Willy Wimmer

Wiederkehr der Hasardeure


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(Oblivionsklausel). Nach Auffassung der damaligen Vorkriegszeit war die Kriegsschuldfrage also irrelevant. Das Führen von Kriegen galt als legitimes Recht der souveränen Staaten zur Durchsetzung ihrer Interessen. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs gewann die Kriegsschuldfrage vor allem deswegen eine so große Bedeutung, weil dieser Krieg von allen beteiligten Völkern so unvergleichlich hohe Opfer an Toten und Versehrten forderte. Dadurch war der Rechtfertigungsdruck, den die Öffentlichkeit insbesondere auf die französischen und britischen Politiker ausübte, außerordentlich stark. Die Politiker lenkten mit ihrer Propaganda diesen Druck auf den Feind ab. Als Folge zwang dann später der Hass auf den Feind die demokratisch legitimierten Politiker der Siegermächte dazu, in Versailles Vergeltung zu üben.

      In den Jahrhunderten nach dem Westfälischen Frieden bildete sich in Europa die Auffassung heraus, dass Kriege sich auf die gegenseitige Bekämpfung der feindlichen Streitkräfte zu beschränken haben. Die Ausdehnung der Kriegshandlungen auf das ganze Volk ist eine bedauerliche, wohl aber unvermeidliche Folge der Bildung von Nationalstaaten, der allgemeinen Wehrpflicht und der Demokratisierung, mithin also eine Folge der Französischen Revolution. Außerdem wurde der Krieg durch die Entwicklung der modernen Waffentechnik entmenschlicht.

      Die schon während des Krieges einsetzende wissenschaftliche Erforschung der Kriegsursachen stieß zwangsläufig an Grenzen. Während sich 1917 die russischen Archive und 1918 die deutschen öffneten, bleiben die französischen, englischen und amerikanischen weiter unter Verschluss. Zugegriffen werden konnte nur auf die »Farbbücher«, die ja ausschließlich der Propaganda gedient hatten. Zudem erschwerten apologetische und ideologische Vorgaben die unvoreingenommene Prüfung. In diesem Dilemma untersuchten die meisten Historiker vor allem die Ereignis- und Entscheidungsabläufe während der Julikrise 1914 und zu Kriegsbeginn. Als Lackmustest dienten in erster Linie die Randnotizen des Kaisers, der u. a. auf einen Bericht vom 11. März 1914 von Botschafter Graf Friedrich von Pourtalès in St. Petersburg schrieb: »Als Militair hege ich nach allen Meinen Nachrichten nicht den allergeringsten Zweifel, dass Russland den Krieg systematisch gegen uns vorbereitet; und danach führe ich meine Politik.« Welche Beweiskraft sollen derartige, in einer kaum nachfühlbaren Stimmungslage hingeworfene Notizen haben? Sagen sie etwas über den Charakter aus? Über die Umsetzung in konkrete Politik?

      An dieser Stelle sei an die Kommunikationspanne des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan erinnert. Für eine fünfminütige Radioansprache richtete er sich mit folgenden Worten in das vermeintlich ausgeschaltete Mikrofon an das amerikanische Volk: »Liebe Landsleute, ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung.«1 Ein großer Schock in der frostigsten Zeit des Kalten Krieges! Reagan bezeichnete die Äußerung im Nachhinein als einen misslungenen Scherz, mit dem er einen satirischen Seitenhieb auf diejenigen austeilen wollte, die ihn als Kriegstreiber hinstellten. Seine politischen Randnotizen könnten vielleicht darüber Auskunft geben, wie ernstgemeint der Satz tatsächlich war. Dennoch käme heute kein Mensch auf die Idee, Reagans Gesamtpolitik an diesem Satz zu messen und Kriegsabsichten aus ihm herauszulesen.

      Gerade für eine wissenschaftliche Beurteilung ist es notwendig, aus den zentralen, autorisierten Äußerungen und Handlungen eines verantwortlichen Staatsmannes ein Gesamtbild zu erstellen und seine Absichten transparent zu machen. Außerdem muss an alle Parteien die gleiche Messlatte angelegt und jede Perspektive für sich ausgeleuchtet werden.

      Sowohl Wolfgang Effenberger als auch Willy Wimmer hatten während des Kalten Krieges auf unterschiedlichen Ebenen Einblick in das geplante atomare Gefechtsfeld der NATO im Fall einer militärischen Konfrontation und sind daher durch die aktuellen Entwicklungen entlang der historischen Seidenstraße äußerst beunruhigt.

      Denn die gleichen Kreise, die vor hundert Jahren nationale Konflikte für ihre Interessen instrumentalisierten, sind heute wieder am Werk. Wieder wird bedenkenlos gepokert und dabei billigend die Gefahr eines Weltkrieges und damit neues unermessliches Leid in Kauf genommen. »Washington is pushing the crisis toward war«, schrieb Reagans ehemaliger Vizefinanzminister Paul Craig Roberts am 15. April 2014.2 Und der streitbare Linguist Noam Chomsky rät den Bürgern demokratischer Gesellschaften angesichts der weltweiten Aktivitäten der amerikanischen Geheimdienste und ihrer Angriffe auf die Demokratie, sie sollten »Kurse für geistige Selbstverteidigung besuchen, um sich gegen Manipulation und Kontrolle wehren zu können.«3 Die Intellektuellen hätten die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.

      Diesen Versuch wollen wir, Wolfgang Effenberger und Willy Wimmer, mit »Wiederkehr der Hasardeure« wagen. Das Werk ist nicht nur ein weiterer Beitrag zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Vielmehr soll es Hintergründe aufzeigen, die auch die aktuelle Weltpolitik verstehen helfen.

      Pöcking/Jüchen im Juli 2014

ERSTES BUCH

      Einführung

      In den gewitterschwülen Juli- und Augusttagen des Jahres 1914 ging die Friedensordnung in Europa unter, im Kriegsverlauf zerbrachen die Strukturen der bürgerlichen Vorkriegsgesellschaft, und zwar sowohl bei den Verlierern als auch den Gewinnern. Auslöser war das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo – der Hauptstadt des zu Österreich-Ungarn gehörenden Kronlandes Bosnien-Herzegowina.

      Wer stand wirklich hinter dem Attentat? Was sollte es bewirken, und wer wollte davon profitieren? Laut dem jugoslawischen Historiker Vladimir Dedijer4 wurden damals nicht weniger als sieben Staaten und vier politische Gruppen der Urheberschaft beschuldigt, darunter die Regierungen bzw. Geheimdienste von Serbien, Russland, Ungarn, Österreich, Deutschland, Frankreich und England sowie Juden, Freimaurer und Anarchisten. Mit Resignation muss man feststellen, dass nach einem Jahrhundert die Hintergründe noch immer nicht offengelegt wurden. Das Interesse an den Ursachen hält sich indes – aus welchen Gründen auch immer – trotz des Jubiläumswirbels in Grenzen.

      In den deutschen Medien steht immer wieder die Person Wilhelms II. im Zentrum des öffentlichen Interesses, dem von vielerlei Seiten die Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschoben wird, und es gibt wenig Widerspruch. Wie konnte sich diese Sicht derartig zementieren? Bereits ein Jahr nach Kriegsausbruch kam in London das Buch »J’accuse« des im Schweizer Exil lebenden Deutschen Richard Grelling heraus. Er spricht vom »Hohenzollernschen Eroberungskrieg« und klagt den Kaiser an. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer (1908–1999) führt mit seinem 1961 erschienenen Werk »Griff nach der Weltmacht« die These von der deutschen Alleinschuld bis an sein Lebensende konsequent fort, gefolgt von Schülern, die seinen Ansichten folgen. Daneben gibt es auch Geschichtsforscher, welche auf andere Kriegsbeteiligte als nicht weniger Schuldige verweisen. Mit der bei vielen deutschen Historikern typischen Verbissenheit wird so in der Nachbetrachtung des Ersten Weltkriegs um Kriegsschuld versus Kriegsunschuld gefochten.

      Im Vorwort hält Fischer fest, dass sein Buch weder Anklage noch Verteidigung sei. »Beides ist nicht Aufgabe des Historikers.«5 Dieser habe Tatsachen festzustellen, sie in den Zusammenhang von Ursachen und Folgen einzuordnen und die Vorstellungen, Zielsetzungen und Entschlüsse einzelner Personen als Faktoren der politischen Willensbildung zu »verstehen«, ohne zu zensieren oder zu entschuldigen. Auch sollte der Historiker vermeiden, vereinfachend und damit entstellend für eine später als verhängnisvoll erkannte Entwicklung einen »Sündenbock« an den Pranger zu stellen.

      Der von den anderen Großmächten Europas als so bedrohlich empfundene »Griff nach der Weltmacht« Deutschlands war vornehmlich eine Geschichte des Scheiterns. Dem Kaiserreich war es nicht gelungen, die Zusammenschlüsse der Ententemächte 1904 und 1907 zu verhindern. Bei allen kolonialen und internationalen Streitigkeiten, ob in Samoa, Marokko, Westafrika, Südamerika oder am Persischen Golf, gingen die Diplomaten Wilhelms II. als Verlierer vom Platze. Nur in der bosnischen Annexionskrise konnte sich Berlin erfolgreich für die Interessen Wiens einsetzen – was sich indes als Pyrrhus-Sieg herausstellen sollte. Inzwischen gilt Fischers These, Deutschland habe im Juli 1914 den Weltkrieg entfesselt, weil es nach »Weltherrschaft« strebte, als wissenschaftlich abgetan. Fischers Verdienst bleibt jedoch, die Diskussion über den Ursprung des Krieges grundsätzlich angeregt