zu wenig dafür taten, dass die im Programm angesprochenen Regionen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg kooperieren, etwa durch gemeinsame Vorsorge für den Fall einer Pandemie. Auch im Bereich der Digitalisierung gab es keine wirklichen Anstrengungen, wodurch ein Informationssystem hätte aufgezogen werden können, und schließlich wurden in der Corona-Krise zunächst die künftigen Beitrittsländer am Balkan vergessen, was sich längerfristig rächen wird, etwa durch einen noch stärkeren Einfluss Chinas. Die Regierung in Peking bemühte sich etwa ganz ostentativ um Serbien und andere Balkanstaaten.
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić rief Mitte März 2020 bei einer Pressekonferenz: „Es gibt keine Solidarität Europas. Nur China kann uns helfen.“ Vučić erklärte, er habe keine medizinische Ausrüstung von EU-Ländern bekommen, deshalb habe er einen Brief an den chinesischen Staatschef Xi Jinping geschrieben, den er als „Freund und Bruder“ ansprach. Die Lieferung chinesischer Hilfsgüter wurde in Belgrad als großes Fest der Völkerverbindung inszeniert. Kurz darauf schickte die EU-Kommission Ende März 38 Millionen Euro zur Unterstützung an die sechs Balkanstaaten. Die Bevölkerung erfuhr leider nur wenig von dieser Hilfe, da diese nicht in das Konzept der Regierungen passte und die EU-Kommission in ihrer Kommunikation viel zu zurückhaltend auftritt.
Aber zurück zum Programm der österreichischen Präsidentschaft von 2018. Es bestand also aus großen Worten und wenig Umsetzung – das war nicht unbedingt nur die Schuld der Wiener Regierung, sondern ein grundsätzliches Problem der komplizierten Organisation der EU, wo jeder Mitgliedstaat den Vorsitz ein halbes Jahr lang innehat und während dieser Zeitspanne wenig bewegen, aber für Propaganda verwenden kann. Und zwar für nationale Propaganda, versteht sich, nicht für ein geeintes Europa.
Die abgelehnte Hilfe der EU
Die EU-Kommission wirkt in Sachen Public Relations im Vergleich zu den nationalen Herolden wie eine blutige Amateurin. Oft versucht sie, den nationalen Emotionen mit rationaler Information zu begegnen, was nicht funktionieren kann. Die emotionale Erzählung über Europa hören wir nur selten. Die Regierungen der Nationalstaaten hingegen brüsteten sich mit ihren Aktionen, zunächst mit Gesundheitsmaßnahmen, dann mit den großen Geldspenden, die bei den Betroffenen mehr oder weniger gut ankamen. Die EU-Kommission zögerte zunächst, man sah die Präsidentin Ursula von der Leyen in einem Video, wie man sich richtig die Hände wäscht. Das war’s vorerst. Dabei hatten sich die oft geschmähten Beamten in Brüssel schon zu Beginn der Corona-Krise redlich bemüht, für alle Staaten gegen das Virus vorzusorgen. Aber sie taten das so zurückhaltend, dass dies erst viel später durch einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters publik wurde. Ende März enthüllten deren Korrespondenten, dass die EU-Kommission bereits Ende Jänner vorgeschlagen hatte, gemeinsam Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräte zu beschaffen. Ende Jänner – das war einige Wochen vor Ausbruch der Krankheit in Europa. Über diese Maßnahmen wurde zunächst auf Beamtenebene gesprochen, wobei auch Österreich die Unterstützung der EU ablehnte. Anschließend fanden Sitzungen der Gesundheitsminister statt, auch da zeigte niemand Interesse. Laut Reuters notierte ein Beamter am 5. Februar 2020 in sein Protokoll: „Alles unter Kontrolle. Die Mitgliedstaaten sind auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten haben Maßnahmen gesetzt.“ Reuters hat diese Protokolle genau gelesen. Zu dieser Zeit waren in der chinesischen Provinz Hubei bereits 60 Millionen Menschen isoliert, zwei Wochen später meldete Italien die ersten Krankheitsfälle. Die Protokolle zeigen, dass die Regierungen bei ihren Gesprächen erst ab März begriffen, welch dringender Handlungsbedarf bestand. Auf einmal versuchte jede nationale Führung für sich, auf dem Weltmarkt Schutzmasken und Beatmungsgeräte zu organisieren, obwohl die EU-Kommission in Brüssel laut Protokollen weiter bemüht gewesen war und am 28. Februar 2020 angeboten hatte, gemeinsam Material zu kaufen. „Kein Land hat um Unterstützung bei zusätzlichen Gegenmaßnahmen gebeten“, wurde in der Kommission notiert. Das Buch Corona – Chronologie einer Entgleisung analysiert auch die Rolle der EU und weist nach, dass Brüssel ab dem 29. Jänner 2020 auf die Pandemie hingewiesen hat.
Da ist es schon erstaunlich, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz am 29. März 2020 in der Kronen-Zeitung meinte, die EU müsse sich eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung gefallen lassen: „Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns alleine gestellt darum kämpfen müssen, dass ein LKW mit bereits von uns bezahlten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Eine Union agiert anders, und verantwortungsvolle Politiker handeln früher und suchen nicht nachher nach solchen Ausreden. Freilich funktionierte während der Krise in vielen Fällen die europäische Solidarität, aber sämtliche guten Beispiele wurden sofort von nationalen Akteuren für sich in Anspruch genommen, doch dazu später noch mehr, auch zur Rolle der Medien in diesen Monaten.
Der Warner Bill Gates
Deutliche Warnungen vor einer Pandemie kamen schon viel früher, lange bevor sich das Corona-Virus um den ganzen Erdball verbreitete, aber die Politik in Europa und auf anderen Kontinenten wollte nichts von dem hören, womit sich Experten seit Jahren beschäftigen. Bill Gates, der schon länger Geld zur Erforschung von Infektionskrankheiten spendet, hat bereits bei der auf neue Technologien spezialisierten TED-Konferenz in Vancouver im März 2015 sehr klar und für jedermann verständlich vor weltweiten Seuchen gewarnt. Niemand war auf die Bedrohung durch eine Pandemie vorbereitet, das kann und muss man den Nationalstaaten ebenso vorwerfen wie der EU, die „uns schützen“ will.
Bill Gates wusste es schon damals, als er mit einem grünen Fass auf die Bühne kam: „Das war die Notfallausrüstung, die wir im Keller hatten, als ich ein Kind war. Mit Wasserflaschen und Konservendosen in diesem Fass haben wir uns auf einen Atomkrieg vorbereitet.“ Die atomare Gefahr sehe er nicht mehr, sagte Gates, dann kam der Gründer von Microsoft schnell darauf zu sprechen, was uns nun bedroht: „Wenn in den nächsten Jahrzehnten irgendetwas über 10 Millionen Menschen töten wird, dann wird das eher ein hochinfektiöses Virus als ein Krieg sein. Wir haben weltweit sehr viel Geld in die Abwehr von Raketen investiert, aber nur sehr wenig, um eine Epidemie zu stoppen.“ Gates führt als Beispiel den Ebola-Ausbruch im Jahr 2014 in Westafrika an, wo es trotz des Mangels an Daten und Ärzten gelungen war, die Seuche einzugrenzen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass das Ebola-Virus nicht durch Luftpartikel übertragen wird. Aber, so meinte er, es werde ein Virus kommen, bei dem das wieder der Fall sein werde, wie bei der Spanischen Grippe, die im Jahr 1918 weltweit 33,3 Millionen Todesopfer gefordert hat. Auf eine ähnliche Herausforderung müssten wir uns jetzt wie auf einen Krieg vorbereiten, so Gates. Dann forderte der drittreichste Mensch der Welt folgende Maßnahmen: Verbesserung der Gesundheitssysteme in armen Ländern sowie medizinische Einsatztruppen, die mit dem Militär und dessen Logistik zusammenarbeiten würden. Außerdem müssten die Wissenschaftler „Germ Games“, also Simulationen der Ausbreitung durchführen, um sie besser verstehen zu können. Die Forschung würde viel Geld kosten, aber das sei bescheiden verglichen mit den 3 Billionen Dollar, die eine Pandemie kosten werde, abgesehen von den vielen Toten, die zu erwarten seien. Schließlich würde die gemeinsame Verbesserung des Gesundheitssystems mehr Gerechtigkeit auf der Welt schaffen. Er wolle seinen Talk als einen Weckruf verstanden wissen, so Gates. Doch dieser wurde nirgendwo gehört, auch in Europa nicht. Dafür wurde Bill Gates später von Verschwörern beschuldigt, er wolle mit Impfungen viel Geld verdienen. Als ob das die Sorgen des reichsten Mannes der Welt wären.
Anfang August 2020 wurde geschätzt, dass das Virus in Europa rund 200.000 Menschen getötet hat, wobei Großbritannien mit rund 46.000 die meisten Toten zu beklagen hatte, gefolgt von Italien (35.000), Frankreich (30.000) und Spanien (29.500). Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt über 153.000 Corona-Tote zu verzeichnen, weltweit waren es 670.000, über 17 Millionen waren infiziert (Quelle: jhu.edu, Johns Hopkins University, auf deren Website die Zahlen täglich erneuert werden). Die Europäische Zentralbank (EZB) rechnete Ende April mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone um geschätzte zwölf Prozent. Die Corona-Pandemie war ein „symmetrischer Schock“, wie Angela Merkel öfter betonte. Sie hat alle Länder gleichermaßen bedroht. Aber dass sich die Wirtschaftskrise in den verschiedenen Teilen der EU unterschiedlich, also asymmetrisch auswirken würde, war auch bald klar.
Das Bild der EU