Marianne Brentzel

Mir kann doch nichts geschehen ...


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sie der Kleinen Platz, streicheln und herzen sie. Auf dem Schoß der Mutter sieht sie in den großen Innenraum, der von den Kerzen der vielarmigen Leuchter erhellt ist. Hier umfängt sie eine andere Welt, losgelöst von allem Alltäglichen.

      Die Männer und Knaben – in weiße Sterbegewänder gehüllt, den silberschimmernden Tallit umgelegt, ein Gebetstuch, das über den Mantel gebunden wird und an Jom Kippur weiß-silbern, sonst hell mit dunklen Randstreifen und Fransen ist – bewegen sich heftig vor und zurück, sprechen laut und rhythmisch ihr unverständliche Gebetsformeln. Ein schwarzbärtiger Mann steht an einem Pult und führt einen riesigen Thora-Zeiger über Papierrollen. Nur mit einem Thora-Zeiger, nicht mit der Hand darf die in der Synagoge aufbewahrte Gesetzesrolle berührt werden, auf die die fünf Bücher Moses geschrieben sind. Thora-Zeiger sind aus Silber, Gold oder Holz, oft edelsteinbesetzt und mit Widmungen versehen. Der Mann erscheint dem Kind wie ein Zauberer aus einer Märchenwelt. Elses Augen suchen den Vater. Ein leiser Jauchzer, als sie ihn erkennt. Er kniet am Rand, im weißen Gewand, ihr weit entrückt. Jungen versammeln sich um den Tisch des Bärtigen und beantworten seine halb gesungenen, halb gesprochenen Worte mit rhythmischem Sprechgesang. Else kann sich von dieser Fülle der Eindrücke gar nicht trennen.

      In der Synagoge Heidereutergasse wurde der Gottesdienst noch ganz nach der Väter Sitte in Hebräisch abgehalten, die Gemeinde fühlte sich dem orthodoxen Judentum verpflichtet. Vater Ury entrichtete regelmäßig seinen Obolus für die Gemeinde, feierte am Freitagabend mit der Familie das Shabbesmahl, zündete am Chanukka-Fest die Kerzen an. Die Söhne Ludwig und Hans würden im Alter von dreizehn Jahren die Bar Mizwa feiern, die feierliche Einführung der jüdischen Jungen in die Gemeinde.

      Die Urys und mit ihnen tausende jüdische Bürger lebten als geschätzte Nachbarn, Kollegen, Geschäftspartner. Ihr Leben unterschied sich nur wenig von dem der christlichen Bürger gleicher Schicht. Man respektierte einander. Im Privaten hielt man meist Distanz. Freundschaften über die Konfessionsschranken hinweg gab es nur selten.

      Die jüdischen Frauen führten wie ihre christlichen Schwestern den endlosen Kampf gegen Schmutz und Unordnung und die jüdischen Zeitungen und Ratgeber ermutigten sie, mit ihrem Hausfrauenfleiß nicht nur den Bedürfnissen der Familie Rechnung zu tragen, sondern auch denen der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Staates. Ein gut geführter Haushalt, sorgfältig ausgewählte Möbel und gut gebügelte Kleidung waren die Insignien von Vornehmheit, Kultiviertheit und Bildung. Ein bürgerliches Heim verkündete, dass Juden charakterlich dafür geeignet waren, gleichberechtigte Bürger im neuen Staat zu sein. Mutter Franziska Ury kam all diesen Anforderungen der Assimilation der jüdischen Familie an die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs in hohem Maße nach.

      Und doch gab es im Leben eines jeden Juden und einer jeder Jüdin diesen schmerzlichen Augenblick, an den sie sich zeitlebens erinnerten: wenn sie zum ersten Mal unbarmherzig darauf gestoßen wurden, anders zu sein als die Mehrheit, anders sogar als die, mit denen man gerade noch von gleich zu gleich geplaudert und gefeiert hatte. Dieser ›Verlust der Harmlosigkeit‹, wie es ein jüdischer Zeitzeuge nannte, konnte vielerlei Gestalt annehmen.

      Auch Else Ury wird diesen Augenblick als Kind erlebt haben und sicher nicht, wie der Neffe aus der nächsten Generation, von sich gesagt haben: ›Ich wusste als Kind gar nicht, dass ich ein Jude war.‹

      Lange vor Beginn der massentouristischen Zeiten kam unter den wohlhabenden Familien die Sommerfrische in Mode. Es könnte also im Urlaub an der Ostsee gewesen sein.

      Die Familie fährt mit Kinder- und Stubenmädchen, mit Hutschachteln und Schrankkoffern, mit Sandschaufeln und Spielzeugkisten ans Meer. Im Haus Meeresblick bei den Wirtsleuten Petersen wird Quartier genommen. Die Suite mietet man für drei oder vier Wochen. Kinder zahlen die Hälfte. Zu zahlen war nicht wenig. Auch an der Ostsee wollten die Leute Geld verdienen. Der Wohlstand aus Berlin schwappte auch nach Warnemünde über. Einig Deutschland machte die Geschäfte flott.

      Da läuft ein kleines dunkel gelocktes Mädchen in Spielhosen zum Meer, hüpft und springt, fällt in den weichen Sand und steht jauchzend wieder auf. Hinter ihr, ruhig und vornehm, das Kinderfräulein in weißer Krinoline, mit weißem Sonnenhut, den Sonnenschirm aufgespannt. Hier kann sie das Kind ruhig allein laufen lassen, muss nicht ständig Acht geben wie in den gefährlichen Straßen Berlins. Das Kind hat eine Spielgefährtin entdeckt, ein blondes, fast gleich großes Mädchen steht am Wasser. Es wirft den bunten Ball in die Wellen, die Wellen tragen ihn zurück. Jetzt sind die Kinder auf gleicher Höhe. Köpfe nicken, man hat sich bekannt gemacht. Das Spiel mit dem Ball in den Wellen macht gemeinsam noch mehr Spaß. Das Fräulein sitzt mit ihrer Handarbeit bequem im Strandkorb, genießt die Ruhe. Kinder laufen über den morgenleeren Strand, rufen, balgen, bespritzen sich kreischend mit Wasser. Sie schließt entspannt die Augen, öffnet sie einen Spalt. Ein beruhigender Blick zu der Kleinen. Ihr geht es gut.

      Plötzlich zerbricht die Stille. Ein spitzer Schrei. Das Kind wirft sich dem Fräulein entgegen. Geschüttelt von Weinen, unfähig zu sprechen. Wer hat ihrem Elschen etwas angetan? Wo sind die Bösewichter? Da laufen zwei, drei größere Kinder davon. Was ist passiert? Kein Wort. Nur Tränen. Sie trägt das Kind zum Strandkorb. Die Hände hält Else fest über dem Kopf zusammen, lässt sie nicht los. Schließlich erfährt das Fräulein den Kummer. Jude. Judenkind, haben sie geschimpft. Braun sei sie, nicht blond. ›Juden sind immer braun‹, hat der fremde Junge gesagt. ›Nur blond, blond wie Gold, das ist schön‹, haben sie gesagt.

      Das Kinderfräulein nimmt die Kleine an die Hand, zieht sie mit sich. Die Erzieherin dachte wie die Eltern Ury: Religion ist Privatsache. Die neue Mode, überall Juden aufzuspüren, war ihr gänzlich fremd. Im Hause Ury wird nicht über Angriffe auf Juden gesprochen. Man muss das Gerede einfach nicht beachten. Aber wenn jetzt schon die unschuldigen Kinder von Gleichaltrigen beschimpft werden! Es mag sein, dass auch Emil und Franziska Ury Bilder aus der Kindheit einfallen. Jeder hat sein Erlebnis des Ausgestoßenseins tief in sich vergraben. Sie versuchen, unbefangen zur Tagesordnung einer Familiensommerfrische überzugehen. Vielleicht hat der Vater, der immer so gern Geschichten erzählte, seine Tochter zu einem Spaziergang mit ans Meer genommen und ihr das Märchen von Schneewittchen erzählt, von dem Mädchen, weiß wie Schnee und rot wie Blut, und die Haare waren schwarz wie Ebenholz, und das Mädchen war sehr schön …

      Zusammen mit den Geschwistern wuchs Else in einem großen Kreis von Verwandten auf, die häufig zu Besuch kamen. Manches Mal fuhr man auch in Richtung Westen, in das damals noch selbstständige Charlottenburg, staunte über die Anlage neuer Prachtstraßen und Kaufhäuser. Mit der Pferdedroschke ging es zum Eingang des Zoologischen Gartens, der 1844 erbaut worden war und als der älteste Zoo Deutschlands gilt. Auf dem Weg dorthin erlebten die Geschwister aus der Kutsche heraus den geschäftigen Alltag der Hauptstadt, der einen kolossalen Wirbel entfaltete, als wolle er den behüteteten Kindern aus dem alten Berlin einmal mit ganzer Kraft vorführen, was wirklich Großstadt war: schimpfende Kutscher, schreiende Zeitungsausrufer, schnauzende Händler mit Holzkarren, keifende Marktweiber, Horden von bettelnden Straßenjungen, Blinde, die armselige Waren am Straßenrand anboten, Krüppel, die ihre Hand nach einer Münze ausstreckten, dickbäuchige Polizisten mit Pickelhauben, die den immer dichter werdenden Verkehr durch Trillerpfeifen zu regeln suchten, Plakatwände mit bunten Bildern, die an dem Fenster der Droschke so schnell vorbeiglitten, dass die Kinder die aufgedruckten Herrlichkeiten kaum erkennen konnten.

      Im Oktober 1884, wenige Wochen vor ihrem 7. Geburtstag, kam Else Ury in die Königliche Luisenschule. Das Lyzeum in der Ziegelstrasse im heutigen Bezirk Mitte war damals die einzige städtische höhere Töchterschule Berlins. Die Mädchen bekamen Unterricht in allen Fächern, die man für angemessen und nützlich hielt, die korrekte Entwicklung der späteren Ehefrauen von Fabrikanten und höheren Beamten zu gewährleisten. Viele bekannte adlige Namen waren dabei. Erst vor wenigen Jahren wurde eine Gedenktafel an dem Gebäude enthüllt, die der im Nationalsozialismus vertriebenen Lehrer und berühmter Schülerinnen gedenkt, unter ihnen die Dichterin Paula Dehmel, die Malerin Julie Wolfthorn, die Sozialpolitikerin Hannah Karminski und selbstverständlich auch Else Ury.

      »Von der untersten Klasse der Berliner Luisenschule an haben wir auf der Schulbank zusammen gesessen, machten wir gemeinschaftlich unsere Kinderstreiche (…), hielt uns eine innige treue Freundschaft miteinander verbunden«, schrieb Margaret Levy, Else Urys langjährige