Marianne Brentzel

Mir kann doch nichts geschehen ...


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die Kinderfräulein im Pausenhof auf ihre Schützlinge warten. Die Mütter füllen unterdessen die Schultüten mit süßen und nützlichen Kleinigkeiten und arrangieren die Einschulungsfeier, zu der auch die Großeltern und die Tanten eingeladen sind. Auch bei Familie Ury wird es so gewesen sein. Nehmen wir Nesthäkchens Schulanfang als die Erfahrung ihres eigenen.

      »Nesthäkchen kannte das große, rote Gebäude in der Ziegelstraße bereits von der Anmeldung. Aber als sie jetzt zum ersten Mal als richtiges Schulmädchen die breiten Steintreppen hinaufstieg, fasste sie doch eingeschüchtert Fräuleins Hand. Einen tiefen Knicks machte sie vor dem Schuldiener. Das Fräulein schob sie behutsam zur Klassentür hinein.«

      Das erste Schuljahr ging seinen üblichen Gang; bei Else Ury 1884, bei Nesthäkchen circa 25 Jahre später. Else Ury hatte noch einen männlichen Klassenleiter, denn erst 1888 erlaubte der neue Direktor, dass die jüngeren Jahrgänge Klassenlehrerinnen bekamen.

      Schreibend hat sich Else Ury ihrer eigenen Kinderträume und Traurigkeiten erinnert. Da ist der Wunsch, ein Junge zu sein, Hosen anzuziehen, die unbekannte, aufregende Welt zu erforschen. Anfangs ist Nesthäkchen ein ›Wildfang‹ – ein damals beliebtes Motiv der Mädchenliteratur –, der gezähmt werden muss. Eine der bewährten Methoden zur Zähmung war das Stricken, was Else Ury, so ihr Neffe Klaus Heymann, nie gemocht hat.

      Wie alle Erstklässler, die gerade Lesen lernen, verwechselt das Nesthäkchen anfangs einzelne Buchstaben und mag plötzlich nicht mehr an dem Schlächterladen vorbeigehen. Ängstlich schmiegt sie sich an das Fräulein. »Das Schild, stieß das Mädchen zitternd hervor und hielt sich die Augen zu. ›Rind- und Schweineschlächterei‹ konnte man lesen. Das Fräulein konnte beim besten Willen nichts Schauriges entdecken. ›Schnell, komm schnell vorbei‹ bestürmte das Kind in höchster Aufregung. Das Fräulein will endlich wissen, was das Mädchen so aufregt. Schließlich kommt es heraus. Sie hatte versehentlich: ›Kind- und Schweineschlächterei‹ gelesen. Als die Freundin sie neckte: ›Die hat geglaubt, der Schlächter macht Wurst aus ihr‹, da war es ihr doch recht peinlich, dass sie ausgelacht wurde.«

      Der Zwang zu gutem Benehmen und Ordnung ist ihren Heldinnen eine lästige Pflicht. Der Tagesablauf eines Schulmädchens in Berlin um 1885 war streng geregelt und ließ nicht viel Zeit zum Träumen.

      Der Stundenplan des Lyzeums legte großes Gewicht auf Handarbeit, Zeichnen, Gesang, Religion, Gesellschaftstanz, englische und französische Konversation, deutsche Sprache und Literatur. Rechnen, Geschichte und Geografie spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Die Mädchen übten den Hofknicks und spielten Klavier. Zum Unterricht an den Mädchenlyzeen bemerkt Helene Lange sarkastisch: »Man lernte nicht übermäßig; der Verstand wurde so weit geschont, dass man ihn nachher noch hatte.«

      Der Bereich der häuslichen Pflichten erweiterte sich von Jahr zu Jahr ein wenig. Die Mädchen stickten immer kompliziertere Muster in die Deckchen und hungerten nach Abwechslung.

      Else Ury wird so ähnlich gelebt haben. Ein paar Besonderheiten gab es für Mädchen mit jüdischer Tradition. Im Hause Ury wurde jeden Freitagabend ein ›Shabbes-Mahl‹ gereicht. Die hohen Feiertage hielt Vater Ury mit Beten und Fasten ein. In der Schule, in der ein religiös toleranter Geist herrrschte, hatten die jüdischen Kinder ganz selbstverständlich parallel zum christlichen einen jüdischen Religionsunterricht. Und doch ist anzunehmen, dass es immer mal wieder verletzende Äußerungen von Mitschülerinnen gab, die sich durch antisemitische Beschimpfungen hervortun wollten. Der Verlust der Harmlosigkeit hatte viele Gesichter.

      Jugend in Berlin

      1890 – 1899

      Else Ury trug die langen, braunen Locken zu Zöpfen geflochten oder, wie es Mode wurde, zu Kränzen aufgesteckt. Sie blieb zeitlebens klein, nur knapp einen Meter fünfzig. Auf den Fotos als Erwachsene hat sie große, dunkelgraue Augen. Die scharf geschnittene Nase steht in deutlichem Kontrast zu dem sanften Blick dieser Frau.

      Wie ist sie eine Frau geworden? Die späteren Backfischgeschichten von Else Ury erzählen heitere Anekdoten von Schulalltag und Mädchenfreundschaften in Nachmittagskränzchen, von Tanzstunde und Neckereien mit den Freunden der großen Brüder. Konflikte gab es nur wenige.

      Ein vierzehnjähriges Mädchen erfuhr nicht viel von der Welt, von Streik und Umsturz schon gar nicht. In den Schulen der Wohlhabenden wurde nicht von der Armut gesprochen. In Berlin lebten um 1890 eineinhalb Millionen Einwohner. Die Mehrheit wohnte in eilig hochgezogenen Mietskasernen, über hunderttausend Berliner kamen in schwer beheizbaren Kellerwohnungen unter. Die Welt der Mietskasernen war für die Kinder des Bürgertums so weit weg wie Afrika und Alaska. Die Stadtbahn fuhr auf einigen Strecken bereits mit Elektrizität. Zwischen Alexanderplatz und Tiergarten pendelten die Pferdebahnen. Der Kurfürstendamm schickte sich an, der Geschäfts- und Promeniermeile Unter den Linden den Rang abzulaufen. 1895 wurde mit großem Pomp die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingeweiht. Mit der neu eröffneten Stadtbahn allein durch die wirbelige Großstadt zu fahren war den jungen Mädchen ganz sicher verboten.

      Der Kaiser hielt Hof. Wilhelminisches Zeitalter. Mal in Potsdam, mal in Berlin entfaltete sich der fürstliche Glanz. Einige Mädchen aus Else Urys Klasse übten nicht nur den Hofknicks, sie praktizierten ihn auch, wenn der Vater wieder einmal zum Kaiser gerufen wurde.

      Die Urys waren nicht dabei.

      Der Vater erzählte ab und zu von interessanten Erfindungen, von Telefon, Grammophon und Kinemathek. Ihre Kinder- und Jugendromane spiegeln Else Urys Begeisterung für technische Neuerungen und die modernen Reisemöglichkeiten. Sie erzählte immer gern von Reisen und gab den jungen Mädchen nützliche Tipps für die Vorbereitung ihrer Ausflüge mit auf den Weg. »Reist mit offenen Augen!«, heißt es bei ihr.

      Die Welt der jungen Mädchen ist klein und eng, fest gefügt und wohlhabend. Es geht ständig aufwärts. Der Kaiser wird es schon richten. Hauptsache, im persönlichen Leben passiert nichts Unerwartetes: Krankheit, Tod, ein Firmenzusammenbruch, eine unpassende Liaison der heranwachsenden Kinder, gar ein uneheliches Kind. Sonst lebt man in der besten aller möglichen Welten. Dieses Lebensgefühl beherrschte weite Kreise des bürgerlichen Mittelstands, und die Töchter hatten schon gar keine Sorgen zu haben, bis auf die eine: heranzublühen für die Ehe, die die Eltern für sie beschließen und ausrichten.

      1894 war die zehnte Klasse die letztmögliche Schulklasse für Frauen. Mädchengymnasien gab es noch nicht in Berlin, lediglich ›Realkurse‹, in denen die Mädchen auf das externe Abitur vorbereitet werden konnten. Ein Studium für Frauen war in Berlin noch nicht erlaubt. Erst 1908 hob der preußische Staat das Immatrikulationsverbot für Frauen auf. Nur in den südlichen deutschen Staaten und in der Schweiz wäre ein Studium möglich gewesen. Käthe, die jüngste Tochter der Familie, wird ein Lehrerinnenseminar besuchen.

      Der Überlieferung nach lernte Else Ury, wie es üblich war, nach dem Schulabschluss im Elternhaus den Haushalt. Mit ihrer Mutter ging sie hin und wieder ins Theater oder in Konzerte und wurde auf Bällen und Vergnügungen ›in die Gesellschaft eingeführt‹, um schlussendlich, ihrer Bestimmung gemäß, verheiratet zu werden.

      Else Ury hat nicht geheiratet. Ihre Bücher geben keine Erklärung für dieses Ausbrechen aus dem konventionellen Muster. Selbst die Freundinnen von Nesthäkchen, die eine Zeit lang selbstständig leben und sich ihren Lebensunterhalt verdienen, ereilt schließlich doch noch das Eheglück. In nur wenigen Büchern steht eine unverheiratete Frau im Mittelpunkt des Geschehens. Meist bleiben sie liebenswerte Randfiguren, tüchtige Dienstboten, alte Tanten, kluge Lehrerinnen oder – in späterer Zeit – sozial engagierte Fürsorgerinnen. In den 1930er Jahren ändert sich das. So im Jugendroman Das Rosenhäusel, in dem für die Heldin eine eigenständige Existenz als berufstätige Frau vorstellbar wird. Else Ury wurde eine begeisterte Anhängerin der bürgerlichen Frauenbewegung und befürwortete die Ausbildung und das Studium für Frauen. Nirgendwo wird das so deutlich wie in dem Roman Wie einst im Mai von 1930 mit dem Untertitel ›Vom Reifrock bis zum Bubikopf‹.

      Die Kreuzzeitung vom 6. Dezember 1930 schreibt dazu: »Die Erzählung beginnt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts im alten Berlin und schildert die Kämpfe junger Mädchen um ein selbstständiges Wirken außerhalb des engen, häuslichen Kreises. Das Buch ist von so