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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart


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noch dadurch, dass die im 7. und 8. Jhd. entstandenen Epen, die zusammengefasst als Thebanischer Zyklus bezeichnet werden, keine eigene Episode von Antigone in Theben aufweisen, während die Kriege um Theben von Eteokles und Polyneikes sowie den Epigonen breite Schilderungen erfahren. Antigone, wie wir sie aus dem gleichnamigen Stück kennen, verdankt sich also im Wesentlichen einer Sophokleischen Erfindung. Ebenfalls wichtig ist, dass es sich bei Antigone (442 v. Chr.) um eines der frühesten (erhaltenen) Stücke von Sophokles handelt und er der Figur Antigone noch einmal knapp vierzig Jahre später in seinem letzten Stück Ödipus auf Kolonos (UA 401 posthum) breiten Raum schenkt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil Antigone nicht nur verwandtschaftlich/familiär zu begreifen ist (Tochter des Ödipus, Schwester von Polyneikes), sondern zu einem eigenen Figurentypus gehört, der Figur des jungen Mädchens. Diese paradigmatische Figur ist durch das Merkmal definiert, einerseits geschlechtsreif zu sein, andererseits aber nicht verheiratet.

      Hierzu nur ein paar Streiflichter: Vor Antigone ist die Figur des jungen Mädchens relevant für zahlreiche Mädchenchöre von Aischylos, bei dem Sophokles nach eigener Aussage das Dichterhandwerk erlernt hat. Man denke an die Okeaniden, die Töchter des Ozeans, die zu Prometheus ins Gebirge fliegen, ihm beistehen. An die Danaiden, die vor der Zwangsverheiratung mit ihren ägyptischen Vettern nach Argos fliehen und dort frei und wortgewaltig selbst die Verhandlungen zu ihrer Aufnahme in die Polis führen – so wie auch Antigone frei und wortgewaltig ihr Nein gegenüber Kreon verteidigt. Die jungen Mädchen erinnern sich ihrer mütterlichen Vorfahren, sie erinnern Artemis und die aus dem Meeresschaum geborene Aphrodite, sie stellen ihre eigene Heirat hintenan oder sagen ein „heiliges Nein zur Ehe“ wie die Danaiden. Sie sind 16 Jahre alt. Sie treten (wie Antigone) eher für das geborene, schon vorhandene Leben ein als für ein zukünftiges, das noch gar nicht existiert. Sie klagen um ihre Lieben, sie begraben ihren Bruder, sie klagen den Missbrauch an, den sie im Fall einer Niederlage ihrer Stadt fürchten, so jedenfalls der Chor der jungen Frauen in Sieben gegen Theben bei Aischylos. Alle diese Chöre tragen Merkmale der Mänaden, der Anhängerinnen des Dionysos, die Euripides in Die Bakchen zur Hauptsache gemacht hat, und sie stehen definitiv nicht auf Seiten der Polis-Gründung. Mit ihnen muss der Chor in der Tragödie, wie Sebastian Kirsch formuliert, als ein Ort verstanden werden, „an dem sich im Herzen der Polis selbst die Bezugnahme auf dieses Außen artikuliert“,7 vor dem sich die Polis im Übergang vom 6. zum 5. Jhd. zu verschließen sucht. Junge Mädchen bilden eine Übergangsfigur par excellence. Sie nehmen temporär Aufenthalt, wollen aber kein Haus, keinen Verein, kein Familienwerk, kein Sein, keine Macht. Ihr so schwer fasslicher Chor hat einfach keinen gemeinsamen Nenner. Wohl deshalb setzt schon so bald die Geschichte seiner Verdrängung ein. Einar Schleef zufolge geht die Chor-Verdrängung mit einer Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt einher. Vollständig vollzogen wurde diese Verdrängung jedoch erst, so Schleef, bei den deutschen Klassikern,8 also in jenem Zeitraum, in dem Hegel seine Philosophieprofessur in Jena antrat.

      Sophokles extrahiert aus diesem Universum oszillierender Vögel-Mädchen-Chöre die Figur der Antigone, deren Einsamkeit sich im Verlauf des Stückes, so könnte man sagen, vollendet. Wird Antigone als Figuration des jungen Mädchens aufgefasst, so ändert das etwas für den Begriff der Tragödie. Eingedenk der in den beiden Figuren Antigone und Kreon9 gebannten gewaltigen Asymmetrien, die sich (wie die Asymmetrie von Chor und ProtagonistIn) auf verschiedene Zeitalter beziehen, muss m.E. die Kollisionstheorie fallen gelassen werden. Antigone und Kreon kollidieren nicht. Sie gehören zwei verschiedenen Zeiten an und zwei verschiedenen Welten. Sie sind zusammengestellt worden und vollenden wie Monolithen ihre Bahnen der Einsamkeit oder des Herrscherstarrsinns. Sie hören und sehen sich, aber sie haben nicht die Kraft, sich gegenseitig zu beeinflussen. Die Zeiten, denen sie zugehören, sind nicht einfach solche, in denen sich das Heute vom Gestern trennt, sondern Zeitalter, die sich ums Ganze unterscheiden. Antigone sagt von ihren Gottgeboten explizit: „Sie stammen nicht von heute oder gestern, / Sie leben immer, keiner weiß, seit wann“ (V. 456-457).

      Auch Hegel hat diesen Vers gelesen und zitiert ihn, wenn er vom „ewigen Gesetz“ spricht, „von dem niemand weiß, von wannen es erschien“.10 Hegel zitiert Antigone, aber er übergeht sie in der Folge. Er übergeht damit auch das Sprachhandeln und die Buchstäblichkeit des Stückes. Eine Erläuterung, was dieses ewige Gesetz sei, muss im Fall vorschriftlicher Kunde ausfallen. Es lässt sich nicht sagen. Dennoch aber steht Antigone für diese Kunde ein und spricht. Hegel interessiert sich nicht für diesen Widerspruch. Aus seiner universellen Perspektive hält er am Kollisionskurs zweier unvereinbarer Gesetze fest, zwischen denen Feindschaft herrscht, obwohl das eine Gesetz, das sich nicht sagen lässt, als solches im öffentlichen Raum der Polis offenkundig überhaupt nicht kombattant ist.

      Antigone steht im Weltformwechsel vom 6. auf das 5. Jhd. im Horizont einer zeitlosen Zeit, sagen wir ruhig einer außergeschichtlichen Zeit. Diese kann aber, da sie „immer lebt“, wie es im Vers heißt, schlichtweg nicht mit einer geschichtlichen Zeit kollidieren, vielmehr würde sie diese im Sinn der longue durée schlicht überdauern. Völlig unabhängig davon, wie viele Zufälle, Grausamkeiten und Notwendigkeiten sich in der Dauer der äonischen Zeit auch häufen mögen, da sich diese Zeit nicht geschichtlich vermittelt, könnte ihnen kein historisches Projekt und auch keine Weltgeschichte beikommen. In Bezug auf die Trachinierinnen, die 442 v. Chr. im selben Jahr wie Antigone zur Aufführung gelangen, kommt Jan Kott zu dem Schluss:

      Bei Sophokles gibt es keine Vermittlung, weder zwischen dem Menschlichen und Außermenschlichen, noch zwischen dem einmaligen Leben und der Geschichte, der Grausamkeit des Zufalls und der Notwendigkeit. Das menschliche Leben wird nur einmal gelebt, und es gibt keine Erlösung.11

      Soviel zur Frage des Sinns in einer Universalgeschichte, die, so es sie gibt, eine Geschichte des Zufalls wäre.12

      ( 2 ) Heiner Müller

      Angemessener und weiterführend als irgendeine Kollisionstheorie scheint mir die Minimaldefinition der Tragödie, die Heiner Müller in seinem Brief an Mitko Gotscheff fast beiläufig mitteilt. In Bezug auf die Tragödie Philoktet von Sophokles, die Gotscheff in Sofia auf der Grundlage der Interlinearversion von Müller/Witzmann inszeniert hatte, bezeichnet Müller die tragische Fabel als „Stellplatz der Widersprüche“.1 Die Fabel gleicht demnach einem Platz, auf dem Widersprüche deponiert wurden. „Widersprüche“ steht im nicht näher definierten Plural und besagt: Da, auf diesem Platz, kommen sie ein Stück lang zusammen vor. Mehr nicht. Der Platz erinnert den Schauplatz, den öffentlichen Platz oder auch einfach eine Fläche, einen Ort, der dem gemeinsamen Erscheinen oder Verlautbaren von Widersprüchlichem Raum gibt. Das Wort vom Platz betont den Raum und damit die Kom-position oder Kon-stellation anstelle von Position oder Stellung, denen Gegenpositionen oder Gegenstellungen zugeordnet wären. Müllers Minimaldefinition trifft auch präzise auf den Einsatz des Aristoteles in Sachen Tragödie zu. Obwohl Aristoteles sicherlich nicht auf eine Definition, eine Theorie oder ein Modell der Tragödie hinauswollte und seine Poetik eher als Handbuch und Rehabilitierung der dramatischen Dichtung gegenüber dem Verdikt Platons aufzufassen ist, ist die Poetik immer wieder und zurecht für einen Begriff der Tragödie zu Rate gezogen worden. Auch hier sind die Missverständnisse Legion und sehr berühmt. Ich will mich daher beschränken und im Folgenden nur zeigen, inwiefern die Herstellung einer guten Tragödie, wie sich mit Aristoteles sagen ließe, auf zwei Schritten beruht, von denen in der Regel nur jener zweite rezipiert wurde, der die Fabel betrifft und der in der Lehre von den sogenannten „drei Einheiten“ einen traurigen Nachruhm erlebte. (Lodovido Castelvetro heißt die Kanaille und seine Schrift von 1570 trägt den Titel La Poetica d‘Aristotele vulgarizzata, et sposta per Lodouico Casteluetro.)

      ( 3 ) Aristoteles

      Es geht um die Frage, wovon die Tragödie Nachahmung sei. Damit eröffnet Aristoteles im 6. Kapitel seiner Poetik die Behandlung der Tragödie. Unabhängig davon, dass Manfred Fuhrmann mimesis mit Nachahmung übersetzt und Arbogast Schmitt in einer neueren Übertragung mimesis mit Darstellung, geht es Aristoteles zuerst um die Frage, wovon die Tragödie Darstellung sei. Die Antwort im 6. Kapitel ist eindeutig: Die Darstellung gilt einer „Handlung“ und diese „Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos“, heißt es im Text, „die