Patricia Vandenberg

Sophienlust Box 15 – Familienroman


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      Mit Schaudern dachte Corinna auch an die Nacht, die sie hier oben würde verbringen müssen, falls sie bis dahin noch lebte. Dann dachte sie an ihr Kind, dem dieses wahnwitzige Unternehmen galt. Und schließlich gaukelte ihr ihre überhitzte Phantasie in dieser unbarmherzigen Einsamkeit, den sicheren Tod vor Augen, Bilder der jüngsten Vergangenheit vor.

      Sie erinnerte sich an die zärtlichen Stunden mit Jochen. Allein waren sie beim flackernden Schein der Kerze in der Hütte gesessen. Wie gelöst und voller Zärtlichkeit sein Gesicht doch gewesen war. Sie sah es wieder ganz deutlich vor sich, hörte seine Lippen flüstern: »Ich liebe dich!« Fast glaubte sie, seinen Mund auf ihrer Haut zu spüren. Sie hatten sich die gemeinsame Zukunft zu dritt so schön vorgestellt …

      »Ich brauche euch«, stöhnte Corinna. »Ich brauche euch beide – Bärbel und Jochen!« Das war ihr letzter Gedanke. Sie hatte ihn laut ausgesprochen. Dann schwanden ihr die Sinne. Sie dachte nun auch nicht mehr daran, dass eine falsche Bewegung, ein Verändern ihrer Lage um Zentimeter sie in den Abgrund gleiten lassen würde. Ihr allerletzter traumhafter Gedanke, als ihre Sinne schon im Schwinden waren, war die flehentliche Bitte an den geliebten Mann, ihr zu helfen.

      *

      Jochen und die Männer der Bergwacht hatten den Dolomitengipfel direkt vor sich. In einem Gewaltaufstieg von vier Stunden hatten sie einen Berg bewältigt, für den ein trainierter und geübter Bergsteiger gut seine sechs Stunden benötigte.

      Vier bange Stunden. Jochen durfte gar nicht daran denken, was einem Bergsteiger in Not in dieser Zeit alles zustoßen konnte. Immer wieder hob er das Fernglas an die Augen und suchte die Umgebung des Gipfels ab. Aber Corinna war nicht zu entdecken.

      Und dann standen sie an Freds Absturzstelle –?dem Ziel, das Corinna sich gesetzt und offensichtlich nicht erreicht hatte. Sonst hätte irgendein Zeichen darauf hindeuten müssen.

      Die Männer der Bergwacht hielten an dieser Stelle eine Beratung ab. »Sie muss hier irgendwo sein. Wir müssen uns verteilen und sie suchen«, beschlossen sie.

      Jochen orientierte sich an der bereits neigenden Sonne. »Lange haben wir nicht mehr Zeit. Wenn wir Corinna nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit gefunden haben, ist sie verloren.«

      Der Anführer des kleinen Rettungstrupps nickte sehr ernst.

      Sie schwärmten in der unmittelbaren Umgebung des Gipfels aus und begannen nach Corinna zu rufen. Die Bergwände trugen den Schall weit und warfen ihn dann als Echo weit und warfen ihn dann als Echo zurück. Corinna hätte sie einfach hören müssen, wenn, ja, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.

      Jochen verspürte ein innerliches Zittern, das seiner Angst entsprang und sich von Minute zu Minute verstärkte. Bitte antworte, Liebste, flehte er in Gedanken, während er laut immer wieder Corinnas Namen rief.

      Die Minuten dehnten sich für ihn zu Stunden. Er war sein Leben lang in den Bergen gewesen und wusste nur zu gut, was es zu bedeuten hatte, wenn sie kein Zeichen von Corinna fanden. Denn wenn ein Bergsteiger in die grausamen, tiefen Schluchten zwischen den Wänden stürzte, blieb kein Zeichen von ihm zurück. Alles Rufen blieb dann unbeantwortet.

      Trotzdem rief Jochen mit verbissener Sturheit weiter nach Corinna, als wollte er das Schicksal damit zwingen, ihm die geliebte Frau zurückzugeben.

      Nach einer Stunde vergeblichen Suchens kamen die Männer zurück. Jochen rief noch immer Corinnas Namen. »Es hat keinen Zweck mehr«, sagte der Anführer der Bergwacht zu ihm. »So, wie es aussieht, müssen wir das Schlimmste annehmen.«

      »Sie meinen …« Jochen musste noch einmal Luft holen, um die erschreckende Wahrheit aussprechen zu können. »Sie meinen, Corinna ist abgestürzt?«

      In den Augen des erfahrenen Bergretters standen Mitleid und Trauer, als er Jochens Worte bestätigte. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wenn Ihre Verlobte sich noch hier oben befände, hätten wir sie finden müssen. Meine Männer haben den ganzen Berggipfel abgesucht.«

      »Aber vielleicht …, vielleicht haben wir nicht gründlich genug gesucht.« Doch innerlich wusste Jochen genau, dass seine Hoffnung unsinnig war. Der Gipfel lag frei da. Es gab keine kleineren Schluchten, Nischen oder Höhlen. Nur die große, verderbenbringende Tiefe.

      Jochen schlug die Hände vors Gesicht. Er schämte sich seines Schmerzes nicht. Doch plötzlich riss ihn ein Gedanke hoch. Er starrte die Männer der Bergwacht an, wobei sich in seinen verzweifelten Gesichtsausdruck ein Hoffnungsschimmer einschlich. »Es gibt noch eine Möglichkeit!«, rief er aus. Seine Worte überschlugen sich fast.

      Die Männer der Bergwacht zuckten verständnislos mit den Schultern. Sie wussten nicht, was Jochen meinte. Nur einer von ihnen ahnte, woran Jochen dachte. Er war in dem Dorf am Fuße der Berge groß geworden und kannte praktisch jeden Stein in dieser Umgebung. »Sie meinen die Felsvorsprünge an der Vorderseite des Berges?«, fragte er.

      Jochen nickte eifrig. »Ja, ich habe sie durchs Fernglas vom Dorf aus gesehen. Sie wirkten sehr klein, aber es wäre doch möglich …« Er konnte vor Erregung nicht weitersprechen.

      Der Bergwachtmann nickte. »Sie sind groß genug, dass sich ein Mensch darauf halten kann«, bestätigte er.

      In einem wilden Hoffnungstaumel riss Jochen das Seil aus dem Rucksack.

      Doch einer der Männer zerstörte seine geringe Hoffnung mit einer Tatsache, die stimmte. »Die Felsvorsprünge liegen nicht unterhalb der normalen Aufstiegsroute.«

      Jochens Züge erstarrten. Er wusste, was das bedeutete. Wenn Corinna den normalen Aufstieg zum Gipfel benutzt hatte und gefallen war, konnte sie gar nicht auf einem dieser Vorsprünge hängengeblieben sein. Er begriff auf einmal, wie gering diese letzte Chance war, die er entdeckt hatte. Doch so schnell gab er dieses Fünkchen Hoffnung nicht auf.

      »Es wäre doch möglich, dass sie vom Weg abgekommen ist«, gab er zu bedenken.

      Der Anführer der Bergwachtgruppe wiegte den Kopf. »Als wir Ihre Verlobte sahen, befand sie sich noch auf dem richtigen Weg. Aber möglich wäre es trotzdem, dass sie sich später verlaufen hat. Doch dann hätte sie eigentlich unsere Rufe hören müssen.«

      Dasselbe sagte sich Jochen auch. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. »Ich seile mich zu den Felsvorsprüngen ab«, erklärte er mit Bestimmtheit und rollte sein Seil bereits auf.

      Doch der Führer der kleinen Truppe hielt ihn zurück. »Ihre Idee ist gut, aber lassen Sie mich das machen. Sie sind zu nervös.«

      Doch Jochen schüttelte eigensinnig den Kopf. Er hatte die fast kindliche Einbildung, dass er Corinna finden würde, wenn er selbst etwas riskierte. »Es ist meine Verlobte. Daher fällt auch mir die Aufgabe zu, ihr zu helfen. Wenn ich es noch kann.«

      Die Männer nickten schweigend. Sie verstanden ihn. »Gut, wir werden Sie von hier oben sichern.«

      Von da an wurde nichts mehr gesprochen. Mit schnellen und geübten Handgriffen schlugen die Männer einige Haken in den harten Fels, schlangen Jochens Seil darüber und sicherten es doppelt ab.

      Jochen selbst seilte seinen Körper an, sodass er buchstäblich in dem festen Seil hing. Das war auch notwendig, denn seine Hände brauchte er für andere Dinge. Er musste, während die Männer ihn Stück für Stück hinunterließen, noch einige Haken in die fast überhängende Wand schlagen.

      »Fertig?«

      Jochen nickte. Mit angespannten Gesichtern standen die Männer der Bergwacht über ihm, als Jochen die steile Wand hinunter buchstäblich ins Nichts schwebte. Und obwohl er völlig schwindelfrei war, wagte er es doch nicht, nach unten zu blicken. Zu grausam gähnte die schwarze Tiefe unter ihm. Nicht auszudenken, wenn Corinna dort hinuntergestürzt war. Doch er verbot sich derartige Gedanken augenblicklich. Er benötigte jetzt seine ganze Kraft und Konzentration.

      »Langsamer!«, kommandierte der Bergwachtführer von oben. »Nicht so hastig, das ist gefährlich!« Sie gaben das Seil jetzt nur noch Zentimeter für Zentimeter frei.

      Noch bevor Jochen den ersten Felsvorsprung mit seinen Füßen erreichte, sah er, dass er leer war. Sein