Grundlagen des Zusammenlebens für alle Bürgerinnen und Bürger genannt, wenn schon nicht in einem Staat, so doch in einer „Union der Völker Europas“: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und die Angleichung der Volkswirtschaften sind mehr als nur ein Ziel, diese Werte sind das Motto für ein grenzenloses Leben und Arbeiten. Außerdem wird die Achtung der unterschiedlichen Geschichte der Völker und die Stärkung der Kultur und der Traditionen proklamiert. Und schließlich ist der Vertrag von Maastricht auch die Grundlage für die Einführung einer gemeinsamen Währung, die auf der gemeinsamen Verpflichtung von Höchstgrenzen für die Defizite und die Verschuldung der Staaten beruhen soll.

      Die Geschichte des Euro

      Der Vertrag von Maastricht wurde im Februar 1992 in der holländischen Stadt unweit der deutschen Grenze im Februar 1992 unterzeichnet und trat im November 1993 in Kraft. Über eine gemeinsame Währung wurde allerdings schon seit vielen Jahren gesprochen. Der Luxemburger Ministerpräsident Pierre Werner hatte dazu bereits 1970 einen Bericht vorgelegt. Und auch in Deutschland, wo die harte D-Mark nach den Erfahrungen der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zum Gründungsmythos und Erfolg der Bundesrepublik gehörte, war die gemeinsame Währung schon länger vorstellbar. Außenminister Genscher sprach ab 1987 über eine Währungsunion, durchaus unterstützt von Bundeskanzler Kohl. Die konkrete Idee der gemeinsamen Währung ist also sehr viel älter als die deutsche Wiedervereinigung. Das ist wichtig zu erwähnen, weil immer wieder behauptet wird, der Euro sei der Preis, den François Mitterand für die deutsche Einheit verlangt habe. Umgekehrt ist es richtig: Die Regierung in Bonn plante die Währungsunion schon länger, wobei den Deutschen die Zusage, nicht für die Schulden anderer haften zu müssen, zentral war. Dieses Thema tauchte im Frühjahr 2020 im Zusammenhang mit möglichen Corona-Bonds auf (mehr dazu im Kapitel Geld ab S. 85). Eine klare Schwäche aber hatte die geplante Währungsunion von Anfang an: Die notwendige Position eines europäischen Finanzministers mit Verantwortung für ein gemeinsames EU-Budget gibt es bis heute nicht.

      Auch die politische Union war im Sinn von Kohl und Genscher. Aber wie diese weiter ausgebaut werden würde, verbunden mit Verfassungsänderungen in allen Mitgliedstaaten, war in Maastricht nicht klar. Der Vertrag definiert es auch nicht konkret. Die logische Konsequenz, ein föderales Europa mit einer Zentralregierung und Kompetenzen in den Ländern, traute sich niemand zu formulieren. Der britische Historiker Ian Kershaw spielt in seinem bereits zitierten Buch Achterbahn auf die Geschichte an: „Wie hochherzig die Vision (einer politischen Union) auch war – die zu einem guten Teil eine Reaktion auf die dunkle Vergangenheit Deutschlands darstellte und Kohls starkes persönliches Streben widerspiegelte, die nationalistischen Dämonen, die das Land einst in den Abgrund geführt hatten, für immer auszutreiben – sie hatte nie die geringste Chance, Wirklichkeit zu werden.“ Aus vielen persönlichen Gesprächen mit Helmut Kohl weiß ich, wie wichtig ihm die Einbindung Deutschlands in Europa war. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass er sogar ein gewisses Misstrauen gegen seine Landsleute hegte, dass er eine Rückkehr der „nationalistischen Dämonen“, wie Kershaw sie nennt, nicht ausschloss.

      Der Vertrag von Maastricht kam in einer Phase, in der die westeuropäischen Staaten nach dem Ende des Ostblocks ihr politisches System bestätigt sahen: Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft gehören untrennbar zusammen und sind Garant für den Wohlstand. Es war auch klar, dass die ehemaligen kommunistischen Staaten das machen würden, was sie schon nach 1945 gerne gemacht hätten, nämlich dieses System zu übernehmen, weil es mehr Wohlstand versprach. Da ist es nur verständlich, dass Zeitdauer und Kosten dieser grundlegenden Veränderungen unterschätzt wurden. Am Abend des 2. Dezember 1990, nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, die Helmut Kohl einen großen Sieg brachte, führte ich ein Interview mit dem Intellektuellen der SPD, Peter Glotz. Er meinte damals, dass Kohls Wahlversprechen von den „blühenden Landschaften im Osten“ nicht so leicht zu erfüllen sein wird. Aber, so Glotz: „Wir werden das insgesamt schaffen, auch wenn es sechs oder sieben Jahre dauern wird.“ Da war der Skeptiker Glotz viel zu optimistisch, wie wir heute wissen.

      Der lange Weg zum Brexit

      Der Vertrag von Maastricht hat in einigen Ländern zu einer heftigen Debatte darüber geführt, wie viel Souveränität die nationalen Regierungen und Parlamente in die Union übertragen wollen, vor allem in Großbritannien. Dass die Briten weder das Pfund gegen den Euro noch ihre Bank of England gegen die Europäische Zentralbank austauschen würden, war klar. Aber die Briten waren nie so stark, wie sie gerne wären. Am „Schwarzen Mittwoch“, dem 16. September 1992, mussten sie aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus aussteigen. Sie konnten das Pfund nicht mehr ausreichend stützen. Weder Tony Blair, ab 1997 sozialdemokratischer Premierminister des „Dritten Weges“, noch seine Nachfolger Gordon Brown und der konservative David Cameron schafften es, die Stimmungsmache gegen Europa in ihren Parteien und vor allem in den Boulevardmedien einzufangen. Cameron wollte sein Heil in einem Referendum am 23. Juni 2016 suchen, da die Umfragen seit Jahren eine knappe Mehrheit für einen Verbleib in der EU signalisierten. Aber nicht einmal alle seine Minister argumentierten gegen den Austritt: Justizminister Michael Gove warb für den Austritt, Innenministerin Theresa May verdiente sich den Spitznamen „U-Boot“, niemand wusste, wofür die spätere Premierministerin stand. Cameron verlor und trat zurück.

      Der Brexit hat viel mit den Lügen von Nigel Farage mit seiner Partei