Bitte auszusprechen.
»Sachlich?« Sie schaute ihn jetzt voll an. In ihren Augen stand noch immer verletzende Abweisung. »Mein Kind ist todkrank, und du sprichst von Sachlichkeit!« Ihre Stimme verlor nun die Beherrschung. »Was für ein gefühlloser Mensch bist du eigentlich?«
»Mit Vorwürfen und Beleidigungen hilfst du deinem Kind auch nicht!« Er sprach jetzt strenger als beabsichtigt. »Ich weiß, dass Bärbel krank ist, und ich habe genauso viel Angst um sie wie du. Aber ich war es doch nicht, der sie krank gemacht hat, Corinna. Wieso strafst du mich für ihre Krankheit?«
Doch Corinna war keinem vernünftigen Argument zugänglich. In ihre Augen schlich sich wieder jene Mischung aus Hass und Verachtung, die es Jochen unmöglich machte, die Mauer der Abwehr, die sie umgab, zu durchbrechen.
»Nicht du, sondern ich habe Strafe verdient«, hörte er sie in bitterem Tonfall sagen. »Ich habe mich von dir verleiten lassen, in diesen Urlaub zu fahren, statt bei meinem Kind zu bleiben.«
Jochen rang um Fassung. »Bärbel wäre auch krank geworden, wenn du bei ihr geblieben wärst.«
»Nein, das wäre sie nicht«, rief Corinna. »Ich hätte nur bei ihr bleiben müssen, dann wäre das alles nicht passiert. Das ist jetzt die Strafe dafür, dass ich sie allein gelassen habe, dass ich nur an mich gedacht habe. Aber das wird nie wieder geschehen. Künftig werde ich nur noch für mein Kind dasein, wenn es weiterlebt.« Ihre Worte verloren sich in einem Schluchzen.
Jochen stand auf und trat zu ihr. Doch als er die Hand ausstreckte, zuckte sie wie vor einem giftigen Insekt zurück. »Wage es nicht, mich anzurühren. Ich hasse dich!«
Jochen taumelte zurück. Gekränkt, verletzt und gedemütigt sank er auf die Ofenbank. Corinna hastete in den hinteren Teil des Raumes, der als Schlafzimmer diente. Sie kroch in ihren Schlafsack und wühlte das Gesicht in das Kopfpolster.
Jochen wusste nicht, wie lange er reglos auf der Ofenbank sitzen geblieben war. Als er aus seiner Starre erwachte, blinkten ihm durch das Fenster vom nachtdunklen Himmel die aufgegangenen Sterne entgegen. Er blickte sich befremdet um. Schemenhaft erkannte er Corinnas Umrisse unter dem Schlafsack. Wenn er an ihre letzten Worte dachte, zuckte ein brennender Schmerz durch seinen Körper.
Er wollte aufstehen, doch seine Knie gaben nach, sodass er zurück auf die Bank sank. Nein, er konnte jetzt nicht hingehen und sich neben sie in den Schlafsack hüllen, als sei nichts geschehen. Ich werde auf der Ofenbank schlafen, beschloss er.
Da vernahm er aus dem Winkel, in dem die Betten standen, ein leises Schluchzen. Erstaunt horchte er auf. Wenn Corinna fähig war zu weinen, dann konnte sie doch nicht so gefühllos sein, wie er glaubte.
Er erhob sich nun doch und ging zu ihr.
Zusammengerkümmt wie ein kleines Kind lag sie in dem Daunensack. Ihre Schultern wurden von einem lautlosen Weinkrampf geschüttelt.
Ohne ein Wort zu sagen, breitete Jochen seinen Schlafsack auf dem Lager neben ihr aus, schlüpfte hinein und schloss ihn am Hals, denn es wurde empfindlich kalt in der Nacht. Corinnas Weinen wertete er als ein gutes Zeichen. Vielleicht musste man ihre grobe Reaktion dem Schock zuschreiben. Vielleicht würde sie sich am nächsten Morgen wieder beruhigt haben.
*
Anja Frey erwachte von einem leisen klagenden Laut. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Schon schob sie die nur angelehnte Tür zum Krankenzimmer vollends auf. Das leise Wimmern wiederholte sich. Es kam von Bärbels Bett.
Die Ärztin trat lautlos zu der kleinen Patientin und sah, dass sie schlief. Doch ihre Lippen bewegten sich, und ihre Fingerchen verkrampften sich in der Bettdecke. »Mutti, Mutti, wo bist du?«, stöhnte das Kind und warf sich gequält herum.
Sofort setzte sich Anja auf die Bettkante und ergriff die fiebrigen Hände der Kleinen. Ihre Temperatur musste sich wieder erhöht haben, das merkte Dr. Anja Frey sofort.
Sie strich Bärbel über die Stirn und hoffte, sie würde in einen ruhigeren Schlaf zurückfinden. Doch da öffnete das Kind die Augen. Bei dem schwachen Lichtschein, der von Anjas Nachttischlampe aus dem Nebenzimmer kam, erkannte das Mädchen die sitzende Gestalt an seinem Bett. »Mutti«, flüsterte die Kleine erleichtert. »Liebe Mutti, du bist gekommen.« Ihre Finger tasteten wieder nach Anjas Hand und krallten sich darin fest. »Bleibst du jetzt immer bei mir? Ich … ich hab’ solche Angst …« Ihr schwaches Stimmchen verlor sich wieder, die Augen fielen ihr zu.
Beunruhigt lauschte Anja den Atemzügen der Kleinen. Sie waren unregelmäßig und schwer. Da beschloss die Ärztin, die Nacht am Bett des Kindes zu verbringen.
Sie griff nach der Lehne des Stuhles, der am Fußende des Bettes stand, und stellte ihn lautlos daneben. Dann wachte sie in der Dunkelheit Stunde um Stunde, bis der Morgen graute.
Bärbels Schlaf war unruhig und wurde immer wieder von leisem Stöhnen unterbrochen. Oft tupfte Anja Frey ihr die heiße Stirn ab, ergriff Bärbels Händchen und redete beruhigend auf sie ein. Tatsächlich wurde die Kleine dann, obwohl sie keines der tröstenden Worte verstand, stets ruhiger und fiel wieder in einen leichten Schlummer.
Erst bei Anbruch des Tages wurde der Schlaf des Kindes tief und fest. Aber da erwachten die anderen beiden Patienten. Damit Bärbel in Ruhe weiterschlafen konnte, rollte Anja ihr Bett zu sich ins Zimmer und schloss die Tür.
»Wo ist Bärbel?«, wollten die beiden Mädchen, denen es bereits besser ging, wissen.
»Sie hat heute Nacht nur wenig geschlafen und ist noch sehr müde. Deshalb habe ich sie in mein Zimmer gestellt«, erklärte die Ärztin mit gedämpfter Stimme.
Die beiden Mädchen verstanden und verhielten sich an diesem Vormittag ruhiger als sonst.
Als Bärbel gegen Mittag erwachte, flößte Anja ihr eine stärkende Brühe ein. Ihre Temperatur war nun etwas gesunken.
»Ich habe von meiner Mutti geträumt. Wo ist meine Mutti, Tante Doktor?«, wollte Bärbel wissen.
»Deine Mutti ist doch in Urlaub gefahren. Weißt du das nicht mehr?« Anja hielt es immer noch für das Beste, dem Kind die Wahrheit zu sagen und vernünftig mit ihm zu sprechen.
Die Kleine nickte auch zu den Worten der Ärztin. Doch dann hob sie wieder den Kopf und fragte: »Aber warum lässt sie mich so lange allein?«
Anja spürte Mitleid in sich aufsteigen.
»So lange ist es doch gar nicht. Das kommt dir nur so vor, Bärbelchen. In einer Woche darfst du deine Mutti wiedersehen. Das ist nicht mehr so lange.«
Wiederum nickte das geschwächte Kind mit dem Kopf. Dann schluckte es die Tropfen, die Anja ihm auf einem Löffel hinhielt.
»Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte erzähle?«, fragte Anja, während sie Bärbels Bett wieder zurück in das Zimmer zu den anderen beiden Mädchen rollte.
Bärbel nickte nur schwach, während die anderen Kinder in begeistertes Bitten ausbrachen.
Anja Frey, die sich in diesen Tagen manchmal wunderte, woher sie all die Geschichten nahm, dachte sich schnell etwas aus und begann zu erzählen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das große Sehnsucht nach seiner Mutter hatte. Denn die Mutter lebte weit entfernt und konnte nicht zu ihrer Tochter kommen.
Eines Tages kam in das Zimmer des kleinen Mädchens ein kleiner bunter Vogel geflogen. Er hatte keine Scheu vor dem kleinen Mädchen und hüpfte vergnügt in dem Zimmer umher. Doch wenn er sang, musste das kleine Mädchen komischerweise immer nur an seine Mutter denken. Warum nur?
Das kleine Mädchen dachte lange nach. Dann wusste es plötzlich: Die Mutter hatte den kleinen Vogel geschickt, um sie durch ihn zu grüßen. Doch eines Tages würde die Mutter genauso bei ihr sein wie der kleine bunte Vogel.«
Anja Frey hatte ihre Geschichte beendet. Bei den letzten Worten waren Bärbel die Augen zugefallen. Ein seliges Lächeln lag auf ihren Lippen. Die Ärztin war sicher, dass das Kind nun von einem kleinen bunten Vogel träumte, der ihm einen Gruß von der Mutter brachte.
*
Corinna