Willy Wimmer

Wiederkehr der Hasardeure


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die Analyse der Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika. Deren Aufstieg zur einzigen Weltmacht ist untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden und nimmt daher in dem Buch größeren Raum ein. Amerikas Eintritt hat den Sieg der Entente erst ermöglicht und damit auch das Ergebnis von Versailles.

      Die Ungerechtigkeiten des Vertrags von Versailles waren eine der wesentlichen Ursachen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Danach konnten die USA ihren Brückenkopf Europa mit dem Zentrum in der neu geschaffenen Bundesrepublik Deutschland weiter ausbauen. So zieht sich die Linie der erfolgreichen Strategie der USA über den Kalten Krieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion bis in die Gegenwart, in der, wie Willy Wimmer zeigt, die Bruchlinien des Ersten Weltkriegs erneut aufreißen. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch die Nahost-Expertin Karin Kneissl. Für sie tobt im Nahen Osten immer noch der Erste Weltkrieg.10 Resigniert stellt sie fest: »Es sind unglaublich viele Feiglinge am Werk; es fehlen die Denker mit Rückgrat.«11 Paralysiert stehen sie als Gefangene der eigenen Geschichte vor den Problemen der Gegenwart. Doch nur wer die Vergangenheit reflektiert, kann die Konflikte der Gegenwart lösen und ein Fundament für eine friedlichere Zukunft schaffen.

      Neben dem Krisenherd in Nahost hat sich die Ukraine in den Fokus geschoben. Auch hier liegen die Ursachen weit zurück. Schon Bismarck strebte als wichtigstes geopolitisches Ziel die Trennung der Ukraine von Russland an. Heute konstruiert die Publizistik hemmungslos Feindbilder. »Da haben Medien in ganz Europa durch ihre nationale Perspektive wesentlich zur Kriegsdynamik beigetragen«12, urteilt der Medienwissenschaftler Jürgen Grimm. Dasselbe war im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zu beobachten. Als Protest an der Ukraine-Berichterstattung der Leitmedien entzündete sich eine Gegenbewegung im Internet und in unabhängigen Zeitschriften mit beachtlichen Beiträgen von Willy Wimmer.

      Krieg und Bürgerkrieg – Spirale der Machtkämpfe (1600–1913)

      »Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.«

      Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan1

      Im »West-östlichen Divan« klagt Goethe über die Zersplitterung Europas; er mag dabei wohl an das Geplänkel auf dem Wiener Kongress gedacht haben: »Und wer franzet oder britet, italienert oder teutschet, einer will nur wie der andere, was die Eigenliebe heischet.«2 Die nationalen Egoismen aber, so hoffte Goethe, ließen sich zügeln, sofern die Europäer sich ihrer 3000-jährigen Geschichte bewusst würden – einer Geschichte, die mit der ca. 1000 v. Chr. einsetzenden griechischen und der nachfolgenden römischen Epoche begann. Der hier nun folgende Rückblick muss sich indes auf die 300 Jahre vor dem Attentat in Sarajevo beschränken.

      Mit der Reformation war eine westeuropäische Bewegung entstanden, die sich von den Fesseln des römischen Papstes befreien wollte. Gleichzeitig streckten die romtreuen Portugiesen und Spanier ihre Hände nach den neuen Welten in Übersee aus. Gerhard Mercator (1512–1594) schuf im Jahre 1569 eine europazentrierte Weltkarte, die den Seefahrern das Navigieren erleichterte und ihm Weltruhm einbrachte.3 In ihr zeigt sich Europas Wunschdenken, respektabler Mittelpunkt der Erde zu sein.4 Zwei Drittel der Kartenfläche dienten der Darstellung der nördlichen Erdhälfte, während die südliche Erdhälfte ins untere Kartendrittel gepresst war. Die alte Mercator-Karte begleitete 400 Jahre europäischer Weltherrschaft und inspirierte auch John Dee, englischer Mathematiker, Astronom, Philosoph, Mystiker und Berater von Königin Elisabeth I. (siehe Abb. unten)

      Mit Erstaunen und wohl auch einer Portion Missgunst verfolgten die angelsächsischen Gelehrten den grandiosen Aufstieg von Portugal und Spanien seit der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus im Jahre 1492. John Dee war mit den Ministern William Cecil (1520–1598) und Francis Walsingham (1532–1590) befreundet. Letzterer baute in den Jahren von 1578 bis 1583 auf dem Kontinent ein Spionagenetzwerk auf – gleichsam eine Vorläuferorganisation des britischen Secret Service. Mindestens 50 Agenten bezahlte er aus eigener Tasche, darunter John Dee, der unter dem Codenamen 007 in seinen Diensten gestanden haben soll.5 Um 1570 brach der Freibeuter Francis Drake zu Kaperfahrten in die Karibik auf. John Dees Expansionspläne gingen deutlich weiter: Um ein »Atlantisches Imperium« errichten zu können – Dee prägte den Ausdruck »British Empire« – forderte er eine königliche Flotte von 60 großen Schiffen oder mehr. »Dadurch werden die Einkünfte der Krone Englands und der öffentliche Reichtum sich wunderbar vermehren und gedeihen und dementsprechend lassen sich die Seestreitkräfte dann weiter ausbauen. Und so wird sich der Ruhm, das Ansehen, die Wertschätzung und Liebe und die Furcht vor diesem Britischen Mikrokosmos über das ganze weite Erdenrund rasch und sicher ausbreiten.«6 Dees Visioen stießen auf offene Ohren, seine Wünsche wurden erfüllt. England siegte im Kampf um die neuen Welten in Übersee.

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      Imaginäre Landkarte des britischen Weltreichs des Geographen John Dee (1527–1608). Sie gibt nicht Landmassen, sondern »Ideengebilde« wieder. An ein zusammenhängendes »Euro-America« – mit ähnlichen Grenzen wie die NATO nach der Osterweiterung – schließt sich ein »Euro-Asia« an. Südlich davon »Islamistan« (© Abb. 2)

      Gegen Ende des 16. Jahrhunderts brachen innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation trotz des Religionsfriedens von Augsburg (1555) die Glaubensgegensätze zwischen Luthertum und Katholizismus wieder auf. 1608 rief Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die »Protestantische Liga« ins Leben, Herzog Maximilian von Bayern 1609 die »Katholische Liga«. Das Heilige Römische Reich war im Gegensatz zu Frankreich nicht zentralistisch geführt, sondern zerfiel in über dreihundert Einzelterritorien – und das im konfliktträchtigen Gravitationszentrum Europas. Die von den Kurfürsten gewählten Kaiser – fast immer aus der Herrscherfamilie der Habsburger – strebten danach, möglichst viel Macht allein und direkt auszuüben, was jedoch die einzelnen Reichsgebiete zu verhindern trachteten, z. B. die Schweiz, Norditalien, das heutige Belgien und die heutigen Niederlande. Die Habsburger beherrschten zudem Spanien, Süditalien, Böhmen und Ungarn. Somit hatte Frankreich ab dem frühen 16. Jahrhundert nur noch eine Außengrenze und einen Feind: die Habsburger.

      Nach einer angeblichen Verletzung des »Majestätsbriefes«, der den Protestanten in Böhmen Religionsfreiheit zusicherte, warf am 23. Mai 1618 eine Verschwörergruppe unter Führung des aufgebrachten Heinrich Matthias Thurn (1567–1640) die beiden verhassten kaiserlichen Statthalter Jaroslav Martinitz und Wilhelm Slavata samt ihrem Sekretär Fabicius aus den Fenstern des Hradschins (in 17 Metern Höhe) – der Prager Fenstersturz wurde zum Fanal für den offenen Aufstand der böhmischen Stände gegen das Haus Habsburg, und als sichtbares Zeichen erhoben sie den Führer der »Protestantischen Union« zum böhmischen König: Kurfürst Friedrich V., Schwiegersohn Jacobs I. von England. Der »Böhmische Krieg« (1618–1620) mündete in den »Pfälzischen Krieg« (1621–1624). Dem katholischen Heerführer Johannes von Tilly hatte sich während des böhmischen Krieges ein konvertierter böhmischer Edelmann angeschlossen: Albrecht von Wallenstein (1583–1634). Mit Wallenstein, so Leopold von Ranke, trat die »außerordentlichste Gestalt« des Dreißigjährigen Krieges ins Rampenlicht.7 Der Kaiser hatte dessen Angebot, ein privates Söldnerheer aufzustellen, angenommen. Damit begann laut Gombrich »ein gräuliches Gemetzel von schlechtbezahlten, wilden Soldatenhorden«8, die hauptsächlich aufs Rauben und Plündern aus waren und je nach erhoffter Beute die Seite wechselten. Kaiser und Glaube waren längst vergessen. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, feiert diese Art der Kriegsführung fröhliche Urständ. Auch die USA setzen in ihren Kriegen private Söldnerarmeen ein, die wie einst Wallensteins Kämpen rechtlos operieren. Staatliche Souveränität, pervertiert zur Souveränität des Stärkeren.9

      1628 erhielt Wallenstein das eroberte Mecklenburg als Reichslehen und den Titel »General der ganzen kaiserlichen Schiffsarmada zu Meere wie auch des ozeanischen und baltischen Meeres«. König