die Erinnerung mit all ihrem Schmerz.
Corinna wandte den Kopf zu der Bettstatt hin, die einen halben Meter von ihr entfernt stand. Undeutlich hoben sich Jochens Umrisse unter dem Schlafsack ab. Sie hörte seine gleichmäßigen Atemzüge.
Da öffnete sie vorsichtig den Reißverschluss ihres Schlafsackes und schälte sich aus ihm heraus. Genauso leise schlüpfte sie in ihre Kniebundhose und die Bluse und zog einen Pullover darüber. Als sie fertig angezogen noch einmal zum Bett hinüberschaute, sah sie Jochen in unveränderter Stellung und gleichmäßig atmend in seinem Schlafsack liegen.
Rasch zog sie ihre Bergschuhe an, die im vorderen Teil der Hütte neben der Tür standen. Ebenfalls neben der Tür standen die beiden Rucksäcke mit der Bergsteigerausrüstung. Seile, Haken und alles, was dazu gehörte, waren in den Rucksäcken verstaut.
Corinna nahm ihren Rucksack und hängte ihn sich über die Schulter. Dann öffnete sie die Hüttentür. Sie stand bereits auf der Schwelle, als sie sich zögernd noch einmal umwandte. Jochen hatte sich die ganze Zeit nicht ein einziges Mal bewegt. Doch ihr Zögern dauerte nur wenige Sekunden. Dann wandte sie sich entschlossen ab und schloss bestimmt, aber lautlos, die Hüttentür hinter sich. Eine unwirkliche Stimmung hing über den Bergen. Wie große drohende Schatten ragten sie aus dem unbestimmten grauen Licht empor.
Es war noch immer Nacht. Noch war die Sonne hinter den Bergen nicht aufgegangen. Nur ein unsicheres helles Grau, das ihrem Schein voranging, kündigte die Sonne an.
Ohne sich ein einziges Mal nach der Hütte, in der sie ihr Glück gefunden und wieder verloren hatte, umzudrehen, schritt Corinna auf den Felsen zu. Mit keinem Gedanken gab sie sich Rechenschaft über das ab, was sie tat. Warum hatte sie die Hütte verlassen? Sie wusste es nicht. Sie hatte sich nur auf ihr Gefühl verlassen und das getan, was sie geglaubt hatte, tun zu müssen.
Als die unbestimmte Düsterkeit sich in ein helles Licht verwandelte, hatte Corinna die Wiesen- und Geröllhänge schon weit hinter sich gelassen. Sie begann den schwierigen und gefahrvollen Aufstieg zu einem der steilsten und höchsten Dolomitengipfel. Zur Absturzstelle ihres Mannes.
Corinna hätte nicht sagen können, wann dieser Gedanke in ihr gereift war, ob es in dem Moment des Erwachens, beim Verlassen der Hütte oder erst beim Beginn des Aufstieges gewesen war. Auf jeden Fall war ihr ihr Ziel bewusst geworden, als die ersten Meter des Anstiegs all ihre Kräfte erfordert hatten.
Als ihr Körper sich erwärmt hatte, hielt sie einen Moment inne. Sie zog den schweren Pullover aus und verstaute ihn im Rucksack. Nur einen Moment dachte sie daran, dass für diesen schwierigen Aufstieg eigentlich zwei Personen notwendig waren, die sich gegenseitig am Seil sichern konnten. Aber sie hatte sich vorgenommen, eine Höchstleistung zu vollbringen, denn sie glaubte, nur damit das Schicksal wieder versöhnen zu können.
Als die Sonne dann goldgleißend über den Zacken der Felsen aufging, legte Corinna eine kurze Rast ein, um dieses Naturschauspiel zu beobachten.
Andächtig und fast staunend betrachtete sie die strahlende Helle, in die die Bergwelt nach der langen, düsteren Nacht nun getaucht war. Erst in diesem Moment legte sie sich zum ersten Mal bewusst Rechenschaft über das ab, was sie vorhatte.
Ich bin mit Jochen in Urlaub gefahren, um die Unfallstelle meines Mannes aufzusuchen, sagte sie sich. Aus diesem Grund war es auch gerechtfertigt, dass ich mein Kind allein ließ. Als ich meinem Vorhaben dann untreu wurde, bestrafte mich das Schicksal. Mein Kind wurde krank. Schwer krank. Und nur ich in meiner Treulosigkeit bin schuld daran. Ich bin schuld, wenn mein geliebtes kleines Mädchen vielleicht stirbt.
»Oh, Bärbel!« Corinna schrie den Namen des Kindes in den unberührten Morgen hinein und spürte nicht die Tränen auf ihren Wangen.
Doch so überraschend wie dieser Ausbruch sie überfallen hatte, so schnell fasste sie sich wieder. Ich werde nachholen, was ich versäumt habe, und dann wird Bärbel wieder gesund werden, sagte sie sich. Daran glaubte sie fest. Es gab ihr die Kraft, weiterzusteigen.
Schritt für Schritt setzte Corinna ihren Fuß auf den immer schmaler und gefährlicher werdenden Weg, der plötzlich nur noch aus einzelnen Trittstellen bestand. Spätestens hier hätte sie sich anseilen müssen. Aber es war ja niemand da, der sie hätte absichern können.
»Ich brauche niemand, der mich sichert«, sagte sie laut zu sich selbst. »Ich schaffe es allein!« Sie nutzte all ihre Routine aus und erkämpfte sich Schritt für Schritt das schwierige und manchmal heimtückische Gelände. Die immer wärmer werdende Sonne trieb ihr den Schweiß aus allen Poren. Ihr nur unvollkommen ausgeruhter Körper war einer solchen Strapaze nicht gewachsen. Doch das wollte Corinna nicht wahrhaben.
*
Die Sonnenstrahlen drangen bereits durch das winzige Fenster der Hütte, als Jochen erwachte. Er sah den leeren Schlafsack auf Corinnas Lager und hob den Kopf. Wahrscheinlich hantierte sie in der Küche oder vor der Hütte.
Schnell sprang er aus dem Bett und brachte seinen vom Schlaf steifen Körper mit ein paar Gymnastikübungen in Schwung. Dann trat er, noch in dem Trainingsanzug, in dem er geschlafen hatte, in den vorderen Hüttenteil. Komisch, wie ruhig es war. »Corinna?«, rief er.
Keine Antwort!
Er trat vor die Hütte, aber auch da war Corinna nicht. Nachdenklich setzte er sich auf die Holzbank vor der Hütte.
Grollte sie ihm immer noch? Er spürte, wie die Sonne ihn erwärmte. Nachdenklich blieb er einige Minuten sitzen. Er fand nur eine Antwort auf seine Frage: dass Corinna bereits ins Tal abgestiegen war. Entweder würde sie ihn im Ort erwarten – oder sie war ihm noch immer böse und fuhr mit dem Zug allein nach Sophienlust.
Kopfschüttelnd erhob er sich. Auf jeden Fall würde er ihr so schnell wie möglich folgen.
Schnell und geschickt bereitete er sich in der Küche ein einfaches, aber kräftiges Frühstück zu und zog sich an.
Dann schnallte er die beiden Schlafsäcke auf seinen großen Rucksack, brachte die Hütte wieder in Ordnung, in der sie sie vorgefunden hatten, und verließ sie.
Nicht ohne wehmütige Gefühle nahm er von dem Ort, an dem er so viele Stunden mit Corinna glücklich gewesen war, Abschied.
Sobald die kleine Hütte seinen Blicken entschwunden war, strebte er mit weit ausholenden Schritten dem Tal zu. Er gönnte sich keine Rast mehr, bis er den kleinen Ort erreicht hatte, der tief unten im Kessel lag.
Jochen hatte bereits die ersten Häuser des Dorfes passiert, als ihm eine Menschenansammlung in der Mitte des Dorfplatzes auffiel. Schon wollte er vorübergehen, da bemerkte er, dass die Leute alle zu einem bestimmten Punkt in den Felsten starrten und erregt sprachen. Einige hielten sogar Feldstecher an die Augen.
Verwundert trat Jochen zu ihnen.
Ein alter weißhaariger Mann mit Bart wandte sich an Jochen. »Das ist doch unverantwortlicher Leichtsinn«, schimpfte er, während er sein Fernglas an die Augen hielt und mit der freien Hand hinauf in die Berge deutete.
»Wieso? Was ist denn geschehen?«, fragte Jochen drängend. Er spürte plötzlich einen seltsamen Krampf in der Magengegend.
»Ganz allein diesen gefährlichen Aufstieg zu wagen«, wetterte der alte Mann zusammenhanglos weiter. »Eine Person ganz allein!« Er hatte Jochen an seiner Seite bereits wieder vergessen und starrte erneut durch seinen Feldstecher.
»Es ist eine Frau!«, rief da ein Mann am anderen Ende der Gruppe aus.
Mit einer einzigen Bewegung riss Jochen dem alten Mann das Fernglas von den Augen. Seine Gedanken begannen zu rasen. Eine Frau! Das konnte nur Corinna sein. Er setzte das Glas an die Augen und konnte sekundenlang nichts sehen, weil seine Hände zu sehr zitterten.
Als seine Augen die Stelle gefunden hatten, an der der Einzelgänger unterwegs war, war seine schreckliche Vermutung zur Gewissheit geworden. Der Einzelgänger war eine Frau. Es musste Corinna sein, denn sie bewegte sich auf dem gefährlichen schmalen Grat, der zur Absturzstelle ihres Mannes führte.
»Sie ist in Gefahr, in tödlicher Gefahr«, stieß er hervor und spürte