Helmut Brandstätter

Letzter Weckruf für Europa


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Österreich hat spät, aber doch Verantwortung übernommen. 70 Millionen Tote kostete der Zweite Weltkrieg, 6 Millionen Juden wurden ermordet, zum Teil nach schrecklichen Qualen in den Vernichtungslagern, aber auch nach erniedrigenden Aktionen durch Zivilisten. Es ist und bleibt ein großes Wunder, dass die Todfeinde vieler Jahrhunderte schon kurz nach dem Krieg mit dem größten Friedenswerk der europäischen Geschichte begannen, indem sie die Verfügung über Kohle und Stahl unter eine gemeinsame Verwaltung stellten. Seither ist Versöhnung ein großes europäisches Thema, mit dem sich freilich viele am Balkan noch schwertun.

      Der Zerfall Jugoslawiens: Kein Ende der Geschichte

      Die Jugoslawien-Kriege zeigten, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie nicht das Ende der Geschichte gekommen war, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama geschrieben hat. In einem Essay aus dem Jahr 1989 und seinem berühmt gewordenen Buch mit ebendiesem Titel drei Jahre später stellte er die These auf, dass sich liberale Demokratie und Marktwirtschaft endgültig durchgesetzt hätten. Immerhin, im November 1990 wurde die Charta von Paris unterzeichnet. Darin riefen die Staaten Europas, die auf ihren Territorien nicht nur eigene Massenvernichtungswaffen, sondern auch Bomben und Raketen der Russen und Amerikaner stationiert hatten, den ewigen Frieden für den kriegerischen Kontinent aus. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die seit November 1972 in Helsinki an der Respektierung von Staaten, Grenzen, aber auch Menschenrechten arbeitete, war damit nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall des Ostblocks zu ihrem friedlichen Ende gekommen.

      Umso ernüchternder waren die Jugoslawien-Kriege, die im Sommer 1991 in Slowenien mit dem 10-Tage-Krieg begannen und erst 2001 mit dem albanischen Aufstand in Mazedonien endeten. Die Zahl der Toten in diesen blutigen Bürgerkriegen wird auf rund 200.000 geschätzt. 2,4 Millionen Menschen flüchteten vor Verfolgung aus ihrer Heimat, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden vor einem internationalen Strafgerichtshof verhandelt, Täter wurden abgeurteilt. Viele Wunden sind auch heute noch offen, wie man bei jedem Gespräch in einem der betroffenen Länder erfährt. Wir müssen es so klar aussprechen: Krieg am Balkan kann es wieder geben. Unverbesserliche Nationalisten sprechen bereits von Grenzverschiebungen und dem Austausch von Bevölkerungsgruppen. So etwas geht nie friedlich. Und alle schauen weg. Ja, die Sonntagsreden gibt es, in denen für die Aufnahme der Westbalkanländer in die EU geworben wird. Und dann blockierte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Herbst 2019 die Aufnahmegespräche mit Albanien und Nordmazedonien. Angeblich war er beleidigt, weil seine Kandidatin für die EU-Kommission nicht akzeptiert wurde. Auch das ist Europa. Aber im Frühjahr 2020 gab es eine Wendung zum Positiven. Am 24. März beschlossen die EU-Staaten die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit den beiden Ländern.

      Orbáns Spiel mit der Geschichte

      Traumatische historische Ereignisse und das politische Spiel mit ihnen können die Wurzel für neue Konflikte werden. Das weiß ein Politiker wie Viktor Orbán, der die Geschichte seines Landes massiv für nationale Aufwallungen einsetzt wie kein anderer in Europa. Das Lustschloss Grand Trianon, das Ludwig XIV. im Park von Versailles erbauen hatte lassen, werden viele Ungarn nie persönlich gesehen haben, aber sie wissen, dass dort nach dem Ersten Weltkrieg, am 4. Juni 1920, ein Vertrag unterzeichnet wurde, der aus dem Königreich Ungarn einen deutlich kleineren Staat machte. Mit diesen „Pariser Vorortverträgen“ wurde der Erste Weltkrieg in aller Form beendet, auch mit einer Unterschrift der ungarischen Regierung, die damit auf zwei Drittel der Fläche des einstigen Königreiches zugunsten der Nachbarstaaten verzichtete. Zuvor hatten Tschechen und Slowaken die tschechoslowakische Republik ausgerufen, Siebenbürgen war Rumänien zugeschlagen worden und in Zagreb hatte sich der Staat aus Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Für die Ungarn war es extrem schmerzvoll, dass sie auch Gebiete hergeben mussten, in denen sie die Mehrheitsbevölkerung stellten. 3 Millionen Ungarn lebten fortan außerhalb der neuen ungarischen Grenzen, wo noch rund 7,6 Millionen ihr Zuhause hatten.

      Es gibt eine eigene „Trianon-Forschungsgruppe“, deren Leiter Balázs Ablonczy in der Budapester Zeitung die Bedeutung des Wortes Trianon in einem Interview sehr anschaulich erklärte: „In Ungarn gibt es über Trianon – wie bei anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts auch – mehrere Erinnerungen, die grundsätzlich sehr politisch geprägt sind. Man denkt darüber auf der linken Seite anders als auf der rechten, daneben gibt es auch eine liberale und eine rechtsradikale Auffassung, die meistens unversöhnbar miteinander sind. Oft habe ich das Gefühl, dass Trianon in Ungarn gar nicht der Name des Friedensvertrags ist, denn wenn jemand darüber redet, spricht er nicht über den Vertrag, sondern über all das Übel und Unglück, das uns widerfahren ist. Ein Beispiel: Ich kam gestern am Flughafen an und auf dem Nachhauseweg fragte mich der Taxifahrer, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich sagte, dass ich auf einer Konferenz über die Friedensverträge in Paris war, woraufhin er sofort drauflosredete, aber nach drei Sätzen sprach er überhaupt nicht mehr von Trianon, sondern darüber, wie schwer das Leben heutzutage ist und ob es vor der Wende besser war oder nicht. Das meine ich, wenn ich sage, dass Trianon der Name einer Tragödie ist.“

      So wird aus einem hundert Jahre zurückliegenden Ereignis eine Projektionsfläche für aktuelle persönliche Probleme. Das ist auch deshalb möglich, weil in der kommunistischen Zeit das Thema Trianon tabuisiert war. Im Ostblock mussten alle Staaten „sozialistische Bruderländer“ sein, da durfte Nationalismus keine Rolle spielen. Offiziell. Der Schmerz, den viele Ungarn spürten, auch weil ihnen die Behandlung der ungarischen Minderheit in anderen Staaten nicht gefiel, wurde verdrängt. Und kann heute umso massiver missbraucht werden.

      Viktor Orbán spielt lustvoll mit dem Mythos Trianon und wird dabei auch kreativ. Am 4. Juni 2020 wurde in Budapest ein 100 Meter langes und vier Meter breites Denkmal fertig. Eine Art Rampe um rund 16 Millionen Euro soll ein „Denkmal der nationalen Einheit“ werden und die Menschen daran erinnern, wie groß Ungarn einmal war. Das Jahr 1913 wurde als Referenzpunkt gewählt, mehr als 12.500 Ortsnamen des Königreichs Ungarn wurden in die Rampe, die unter die Erde verläuft, eingemeißelt. Also auch viele Orte, die heute nicht mehr in Ungarn liegen und solche, die nie mehrheitlich von Ungarn besiedelt waren. Orbán spielt gerne das Opfer, da wird die EU-Zentrale auch zu „Brüssel, dem neuen Moskau“.

      Die Europäische Gemeinschaft wurde gegründet, um den bis dahin üblichen Geschichtsrevisionismus durch den Abbau von Grenzen für immer zu beenden. Wenn es seit den Verträgen von Maastricht eine Europäische Staatsbürgerschaft gibt, dann muss ein Nationalstaat nicht mehr danach trachten, ehemalige Staatsbürger mit einem nationalen Dokument einzugemeinden. Genau das aber macht Orbán mit Angeboten für ungarische Pässe an Ungarn in Rumänien, der Slowakei und den Balkanländern. Genauso handelte die FPÖ, als sie mit der Idee spielte, Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft anzubieten und diese Forderung sogar im türkis-blauen Regierungsprogramm von 2017 unterbrachte. Das sind rückwärtsgewandte Ideen, die bewusst Gräben aufreißen und den Nationalismus virulent machen sollen.

      Osteuropa:

      Rückfall in autoritäre Zeiten

      In den Staaten des früheren Ostblocks schien es nach dem Fall der Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhangs wirklich so, als würden dort Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte verankert werden sowie das Prinzip des Wohlfahrtsstaats, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Westeuropa entwickelt hatte. Immerhin hatten sich einige Völker ihre Freiheit gegen die lokalen kommunistischen Diktatoren, die mit den sowjetischen Panzern im Hintergrund herrschten, erkämpft, in einem zum Teil jahrzehntelangen Prozess.

      Die Ungarn hatten sich schon 1956 gegen die sowjetischen Besatzer gewehrt, Tschechen und Slowaken 1968. Vergeblich. Im Jahr 1980 wurde der 37-jährige Elektriker Lech Wałęsa in Danzig Chef der neuen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Dort agierten endlich keine angeblichen Arbeiterführer mehr, die nur dem Staat und ihrer Ideologie dienen wollten, sondern echte Gewerkschafter, die für ihre Kolleginnen und Kollegen eintraten, auch mit Streiks. Das hatte Wałęsa schon zehn Jahre davor versucht und war deshalb verhaftet worden. Nun wurde er zum weltweiten Helden, den auch Kriegsrecht und Hausarrest nicht mundtot machen konnten. Neun Jahre später, im Sommer 1989, machte Wałęsa – in noch nicht wirklich freien