Serge Abad-Gallardo

Mein Weg als Freimaurer


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Wahrheit hat: »Man darf nämlich vermuten, dass sich uns die absolute Wahrheit […] a priori entzieht.«14 Sie leugnet sogar, dass die Wahrheit überhaupt absolut sein kann.15 Ein Geselle erklärte in einem seiner Werkstücke16: »Ich für meinen Teil glaube nicht an eine absolute Wahrheit. Die Relativität scheint mir der Wesenskern des Lebens zu sein.«17

      Die Zeremonie der Aufnahme zum zwölften Hochgrad bestätigt diesen relativistischen Ansatz des Freimaurertums. Wenn der Geheime Meister die »Sprossen« vom vierten zum elften Grad »erklimmt«, um in den Grad des Großarchitekten erhoben zu werden, mahnt ihn das Ritual: »Sie müssen nun begreifen, dass Hiram18 den menschlichen Geist symbolisiert, der unablässig nach der Wahrheit strebt.«19

      Genau daran wird man in den »Perfektionsgraden« immer und immer wieder erinnert: Es gibt keine absolute Wahrheit, die dem Menschen zugänglich wäre. Seine Suche vollzieht sich in der Stille und im Geheimen. Der Geheime Meister befindet sich an einem Ort der Meditation, am Grab des Meisters Hiram, er steht vor einer Tür, die er öffnen muss, das heißt, er muss die esoterischen Lehren dieses Grads verstanden und verinnerlicht haben, damit er die der höheren Grade begreifen kann und zu schätzen weiß.

       Die Vorstellungen von Gott und der Ewigkeit sind relativ

      Daher wird auch die Vorstellung von Gott selbst relativiert. Bei der Zeremonie des Übergangs vom XI. zum XII. Grad hatte ich selbst gehört, wie der Ehrwürdige Meister fragte:

      – »Ist der Gott der Christen derselbe wie der, von dem die antiken Mythologien sprechen?«

      – »Da Gott nicht erkannt werden kann, ist er zwangsläufig unter den verschiedenen Namen immer derselbe«20, hatte der Erste Aufseher daraufhin geantwortet.

      Als Katholik, der ich inzwischen wieder geworden bin, kann ich nicht die geringsten Gemeinsamkeiten zwischen den ägyptischen, griechischen und römischen Göttern und dem Gott der Bibel feststellen. Und vor allem gibt es für mich nur einen einzigen Gott, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat – und der hatte ganz sicher nichts mit antiker Mythologie zu tun!

      Obendrein geht die freimaurerische Wahrheit paradoxerweise davon aus, dass die Seele ewig und zugleich nicht ewig ist. Artikel 3 der Verfassung von »Le Droit Humain«, den der Redner im Rahmen meiner Initiationszeremonie vorgelesen hatte, sagt ausdrücklich: »Die Mitglieder sind unabhängig von allen religiösen Einrichtungen, Organisationen und Glaubensrichtungen, einschließlich des Glaubens an ein Weiterleben oder Nichtweiterleben nach dem Tod. Darüber hinaus trachten sie vor allem danach, ein größtmögliches Maß an moralischer, intellektueller und geistiger Entwicklung für alle Menschen zu erzielen. Der Orden glaubt, dass dies eine Grundbedingung für das Glück ist.«21

      Man sieht, wie ich Schritt für Schritt und unter dem ständigen Einfluss einer radikal relativistischen Doktrin – wenngleich in einer Großloge22, die sich selbst als deistisch bezeichnet – letztlich meinerseits dem Relativismus verfiel.

      Für einen Profanen ist es unvorstellbar, wie beengend der Relativismus sein kann, sobald er als Doktrin daherkommt. Angeblich »befreit« er das Denken, doch in Wirklichkeit lässt er es erstarren, denn die Wahrheit zu relativieren heißt letzten Endes, an gar nichts mehr zu glauben: nicht einmal mehr an etwas, das sich unseren Augen und unserem Herzen so offensichtlich darbietet wie die Liebe Gottes, der für uns am Kreuz gestorben ist.

       Das unüberwindliche Paradox einer relativen Wahrheit

      Dennoch strebt der Weg des Eingeweihten der Einheit entgegen – einer Einheit jedoch, die außer Reichweite ist, wie die Erklärung des Redners bei der Zeremonie der Zulassung zum XXX. Grad beweist: »Die höchste Initiation hat Sie auf die Stufe der Dualität geführt, die überall auf diesem Areopag23 symbolisiert wird. Doch wehe, Ritter, alles auf dieser Welt endet hier. Auf dieser Stufe müssen Sie zwangsläufig handeln. Eine höhere Stufe können Sie sich lediglich vorstellen: die Stufe des Absoluten, wo sich die Dualität in Einheit auflöst […]. Ihr Handeln kann sich von der Vorstellung der Einheit lediglich inspirieren lassen.«24

      Die Vorstellung von einer solchen höheren Ebene – der »freimaurerischen Dreiheit« – findet sich beispielsweise auch im Musivischen Pflaster wieder. In meinen Jahren als Mitglied der blauen Loge und vor allem als Lehrling bekam ich von den älteren Meistern des Öfteren zu hören, dass zwischen den weißen und den schwarzen Kacheln eine rote Linie verlaufe, die »dünner als eine Rasierklinge« sei.25 Genau genommen handelt es sich um eine Art »Synthese« der beiden dualen Pole, die der freimaurerischen Lehre zufolge für den Menschen ebenso unerreichbar ist wie die Wahrheit. Ich begriff die Bedeutung dieses unsichtbaren symbolischen Bildes erst später, als ich Geselle geworden und insbesondere, als ich zum Grad des Meisters aufgestiegen war und den Sinn der »freimaurerischen Dreiheit« verinnerlicht hatte, die im ersten Grad gelehrt wird.26

      Vom Grad des Meisters an weiß sich der Eingeweihte dieser Dualität zu bedienen und nutzt sowohl das Gute als auch das Böse, sowohl die Finsternis als auch das Licht, um seinen Weg zu finden. Im Gegensatz zum Christen, der sich trotz seiner Unvollkommenheiten und trotz der Hindernisse des Lebens bemüht, dem Weg des Lichts und der Wahrheit Christi – dem Weg zum Guten – zu folgen, schreitet der Eingeweihte auf dem Weg des Guten und gleichzeitig des Bösen voran. Das bestätigt sich bei der Feier der Erhebung zum XXX. Grad, die die Hierarchie der symbolischen Hochgrade abschließt.

      Im Grunde jedoch handelt es sich um eine polymorphe Einheit, wie sie unter anderem auch die (in der deistischen Freimaurerei verbreitete) Vorstellung vom »Großen Baumeister aller Welten« zum Ausdruck bringt, der als eine Art einheitliche und duale »Verschmelzung«, das heißt als das Gute und das Böse zugleich, aber auch als die Synthese oder Vereinigung des Guten und des Bösen verstanden wird. Der »Große Baumeister aller Welten« ist Liebe und Hass zugleich und die Synthese von Liebe und Hass und manifestiert sich als kosmische und energetische Kraft im Zeichen des einen und manchmal des anderen.

      Letztlich richtet die ganz und gar vom Relativismus durchdrungene Freimaurerei ihre Eingeweihten auf eine »offene Gesamtheit« von Wahrheiten aus, die niemals in der Wahrheit schlechthin zu einem Abschluss gelangen können. Mit ihrem Bekenntnis zu einem »absoluten Relativismus« ist die Initiationslehre im Gegenteil in sich paradox.

      In diesem Universum, wo es der Freiheit des Eingeweihten überlassen bleibt, den verborgenen Sinn der Symbole zu entdecken, sind dem Forschen des Wahrheitssuchenden keinerlei Grenzen gesetzt.

      Als ich nach meiner Erhebung zum XII. Grad des Großarchitekten zum ersten Mal wieder einer Tempelarbeit beiwohnte, überraschte mich ein ritueller Dialog zwischen zwei Beamten, der meinem christlichen Glauben diametral zuwiderlief. Der Ehrwürdige Meister fragte:

      »Wofür steht die Kreislinie?«27

      Der Erste Aufseher antwortete:

      – »Für den Bereich der menschlichen Erkenntnis.«

      »Ist also der Bereich der menschlichen Erkenntnis begrenzt?«, fragte der Ehrwürdige Meister.

      – »Nein, Ehrwürdiger Meister, dieser Bereich ist unbegrenzt«, erklärte der Erste Aufseher.

      Plötzlich offenbarte sich mir ein ebenso eklatanter wie grundlegender Widerspruch. Ich hatte unlängst und in einem Rahmen, der mit der Freimaurerei rein gar nichts zu tun hatte, eine Arbeit über den 119. Psalm der Bibel verfasst. In diesem langen28 Loblied auf den Herrn wird genau das Gegenteil verkündet, denn in Vers 96 heißt es: »Ich sah, dass alles Vollkommene Grenzen hat, doch dein Gebot ist von unendlicher Weite.« Dieser Gegensatz zur katholischen Lehre bestätigte meinen Vorbehalt, den Weg der Hochgrade weiter zu verfolgen: Nein, der Geist des Menschen und seine Erkenntnis sind nicht unbegrenzt! Nur Gott ist unendlich. Unser Wissen ist eingeschränkt, begrenzt, unvollständig, und der Herr allein ist der Allmächtige. Dennoch liegt die Wahrheit