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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart


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als frühes Beispiel von „Orientalismus“ gelten, da hier die persische Sprache ebenso wie die Kleidung und das Verhalten am Königshof in fast klischeehafter Form als fremd charakterisiert werden und das Reich der Perser zugleich als Inbegriff der Alleinherrschaft von Tyrannen erscheint.9 Die These jedoch, dass Aischylos bereits eine überhebliche Geringschätzung der Perser als Barbaren inszeniert hätte, lässt sich kaum halten: Das an zentraler Stelle eingesetzte Traumbild der Königinmutter Atossa verweist vielmehr auf eine Gleichheit von Griechen und Persern, die erst der Übermut von Xerxes zerstört hat. Dass sich in dieser Tragödie die (griechisch sprechenden) Perser selber als Barbaren bezeichnen, entbehrt nicht der Ironie.10

      Schließlich erweist Aischylos’ Stück dieser fremden Kultur schon dadurch Respekt, indem es den Sieg der Griechen bei Salamis aus Sicht der Perser schildert, die durch Botenberichte vom Untergang ihres Heeres erfahren, bevor ihnen der Geist des früheren Königs Dareios erscheint, der den Feldzug seines Sohnes über das Meer als Hybris scharf verurteilt. Dann erst tritt Xerxes selbst auf, mit nur wenigen Überlebenden, in zerrissenem Gewand und laut klagend. Insofern die Götter ihn so schwer gestraft haben, erscheint die mit dem Feldzug aus den Fugen geratene Ordnung der Welt vorläufig wiederhergestellt. Nach wie vor ist aber umstritten, ob die Tragödie mit dem Wechsel der Perspektive den Sieg der Griechen nur umso wirkungsvoller zelebrieren oder schon die Möglichkeit eines ähnlichen Schicksals für ihre eigenen Feldzüge demonstrieren sollte. Immerhin wurde die Hybris der Perser dem Theaterpublikum in einer Situation vorgeführt, als Athen durch seine militärische Macht im Mittelmeerraum zunehmend in Rivalitätskonflikte mit anderen Stadtstaaten geriet.11 Jedenfalls behauptet Aischylos’ Tragödie, wie auch Albrecht Dihle betont, noch längst nicht jene grundsätzliche Überlegenheit der Griechen gegenüber Fremden, die später, im 4. Jh. v. Chr., häufiger formuliert wurde.12

      Hikesia und Asylon im Theater der Tragödie

      Für das Verhältnis von Flucht, Asyl und Theater sind – vor dem mit den Persern bereits absehbaren zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrund – vor allem die Schutzflehenden (Hiketiden) des Aischylos grundlegend, erstmals aufgeführt um 463 v. Chr. Zu Beginn der Tragödie wird das Theater besetzt durch einen Chor von Frauen, die mit dem Schiff aus Ägypten geflohen und gerade in der griechischen Stadt Argos angekommen sind, die von dem König Pelasgos regiert wird. Dem Mythos nach handelt es sich bei den Frauen um die 50 Töchter des ägyptischen Königs Danaos, der sie begleitet auf der Flucht vor ihren Vettern, die sie mit Gewalt zur Heirat zwingen wollen und verfolgen. Ob dafür im Theater anstelle der sonst anzunehmenden 12 oder 15 tatsächlich 50 (jedenfalls aber männliche, als Frauen maskierte) Choreuten auftraten wie bei den früheren Dithyramben, ist umstritten. Sicher ist jedoch eine unheimliche Gewalt, die von diesem Chor ausgeht, von Anfang an. Danaos sucht die Schutzflehenden zu beruhigen indem er ihnen empfiehlt, sich nach griechischem Brauch zu verhalten: Sie sollen sich den Altären des heiligen Bezirkes mit Olivenzweigen nähern, die in weiße Wolle gewickelt sind. Als Pelasgos, der Herrscher von Argos erscheint, erkennt er sie gleich als Fremde, wegen ihrer reichen und „barbarischen“ Kleider und ihrer dunklen Hautfarbe, die auf eine Herkunft aus Libyen verweise. Ihr Verhalten, ihre Position am Altar und ihre rituell geschmückten Zweige zeigen aber ihre Vertrautheit mit dem griechischen Brauch der Hikesie. Und zu seinem Erstaunen erzählen ihm die Frauen, dass sie in Argos gar nicht fremd sind, sondern eigentlich nach Hause kommen. Sind sie doch Nachfahren von Io, der Mutter aller Ionischen Griechen. Dem Mythos zufolge war die aus Argos stammende Io eine der vielen Geliebten des Gottes Zeus. Von der eifersüchtigen Göttermutter Hera wurde sie zur Strafe in eine Kuh verwandelt und durch eine wütende Bremse unablässig gejagt, erst in Ägypten konnte sie sich niederlassen. Der Ahnherr der schutzflehenden Frauen soll Epaphos gewesen sein, Sohn von Zeus und Io. Auf diesen Ursprung in Argos berufen sie sich nun für ihre Bitte um Schutz, um nicht ihren ägyptischen Verwandten ausgeliefert zu werden:

      Sieh nicht mit an, wie dein Schützling von

      Dem Götterbild mit Zwang gezerrt wird widers Recht,

      Dem Roß gleich an der Stirn

      Buntfarbgem Band und meinem Kleid angepackt!

      Wisse wohl: deiner Kinder harrt, des Stamms,

      Wie du den Grund legst, Buße durch den Gott des Grimms:

      Vergeltung, gleich um gleich!

      So herrscht – bedenk! – gerecht des Zeus ewge Macht!1

      Nachdem die Frauen mit der Erzählung der Vorgeschichte ihre Herkunft belegt haben, bezeichnen sie sich selbst als „Schützling“ (Hiketin) und fordern Hikesie. Dieser Status, wörtlich mit „Schutzflehen“ zu übersetzen, wurde im archaischen und klassischen Griechenland allen gewährt, die sich zu heiligen Altären flüchteten. Schon die Möglichkeit, um Schutz flehen zu können, hatte eine absolute, von Zeus beschützte Geltung. Wer als Schutzflehende/r gehört wird, ist als solche/r bereits Schützling, Schutzbefohlene/r. Diese Tendenz, angelegt in der Unantastbarkeit des Prinzips der Hikesie selbst, beruhte normalerweise auf einer Bedingung: Eigentlich durften sie nur die in Anspruch nehmen, die von Blutschuld frei waren. Jedoch wird beispielsweise selbst Orest – nach dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra, in Aischylos’ Eumeniden, dem dritten Teil der Orestie – als ein Schützling (Hiketin) bezeichnet durch den Gott Apoll, der ihn gegen die Erinnyen verteidigt.2 Erst indem die Rachegöttinnen selber in Athen eine Art Asyl erhalten, aufgenommen werden als wohlwollende Eumeniden, kann dieser Konflikt durch die Stadt-Göttin Athene gelöst werden. Jedenfalls war Hikesie eines der Rituale des Übergangs, die das Theater der Tragödie, zwischen Religion und Politik ebenso vermittelnd wie zwischen eigen und fremd, immer wieder durchgespielt hat.3

      Nicht selten manifestieren die Texte der Tragödien, wie mythische Ordnungen und rituelle Praktiken in rechtlich und politisch geregelte Verfahren überführt werden konnten. Tatsächlich wurde der Umgang mit Schutzflehenden, aus der jeweiligen Stadtgesellschaft wie auch für Fremde, im 5. Jh. v. Chr. allmählich institutionalisiert. Strukturell ist für diese Entwicklung zu unterscheiden zwischen dem von der Hikesie ausgelösten „sakralen Asyl“ und einem von der Stadt dem Einzelnen verliehenen Bleiberecht, das als „persönliches Asyl“ bezeichnet werden kann.4 Außerdem konnte es nach einem Aufenthalt von 30 Tagen, insbesondere in Athen den Status der Metoikie geben. Die Metöken, „Mitwohner“, mussten eine/n einheimische/n BürgerIn als ihren Patron benennen und Schutzgeld an die Stadt zahlen. Dafür durften sie Geschäfte ausüben, nicht aber an politischen Debatten und Wahlen teilnehmen. Vermutlich war die für Stadtbürger von Athen verpflichtende, aufwändige Teilnahme an der politischen Praxis nur dadurch aufrechtzuerhalten, dass es – außer den Sklaven, die die eigentliche Arbeit taten – noch diese zusätzliche Gruppe von „Unternehmern“ gab, die für das wirtschaftliche Leben sorgten.5

      Bei Aischylos gehen die Schutzflehenden so weit, zu fordern. So erinnern sie Pelasgos daran, dass er von Zeus bestraft werden könnte, wenn er ihnen keinen Schutz gewährt. Für diesen Fall drohen sie sogar damit, sich selbst zu töten. Dass der ganze Konflikt – in dem das Agieren der Danaiden ebenso wie das ihrer Neffen von Hybris (frevelhafter Selbstüberschätzung) geprägt ist – zugleich als ein politischer Prozess dargestellt wird, lässt sich noch am ehesten durch die besondere Bedrohung auch von Argos durch die ägyptischen Verfolger erklären.6 Der König Pelasgos kann hier gar nicht allein entscheiden, muss die Volksversammlung abstimmen lassen.

      Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden eine der frühesten Quellen für ein solches demokratisches Verfahren in der griechischen Kultur. Die Angelegenheit dieses Asyls ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an.7 Nach auffällig rascher Entscheidung in der Volksversammlung kann Danaos den Frauen aber berichten, dass sie von der Stadt beschützt werden und dass sie – darüber hinaus – auch als Metöken aufgenommen sind.8

      Das Stück endet damit, dass ein zusätzlicher Chor von Mägden die Jungfrauen drängt, ihre Verweigerung der Heirat doch zu überdenken. Die verlorenen Teile der Trilogie enthielten dann, soweit das aus Fragmenten zu erschließen ist, einen Sieg der Ägypter gegen Argos, wobei Pelasgos selbst getötet wird. Daraufhin wird die Heirat von den Danaiden doch noch akzeptiert, allerdings nur zum Schein. In der Hochzeitsnacht