Tom Wolf

Feuersetzen


Скачать книгу

gesehen, an denen sich Dächer überlappten!

      »Gibt es denn zwei Volpis?«, fragte der Gnom aufblickend. Er erkannte die Handschrift des Freundes und einstigen Mentors und fügte hinzu: »Ich stehe in Hanno Schuld – er hat mich im Schreiben und Archivieren unterwiesen!«

      »Warum habt Ihr das Attendorner Stift verlassen?«, fragte Volpi.

      »Ich hatte keinerlei Weihe, ich war nur Schreiber und Kopist. Ich wollte aber noch nicht mit dem Leben abschließen, ich wollte erst die Welt sehen! Nach meiner Zeit bei den Chorherren bin ich erst lange herumgezogen, hab etwa gegen Geld für die Illiterati Liebesgedichte und Briefe geschrieben oder mich von fahrenden Wunderdoktoren als Kuriosität vorführen lassen … Auch mit Artisten bin ich herumgezogen! Eine Zeit lang … Schließlich landete ich in Goslar. Nach zwei Jahren als Bergschreiber in der Grube des Stifts Neuwerk hatte ich Glück im Unglück … im Bergunglück, wenn man so will. Bei einem Unfall wurde ich verletzt, und unter den Bergherrn, die sich ein Bild der Lage machten, war Daniel Jobst, Goslars reichster Wandschneider, der am Neuwerk Anteile besaß. Wir freundeten uns an – über die Literatur … Herr Jobst hat mich dem Rat empfohlen. Daraufhin durfte der alte Ratsarchivar endlich seinen Dienst quittieren und auf den Turm von Sankt Stephani ziehen …«

      Bartholdi lächelte über diesen Erinnerungen und musterte Volpi aufmerksam. Diese Italiener waren von Natur aus dunkler, so schien es … Die schiere Höhe einmal außer Acht gelassen … Reisende Humanisten, fahrende Weltmänner – wie beneidete er sie! Sehr glücklich sah der Große aber nicht aus. Etwas schien ihm über die Leber zu laufen … Sah ganz nach einer Laus aus …

      »So ist der Traktat über den Hedonismus gar nicht von Euch?«

      »Nein, bedaure …«, sagte Volpi. »Und Tomaso schrieb zudem die Traktate über das Glück, über die Spektren und den Witz. Aber von mir sind das Botanologicon und die Traktate über die Zahlen, die Blumen, den Urin und die Heuschrecken.«

      »Ach? De urinis … Das schätze ich sehr!«, sagte Bartholdi, und seine Augen leuchteten.

      Volpis Lächeln war wie ein flüchtiger Sonnenstrahl, der durchs Gewölk stach.

      »Lasst mich in eurem Harn lesen, und ich sage Euch, ob Ihr den Steinschneider braucht …«

      Bartholdi schüttelte sich leicht pikiert und sagte:

      »Über die Heuschrecken? … Davon habe ich noch nie gehört!«

      »Diese Abhandlung ist auch noch ungedruckt«, sagte Volpi. »Vielleicht bleibt sie’s sogar … Ich habe darin Regio-Albanus angegriffen, der ein zwölftes Stück von Aristophanes entdeckt haben will – eben Die Heuschrecken –, das doch offenkundig von ihm selbst stammt … Ich für meinen Teil lehrte bis vor einem halben Jahr in Padua die Rechte. Zudem Logik, Kasuistik und Naturlehre, vor allem Medizin und Botanik.«

      Bartholdi gluckste erstaunt.

      »Was verschlägt Euch dann hierher? Mit Logik oder Kasuistik ist in Goslar kein Brot zu verdienen. Nennt mir etwas, das weniger mit Logik zu tun hätte, als die Ratschlüsse des Goslarer Rates, und ich trete Euch sofort meine gut dotierte Stelle ab! Und wie wollt Ihr in einer Stadt wie dieser je die Morallehre kasuistisch auf den Einzelfall anwenden, wo Moral den Hiesigen so gänzlich abhold ist? Für die Bergwerke seid ihr zu groß, und um die Rechte schwirren Syndici wie Schmeißfliegen. Wir können uns nicht retten vor Rechtsverdrehern! Botanik und Medizin … Das wär zwar auch kein lohnendes Gewerbe für Euch hier, doch zwei interessierte Gesprächspartner hättet Ihr. Otto Herbst, der Feuerhüter des Rammelsberges, ist ganz verrückt nach der Botanik. Ihm gehört der schönste Garten weit und breit, drüben am Steinberg, gleich neben der Kupferhütte seines Bruders Hans …Und auch Damian Baader, unser Medikus und Stadtchirurgus, zöge sicher gerne Gewinn aus einem Gedankenaustausch mit Euch. Er hat in Paris studiert, bei Winter von Andernach.«

      Bartholdi hielt inne und besann sich. Dieser Volpi hatte Hanno als Fürsprech. Aber bevor er einen Gelehrten auf die Stadt losließ, musste er doch wissen, wie es um dessen Liquidität bestellt war? Davon hinge schließlich auch ab, wen man um Beherbergung bitten könnte …

      »Woher habt Ihr das Geld, in unserer armen, aber teuren Stadt Quartier zu nehmen? Jetzt dämmert mir’s: Ihr seid gar kein Magister, sondern ein Kaufmann, der aus unserer Misere Kapital schlagen will! Billig einkaufen wollt Ihr hier, wo alles die Abzucht runtergeht, gebt’s zu! Da denkt Ihr, man könnte uns jeden Preis nennen, für Tuche, für Silber, für Kupfer … Wir müssten ja doch akzeptieren. Wenn Ihr Euch da mal nur nicht täuscht! Es stimmt zwar, dass der Handel Einbußen erlitten hat. Und er wird zweifellos durch den Herzog noch weitere erleiden … Aber all die Kaufleute, die bis heute durchhielten, werden auch die stärkste Krise, die noch kommen mag, überstehen!«

      Der Kleine hatte sich kampfeslustig in die Brust geworfen. Volpi schüttelte belustigt den Kopf. »Kein Gedanke an Handel, ich darf Euch beruhigen. Für mein Auskommen sorgt der Hauptmäzen des Botanischen Gartens in Padua, dem sehr an meinem Wohlergehen und an meinem Auftrage gelegen ist. Er will mich heil wiedersehen mit all meinen Sämereien, denn ich soll ihm in Padua einen deutschen Garten anlegen. Das ist der Hauptgrund meiner Reise durch die nördlichen Provinzen Germaniens … ich meine Euer schönes, wildes, heiliges deutschrömisches Reich … Ich sammele auch Pflanzenbeschreibungen und sende alles an botanischen Büchern, was ich irgend kriegen kann, meinem Herrn. Außerdem … wünscht er, Bartholomeo von Bacchiglione, für seine Gemahlin, die schöne Monika … ein längeres … Gedicht …«

      Er stockte. Bartholdi bemerkte, wie Volpis Adamsapfel eine Berg- und Talfahrt am feinen Hals vollführte …

      »… über Goslar, denn sie wurde in dieser wunderschönen Stadt geboren und wuchs hier auf. Das wird die meiste Zeit meines Aufenthalts in Anspruch nehmen.«

      Im Grunde schätzte Volpi, wenn er ehrlich war und die Hartnäckigkeit seiner Schreibhemmung in Rechnung stellte, dass es ein Aufenthalt für immer werden würde …

      »Monika von Bacchi… Bacchiglione?«, fragte Bartholdi. »Aus Goslar?«

      Volpi reichte als Erklärung nach: »Ihr Geburtsname ist Borngräber, ihr Vater Gerhard hat das Glockengießen beim großen Henrich Schellhorn gelernt.«

      Bartholdi merkte auf:

      »Ist sie eine Schwester des Buchdruckers? Der letztes Jahr mit 54 gestorben sein soll, in Köln?«

      Volpi zuckte die Achseln: »Sie ist auch schon über Fünfzig. Ich weiß nur, dass ihre Mutter Gundel Borngräber, geborene Schellhorn war und nach der Geburt ihres dritten Kindes dreißigjährig am Kindbettfieber starb. Monika kam mit ihrem Vater und einem ihrer beiden Brüder nach Rom. In der ewigen Stadt lernte sie Bartholomeo von Bacchiglione kennen. Da sie seither die Sehnsucht nach der Stadt, in der sie ihre Jugendjahre verbrachte, in ihrem Herzen trägt, soll ich zu ihrer Erbauung das alte Goslar in einem Poem wiedererstehen lassen.«

      Bartholdi lachte. »Eine schöne Aufgabe. Ich wünsche Euch die nötige Muße zu einem solch ehrbaren Unterfangen! Bei der Gelegenheit könnt Ihr all das, was inzwischen nicht mehr steht, wieder aufbauen – das Bergdorf, das Kloster Sankt Peter und das Georgenkloster, die Reepervorstadt und die Grabeskirche.«

      Bartholdis Lächeln wurde hämisch. Ein Poem über Goslar? Der Arme, da wollte er nicht mit ihm tauschen … Auch die Großen hatten es nicht leicht. Beruhigend und erhebend zu wissen.

      »Ich brauche also eine Bleibe für eine gewisse Frist …«, sagte Volpi. »Eine Unterkunft, in der ich einigermaßen ungestört meinen Gedanken nachhängen und dichten kann. Wenn’s geht mit Zugang zu einer Bibliothek wie der Euren.Wie könnte ich je ohne die Bücher sein, ohne die Lichter in meiner Einsamkeit? Gibt es einen belesenen gastfreien Mann am Ort, der bereit ist, mich ab und an mit einem Buch zu unterstützten? Und wenn’s nur etwas Livius wäre … Meiner Heimatstadt größter Sohn, vor mir … Ich vermisse seine Römische Geschichte über die Maßen, auch wenn ich das meiste auswendig kann …«

      Er lachte und war froh, dass Bartholdi einstimmte. Niemand lernte auch nur eines der 142 Bücher Ab urbe condita von Titus Livius