Marianne Brentzel

Mir kann doch nichts geschehen ...


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Zensoren war Nesthäkchen zu aufmüpfig, zu wenig unterwürfig und obendrein noch studiert. Das passte nicht in das geforderte Bild von der führergläubigen Mutter zukünftiger Soldaten und selbstverständlich auch nicht in die Vorstellungen der Kulturfunktionäre der DDR. In Romanen, die heute lange vergessen sind, beschreibt Else Ury den harten Kampf der ersten Ärztin mit eigener Praxis in Berlin und auch den Versuch, eine partnerschaftliche Ehe zu führen, in dem Mann und Frau ihrem Beruf weiter nachgehen.

      Else Ury – die geistige Mutter einer ›heilen Welt‹? Dieses Klischee hat ausgedient. Die Neugier und Zuneigung für die Verfasserin der Nesthäkchen – Bücher sind bis heute ungebrochen. Else Ury ist, das macht das nicht nachlassende Interesse an ihr deutlich, den einfachen Zuordnungen längst entwachsen.

      Eine jüdische Kindheit

      1877 – 1889

      Die angesehene Vossische Zeitung in Berlin meldete am 1. November 1877:

      ›Durch die heut Nachmittag 4 Uhr erfolgte glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden erfreut Emil Ury und Frau Franziska, geborene Schlesinger.‹

      Else Ury, die Tochter des Tabakfabrikanten Emil Ury, wurde in eine Welt hineingeboren, in der die Berliner Juden und mit ihnen das kaisertreue Bürgertum an die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts glaubten. Man flanierte Unter den Linden, machte gute Geschäfte, applaudierte dem Hof bei seinen Ausritten und bewunderte den Eisernen Kanzler Bismarck, der das Deutsche Reich geeint und den Fortschritt der Geschäfte damit mächtig befördert hatte. Als der Jubel über die Reichseinigung verklungen war und die überstürzte Industrialisierung zu schweren Wirtschaftskrisen und sozialen Missständen führte, musste ein Sündenbock gefunden werden. Der Historiker Heinrich von Treitschke sprach aus, was die Zukurzgekommenen aller Schichten gern nachplapperten: ›Die Juden sind unser Unglück.‹ Um die Jahrhundertwende gab es heftige Auseinandersetzungen um die Judenfrage. Doch eine Familie Ury kümmerte sich nicht darum, wollte in Ruhe den Geschäften nachgehen, den Kindern eine anständige Ausbildung ermöglichen und anerkannter Bürger unter anerkannten Bürgern gleich welcher Konfession sein. Daher galt Anpassung der Mehrheit der Juden als das Gebot der Stunde.

      Der Stammbaum der Familie Ury reicht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Namen wie Davidsohn, Wallenberg, Rosenstein, Friedländer und Schlesinger tauchen darin auf. Schon in der dritten Generation war die Familie Ury in Berlin ansässig. Aus Tangermünde kommend, erhielt der Großvater von Else Ury, der Kaufmann Levin Elias Ury, 1828 vom preußischen König Stadtbürgerrecht in Berlin. Er wurde in Berlin-Mitte Vorsteher der jüdischen Gemeinde und organisierte aus demokratischer Gesinnung eine Trauerfeier für die Gefallenen der Märzrevolution von 1848 in der Alten Synagoge Heidereutergasse. Als der wohltätige Mann starb, folgte seinem Sarg ein langer Zug weinender armer Juden.

      Die Urys lebten als angesehene, dem liberalen und demokratisch gesonnenen Bürgertum verbundene Familie. Im kaiserlichen Deutschland waren sie den herrschenden Verhältnissen loyal ergeben und in der familiären Privatheit zufrieden. Es war der autoritäre Staat des wilhelminischen Kaiserreichs, der diese fortschrittsgläubige, assimilierte Schicht von Kaufleuten und Intellektuellen hervorbrachte, die dem aggressiven Antisemitismus eines Hofpredigers Stöcker ebenso misstrauisch und distanziert gegenüberstand wie dem entstehenden Zionismus.

      Else Urys Bücher spiegeln diesen Teil der deutschen Geschichte nicht. Auch die Verwurzelung in der jüdischen Tradition fehlt in den meisten Büchern. Vielmehr erzählen sie Geschichten von glücklichen Kindheiten, in denen die Kindersorgen mit Berliner Humor und geborgen in der Liebe und Fürsorge der Eltern bewältigt werden. Wer dieser Grundstimmung ihrer Erzählungen nachspürt, mag sich auch Else Urys Kindheit vorstellen. Gut behütet in einer großen Familie, wuchs sie dicht beim Alexanderplatz auf. Die Familie wohnte damals in der Heiligegeiststraße, ganz nah bei der Heidereutergasse mit der alten, später von Bomben zerstörten Synagoge. Nördlich vom Alexanderplatz lag das Scheunenviertel, ein Ort, der zur Zeit ihrer Kindheit als Getto galt, als Unort, der nur mit einem gewissen Schaudern betreten werden konnte. Das Viertel lag ursprünglich vor den Toren Berlins, gut genug für die Scheunen mit dem Vieh für Berlins Märkte. Doch Berlin wuchs rasant und die armen Juden aus Osteuropa zogen ein, die Planjes, wie sie verächtlich – auch in den Familien Ury und Heymann – genannt wurden. Mit ihnen hatte man keinen Kontakt, sie waren undeutsch, der Inbegriff des Fremden. Sie liefen mit Schläfenlocken, schwarzem Kaftan und Kippa umher, hatten zahllose Kinder, machten ›ungute‹ Geschäfte. Es war ein Armenviertel und auch ein Hurenviertel, eine Welt für sich, die ein deutscher Bürger, gleich welcher Konfession, nicht gern betrat. Zur Synagoge Heidereutergasse war es von Else Urys Zuhause nur ein Katzensprung und schon war man in der Stille der Gasse, wo die Gläubigen in den Bethäusern ein- und ausgingen. Wer hier groß wurde, wenn auch als behütetes, kleines Mädchen, vergaß das nie.

      Der Vater, Emil Ury, geboren 1835, hatte das Gymnasium besucht, eine kaufmännische Ausbildung gemacht und war Inhaber der Tabakfirma Jacob Doussin & Co geworden. Doch das Geschäft mit Schnupf- und Kautabak wurde um 1900 von der Zigarettenproduktion verdrängt. Leichten Herzens gab Emil Ury die Fabrik auf. Viel lieber ließ der humorige Mann sich als Festredner auf zahllosen Familienfeiern engagieren. Zeitlebens war er auch ein frommer Mann, der noch ganz in der Tradition des orthodoxen Judentums lebte. Die Kinder wurden im jüdischen Glauben erzogen. 1869 hatte Emil Ury Franziska Schlesinger geheiratet. Auch sie stammte aus einer alten jüdischen Familie. Ihr Vater, ein Kleiderhändler, fühlte sich vor allem als Dichter und Musiker und ließ die Tochter die höhere Mädchenschule besuchen. Franziska Ury wurde als große Kennerin der klassischen Literatur geschätzt. Bildung und Religiosität, zusammen mit einem selbstverständlichen Patriotismus bestimmten das Leben und Denken im Elternhaus von Else Ury. Der älteste Sohn Ludwig, 1870 geboren, besuchte das Gymnasium zum Grauen Kloster, studierte Jura und wurde Rechtsanwalt. Der zweite Sohn, Hans, drei Jahre jünger, wurde Facharzt für Magen- und Darmkrankheiten. Dann folgte Else und das eigentliche Nesthäkchen der Familie, Käthe, vier Jahre danach. Der Haushalt wurde einfach und bürgerlich geführt. Man hatte Hilfskräfte, packte aber auch selbst mit an und erzog die Kinder zu Sparsamkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein.

      Das religiöse Leben spielte in Else Urys Kindheit noch eine bedeutende Rolle. Noch vor dem Beginn der Schulzeit wurde sie an hohen Feiertagen mit in die Synagoge Heidereutergasse genommen. Hätte die Schriftstellerin Else Ury in ihren Backfischromanen je davon berichtet, würde sie wahrscheinlich einen besonderen Feiertag gewählt haben, wie sie in ihren Büchern immer wieder gern und ausführlich die Feste im Kreise der Familie schilderte.

      Stellen wir uns einen kalten, sonnigen Herbstmorgen im Oktober 1882 vor, Jom Kippur, der höchste Feiertag aller Juden. Der Tabakfabrikant Ury machte sich mit seiner Frau und seiner Tochter Else auf, um zur Synagoge zu gehen. Zu Hause hatten die Eltern ihr die Bedeutung dieses Tages erklärt.

      Jom Kippur heißt auch ›der lange Tag‹. Er wird mit strengem Fasten, feierlichem Sündenbekenntnis und in ununterbrochenem Gebet begangen. Es ist der Tag der Buße, an dem Gott den Menschen ihre Sünden vergeben wird. Daher auch der Name ›Versöhnungstag‹. Die Männer im Gottesdienst legen weiße Mäntel um, Symbole des Sterbens und der Buße. Der Vater fastet und auch die älteren Brüder üben sich früh darin, lernen die religiösen Gebote am Vorbild der Eltern.

      Auf dem Fußweg zur Heidereutergasse ist das Außergewöhnliche des Tages deutlich zu spüren. Ein ständiges Kommen und Gehen von festlich gekleideten Männern und Frauen, die teils zur Synagoge streben, teils von dort kommen, erfüllt die Gasse. Die Geräusche des Alltags bleiben hinter ihnen zurück. Die Synagoge entspricht ganz und gar nicht der Vorstellung von prachtvollen Kirchen. Kein riesiges Gebäude, kein Turm, kein verziertes Tor. Ein schlichtes Bürgerhaus, ein Steinbau unter vielen. Durch den überbauten Torbogen treten die Urys in den Synagogenhof. In dem Vorderhaus der Synagoge befindet sich das Quellbad, die Mikwe. Die Mutter erklärt ihr flüsternd etwas vom rituellen Reinigungsbad der Gläubigen. Doch heute herrscht hier Stille, keine Frau, niemand ist zu sehen. Da dem Tempel die Besonderheit vorgeschrieben ist, nicht höher zu sein als ein einstöckiges Bürgerhaus, die Geschlechter sich aber getrennt im jüdischen Bethaus aufhalten müssen, wurde die Synagoge unter das Niveau der Straße gebaut, und man geht einige Stufen hinab, um dann hinaufzusteigen. Hier muss Else sich vom Vater trennen. Für die Frauen