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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart


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komplexe Fragestellungen, die stets in einer vertrackten Aporie münden. Sind Antigones heilige Gesetze über die nomoi des Souveräns zu stellen? Soll Pelasgos den Danaiden gemäß des Rituals der Hikesie Asyl gewähren und dadurch einen Krieg riskieren oder aber das Gesuch der Bedürftigen abwenden und sich so gegen die heilige Pflicht stellen? Es ist die Unentscheidbarkeit solcher Konstellationen, die die bis heute ungebrochene Faszination für die Texte des Aischylos, Sophokles und Euripides bewirkt. Die tragischen Held*innen, die darin zu Tage treten, sind Teil einer Assemblage, innerhalb derer die Grenzen zwischen Gott und Mensch, zwischen Vernunft und Wahn, zwischen belebt und unbelebt fließend sind. Agamemnon, Medea, Elektra – sie alle bewegen sich inmitten einer sonderbaren Zone des Dazwischen. In dieses Dazwischen dringen, so möchte ich behaupten, die Theatertexte Elfriede Jelineks, die sich seit den späten 1990er Jahren quasi ausnahmslos auf die griechisch-antike Tragödie stützen. Diese Texte lassen – so meine These – dem Menschen eine paradoxe (Un-)Sichtbarkeit zuteilwerden: Einerseits rücken sie seine zerstörerische Kraft im Rekurs auf die Hybris tragischer (Anti-)Helden wie Herakles (Wut, 2016) oder Ödipus (Am Königsweg, 2017) ins Zentrum, andererseits treten Menschen in diesen gemeinhin als „postdramatisch“ etikettierten Arbeiten als solche nicht zutage. Jelineks Theatertexte, darüber ist sich die Forschung spätestens seit Entstehung der Agamemnon-Revision Das Lebewohl (2001) einig, führen keine psychologisch konzipierten Figuren ins Spiel. Vielmehr lassen sie Sprachmasken auftreten, hinter denen sich oftmals lediglich ein indeterminiertes, rätselhaftes „Ich“ oder ein „Wir“ verbirgt. Darüber hinaus finden wir darin Tiere, Engel und Gottheiten vor, d. h. Figurationen, die das sogenannte Humane überschreiten.

      I

      Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Abbildung einer griechisch-antiken Vase, die auf Jelineks Website zu finden ist.1 Sie illustriert den Theatertext Schnee Weiß (Die alte Leier), den die Autorin Anfang 2019 unter dem Eindruck der Enthüllungen der ehemaligen Schirennläuferin Nicola Werdenigg publiziert hat.2 Werdenigg war 2017 im Fahrwasser der #metoo-Debatte an die Öffentlichkeit getreten, um den österreichischen Skiverband (ÖSV) des systematischen Machtmissbrauchs zu bezichtigen. Sie gab an, in ihrer Zeit als aktive Athletin mehrfach Opfer und Zeugin sexualisierter Gewalt gewesen zu sein. Ausgehend davon beleuchtet Schnee Weiß die gesellschaftlichen Voraussetzungen für sowie die Verleugnung von humaner Gewalt und fragt nach den Spuren, die sie am menschlichen Körper, aber auch an der Natur hinterlässt.

      Das abgebildete Exponat, von dem die Rede ist, stellt aus kunst- und theaterhistorischer Sicht einen absoluten „Jackpot“ dar. Es handelt sich dabei um die so genannte Pronomosvase, d. h. um das bedeutendste uns vorliegende Artefakt in Bezug auf das griechisch-antike Theater überhaupt. Im Gegensatz zu anderen erhaltenen Vasen illustriert dieses 400 v. Chr. gefertigte Fundstück nicht ausschließlich Szenen aus bestimmten Tragödientexten, sondern informiert darüber, wie die antiken Texte aufgeführt worden sind.3 Gewidmet ist die Vase ihrem Namensgeber Pronomos – einem berühmten Aulos-Spieler Thebens, der auf der Vase explizit benannt wird und eine zentrale Position darauf einnimmt. Die zweite Person, deren Name auf der Vase genannt wird, dürfte der Chorege, d. h. der Sponsor der dargestellten Produktion gewesen sein. Umsäumt werden beide Schlüsselfiguren von einem Ensemble aus zwei bzw. drei Schauspielern,4 dem Spieler von Papposilenos (d. h. dem Vater der Satyrn) und einem 11-köpfigen Chor. Mit Ausnahme von einer sind alle der 15 abgebildeten Figuren kostümiert und halten ihre Masken in der Hand. Die übrige Figur trägt die Satyrmaske und befindet sich offensichtlich in der Rolle. Im ikonographischen Bezug auf dieses theaterhistorisch so bedeutende Artefakt der Pronomosvase referiert Jelinek implizit auf das Verhältnis von Theatertext und –aufführung. Sie hebt die oftmals vernachlässigte Tatsache hervor, dass Tragödie, Satyrspiel und Komödie für die Bühne gedacht und gemacht waren und unterstreicht dadurch gleichzeitig die Theatralität ihrer eigenen Texte.

      Darüber hinaus haben wir es bei der Abbildung mit einer Visualisierung eines Intertexts zu tun, auf den sich Jelinek in Schnee Weiß explizit bezieht – nämlich auf Sophokles’ Satyrspiel Die Satyrn als Spürhunde. Satyrspiele wurden bei den Wettbewerben der Großen Dionysien als heiteres Nachspiel der Tragödien gezeigt. Bei den namengebenden Satyrn handelt es sich um mythologische Gestalten, die in visuellen Darstellungen oftmals mit erigiertem Penis erscheinen und dadurch auf den unstillbaren sexuellen Appetit verweisen, der ihnen nachgesagt wird. In Jelineks Theatertext Schnee Weiß dienen die derben Späße der Satyrn als Folie, vor der die Autorin die Allgegenwart herabwürdigender und frauenverachtender Rede entlarvt. Interessant für unseren Kontext nun aber ist die Erscheinungsform der Satyrn. Sie verfügen sowohl über menschliche wie auch über animalische Attribute und können mithin als Figurationen der Durchquerung gelesen werden. Darüber hinaus stehen sie Pate für ein Genre, das sich ebenfalls in einem so genannten In-Between befindet. Tatsächlich changiert das Satyrspiel zwischen Tragödie und Komödie. Einerseits nämlich lässt der von anzüglichen und obszönen Redewendungen und Sprichwörtern geprägte Stil des Satyrspiels an die Komödie des Aristophanes denken. Was Sprache, Metrik und Bauart betrifft, ist es aber der Tragödie näher. Ähnliches gilt für Aufführungsspezifika wie Kostüme und Requisiten, die jenen der Tragödie gänzlich oder zumindest teilweise entsprechen.5 Obschon das Satyrspiel auf das Lachen des Publikums abzielt, so unterscheiden sich die ästhetischen Verfahren, die ein solches Lachen gerieren, wesentlich von denen, die in den Komödien vorzufinden sind. Bernd Seidensticker bringt es auf den Punkt, wenn er behauptet: „Das Satyrspiel teilt zwar mit der Komödie die Vorliebe für die materialistischen Aspekten des Lebens und für die Darstellung alltäglicher Situationen und Tätigkeiten, es präsentiert sie jedoch nicht realistisch als den Alltag des Zuschauers, sondern mythisch distanziert.“6 Die Komik, mit der wir es hier zu tun haben, resultiert aus dem bestehenden Gefälle, das zwischen den beiden präsentierten Welten, d. h. jener der mythologischen Helden und jener der Satyrn, herrscht. In dieses apollinisch/dionysische „Dazwischen“ dringt Schnee Weiß. Der Theatertext pendelt zwischen Mythos und Banalem, zwischen hohem Ton und Vulgarismen. Er bemüht Pathos, bricht es aber sogleich wieder in sarkastischer Manier. Die derben Späße der Satyrn dienen in diesem Zusammenhang als Referenzrahmen für das Sittenbild einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt nach wie vor verharmlost wird.

      Auch der 2011 entstandenen Theatertext Kein Licht. bezieht sich intertextuell auf Sophokles’ Die Satyrn als Spürhunde.7 Wovon also handelt dieses antike, fragmentarisch erhaltene Satyrspiel? Ausgangspunkt ist der an Apollon verübte Rinderdiebstahl des kleinen Hermes. Papposilenos, der Vater der Satyrn, verspricht Apollon unter der Voraussetzung eines Finderlohns und der Freilassung aus der Sklaverei seine Hilfe und schickt seine Kinder los, um die Witterung der gesuchten Tiere aufzunehmen. Im Gegensatz zu Schnee Weiß, wo diese Spurensuche als Vorlage für die Befragung der Verschleierungstaktiken rund um den sexuellen Missbrauch im österreichischen Schisport fungiert, zieht Jelinek dieses Sujet in Kein Licht. heran, um die Auswirkungen der atomaren Katastrophe von Fukushima zu verhandeln.8 Ähnlich wie in Schnee Weiß treten die Satyrn auch in Kein Licht. nicht figurativ zutage. Der Text ist auf zwei Sprechinstanzen namens A und B aufgeteilt. Die einzige Regieanweisung, die wir gegen Ende des Textes vorfinden, schlägt vor, dass die Sprechenden eine bestimmte Passage gemeinsam schreien oder aber sie untereinander aufteilen: „Sie können sich auch überschneiden, so daß man passagenweise nichts mehr versteht.“ (KL) Die Sprecher*innen bezeichnen sich selbst als erste und zweite Geige: („A: Also, also, also. Da bin ich nun die erste Geige, und was bringt es mir? […] B: Ich bin ja nur die zweite Geige, aber die kann gar nichts machen […].“ (KL)) Besonders interessant in unserem Zusammenhang nun ist folgende autodeskriptive Aussage der Sprechinstanz A: „Als erste Geige nehme ich die Suche auf, das ist wohl meine Aufgabe.“ (KL) Hier wird ein Saiteninstrument hörbar, das im Rückgriff auf den antiken Prätext des Satyrspiels implizit das technische Gerät des Geigerzählers aufruft, d. h. einen Apparat, der die Aufgabe hat, das Unsichtbare, Unriechbare und Unhörbare aufzuspüren:

      A: Ja, da ist was, jetzt merke ich es auch. Aber nicht das, was du spielst. Denn das höre ich nicht. Ich muß unbegleitet spielen. Dafür hörst auch du mich nicht. Ich wittere mit der Nase in der Luft. Nichts zu riechen, nichts zu hören, nichts. Aber da ist etwas. Da muß etwas sein. (KL)

      Die