sie bewundern müssen. Aber warum erleben wir dort seit einigen Jahren den Rückfall in den Nationalismus? Das Phänomen ist überall zu beobachten, und es gibt dazu inzwischen unterschiedliche Erklärungsversuche, die darauf gründen, dass wir mitten in einer technologischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung stehen, die weit über Europa hinausgeht. Das ist schon ein Teil der Erklärung: Diese vielfältigen Veränderungen machen Angst. Da liegt der Rückzug in das Vertraute, und das ist auf verführerische und trügerische Weise auch die Nation, durchaus nahe.
Heute, 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und nachdem die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) den ewigen Frieden ausgerufen hat, leben wir plötzlich wieder mitten in einem nationalistischen Gepolter, das sich durch ganz Europa bis in kleine Regionen zieht. Der Ton wird lauter und aggressiver. Institutionen, die für das Gemeinsame stehen, wie die Europäische Union, werden von den Rechten diffamiert. Selbst gemäßigte Politiker gehen auf Distanz zur EU, um bei nationalen Wahlen zu punkten. Wird aus Nationalismus wieder Chauvinismus, die Verachtung der anderen? Da werden wir sehr genau hinschauen und hinhören müssen.
Die Rolle des Staates
Aber nicht nur die komplizierte und kriegerische Geschichte macht das Zusammenleben in Europa schwer, auch der Blick der Bürger auf den Staat und andere Autoritäten unterschiedet sich massiv zwischen Palermo und dem Polarkreis, zwischen Lissabon und Limassol. Viele Italiener sehen den Staat als Einrichtung, gegen die man sich zur Wehr setzen muss, zumindest, indem man ihm die Steuern vorenthält. Deutsche wollen korrekt sein, Österreicher neigen mit der Habsburger-DNA im Blut zu einer beachtlichen Hörigkeit gegenüber Obrigkeiten. In Ländern des ehemaligen Ostblocks reagieren Menschen auf Anweisungen aus Brüssel skeptisch, weil sie früher von einer anderen, fernen Zentrale gesteuert wurden. Franzosen wehren sich gegen Präsidenten, denen sie aber eine fast imperiale Ausstattung zugestehen, und in Großbritannien ist persönliche Freiheit traditionell ein wichtigerer Wert als in den anderen europäischen Staaten. Das klingt klischeehaft, ließ sich aber auch in der Corona-Krise verfolgen, wobei Boris Johnson mit seiner freizügigen Strategie gegen das Virus erfolglos blieb.
Überall haben Politikerinnen und Politiker ein Gespür, die nationalen Emotionen anzusprechen. Und wenn es einen Außenfeind gibt, dann sind plötzlich auch Grenzen willkommen. Nationale Grenzen helfen allerdings nicht gegen ein Virus, regionale Blockaden schon eher.
Der britische Historiker Ian Kershaw nennt in seinem 2018 erschienenen Buch Achterbahn – Europa 1950 bis heute die Europäische Union eine „Kompromissfabrik“. Ihre Schwungräder und Kurbelwellen bewegen sich langsam. Kershaw: „Das System ist nicht für Tempo und Dynamik gemacht, sondern dafür, zu verhindern, dass eine Macht die Vorherrschaft erreicht.“ Andere verglichen die EU mit der Springprozession im luxemburgischen Echternach: zwei Schritte vor, einer zurück. Viele Krisen wurden aber so bewältigt, und dass kein Land in Europa die anderen dominiert, ist das Erfolgsgeheimnis. Im Vertrag von Maastricht haben sich die damals zwölf Mitgliedsländer verpflichtet, die Gemeinschaft zu einer politischen Union auszubauen. Alle Staaten, die seither beigetreten sind, haben diese Verpflichtung übernommen. Die Europäische Union hat also alle Grundlagen, um gemeinsam durch diese Krise zu kommen, wenn die Nationalstaaten nur wollen. Und wenn diese so entschlossen sind, wie sie es im Vertrag von Maastricht vereinbart haben.
KAPITEL 4
ENTSCHLOSSEN
MAASTRICHT BRACHTE DIE UNVOLLENDETE UNION
Entschlossen – dieses ausdrucksstarke Wort steht gleich fünfmal in der Präambel des Vertrages von Maastricht. Er wurde am 7. Februar 1992 in der niederländischen Stadt unterschrieben und sollte die zwölf Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in eine Union für gemeinsames Handeln nach innen und außen weiterentwickeln, was in wichtigen Bereichen auch gelang. Aber von dieser geforderten Entschlossenheit war vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie so gar nichts zu spüren.
Nun kann es für eine weltweite Seuche keinen günstigen Zeitpunkt geben, aber im Frühjahr 2020 erwischte das Corona-Virus ganz Europa zu einem besonders heiklen Zeitpunkt. Es war genau 30 Jahre her, dass nach dem Zerfall des Sowjetblocks und der darauffolgenden Unabhängigkeit der 15 Sowjetrepubliken überall in Osteuropa demokratische Regime entstanden. Erst vor 30 Jahren wurde in Europa der Zweite Weltkrieg durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag offiziell beendet, Vertreter der beiden deutschen Staaten und der vier Alliierten unterzeichneten am 12. September 1990 in Moskau diesen Vertrag. Erst jetzt war Deutschland ein souveräner Staat, die vier Siegermächte hatten ihre Rechte aufgegeben. Endlich durften die Menschen in den beiden bis zum Mauerfall verfeindeten deutschen Staaten ihre Wiedervereinigung feiern. Aber 30 Jahre nach diesen weltpolitisch überraschenden und so erfreulichen Ereignissen befindet sich die Europäische Union bereits seit Jahren in einer tiefen Krise. Diese zeigt sich unter anderem darin, dass Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in ehemals kommunistischen Ländern eingeschränkt wurden. Journalisten und Richter geraten in einigen Staaten unter Druck, statt der Betonung der Menschenrechte hören wir in einigen Staaten wieder völkische Parolen rechtsextremistischer Gruppen, in Ungarn sogar von der Regierung. Bei der Art, wie nach dem Austritt der Briten aus der Union über das Budget der nächsten sieben Jahre gestritten wurde, war der Geist von Maastricht auch nicht zu spüren. Der Brexit wurde zwar am 31. Jänner 2020 vollzogen, aber das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien ist nach wie vor nicht geklärt. Immerhin: Vielen Briten wurde während der Corona-Krise klar, dass ein funktionierender Handel mit dem Kontinent gerade in schwierigen Zeiten überlebenswichtig ist.
Der heftig ausgetragene Streit zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen den „frugalen Vier“, also Dänemark, Holland, Österreich, Schweden auf der einen und dem Rest der EU auf der anderen Seite, war und ist ein Symbol für das Auseinanderdriften einer Staatengemeinschaft, die erst 2013 durch die Aufnahme Kroatiens auf 28 Mitglieder angewachsen und durch den Brexit wieder auf 27 geschrumpft ist. Über Geld wurde in der Union immer gestritten, wobei die Lösung in Zeiten von Helmut Kohl und Maggie Thatcher einfacher war. Die Britin rief „I want my money back!“ und der Deutsche hatte immer das Scheckbuch dabei, durchaus zum Vorteil der starken, exportorientierten Industrie der Bundesrepublik.
Die Werte der Union klingen wunderbar
Die Konflikte, die vor der Corona-Krise virulent geworden waren, lassen sich aber nicht mit Geld allein beseitigen, denn es geht plötzlich um das Wertefundament Europas. Werte? Sind sich alle Regierungen einig darüber, auf welchen Fundamenten Europa nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts errichtet wurde? Theoretisch vielleicht, aber die national befeuerten Emotionen, aus denen wieder ein völkischer Furor werden könnte, spielen eine immer größere Rolle. Dabei haben alle Länder, die später in mehreren Wellen der Europäischen Union beigetreten sind, den Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Mit diesem haben im Februar 1992 die zwölf damaligen Mitglieder Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Großbritannien die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union weiterentwickelt. Und zwar mit vielen Werten, Grundsätzen und sich daraus ergebenden Verpflichtungen. Die Länder erklärten in Maastricht, eine Europäische Union zu gründen, und zwar
ENTSCHLOSSEN, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben,
EINGEDENK der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen,
IN BESTÄTIGUNG ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit,
IN DEM WUNSCH, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken,
IN DEM WUNSCH, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage