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Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart


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der Mänaden in Kenntnis setzen. Die Boten vermitteln mithin zwischen der kultivierten, zivilisierten Ordnung der Polis und der außer sich geratenen Ordnung der „wilden“ Bakchen. Als paradoxale Figurationen der Durchquerung können aber auch die Engel bezeichnet werden, die in Schnee Weiß als Sprechinstanzen emergieren. Als Hervorbringer von Kommunikation changieren sie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Materie und nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern. Sibylle Krämer bringt es auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Das Sein der Engel ist ihr Botesein; der Engel ist von Gott gesandt, ihr Geschick ist die Verschickung göttlicher Nachrichten.“5 In dieser übertragenden, übermittelnden Funktion werden sie auch im Theatertext Das schweigende Mädchen (2014), den Jelinek anlässlich des NSU-Prozesses als Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele verfasst hat, erfahrbar. Der Text stützt sich auf Auszüge aus den Prozessakten und verwebt diese u.a. mit Bruchstücken von Euripides’ Elektra, mit Passagen aus dem Alten und Neuen Testament, mit Hesiods Theogonie und mit Giorgio Agambens und Monica Ferrandos Das unsagbare Mädchen. Die Engel, von denen hier die Rede ist, treten inmitten von „Richtern“, „Propheten“, „Menschen“, der „Jungfrau Maria persönlich“ und „Gott selbst“ auf und vermitteln zwischen unterschiedlichen Entitäten einer apokalyptischen Gerichtsszenerie, in der sich Diesseits und Jenseits nicht (mehr) ausschließen.

      III

      Eine elementare Rolle spielen Figurationen der Durchquerung darüber hinaus in den Schutzbefohlenen, also in jenem Theatertext, den Jelinek 2013 auf ihrer Website publizierte und den sie bis 2016 mehreren Revisionen unterzogen hat. Zur Erinnerung: Ursprünglichen Anlass zum Stück gab die im Herbst 2012 initiierte Protestbewegung von Flüchtenden, die zu Fuß von der Erstaufnahmestelle Traiskirchen (Niederösterreich) bis zur Wiener Votivkirche gepilgert waren, um diese als symbolischen Schutzraum zu besetzen.1 Jelinek verbindet diesen realpolitischen Vorfall mit einer der ältesten erhaltenen Tragödien überhaupt, nämlich mit den Schutzflehenden des Aischylos. Dieser Text handelt von den Danaiden, die vor der Zwangsheirat mit ihren Cousins aus Ägypten nach Argos fliehen und dort um Asyl ansuchen. Jelineks Fortschreibung beginnt wie folgt:

      Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Das Wißbare aus unserem Leben ist vergangen, es ist unter einer Schicht von Erscheinungen erstickt worden, nichts ist Gegenstand des Wissens mehr, es ist gar nichts mehr. Es ist auch nicht mehr nötig, etwas in Begriff zu nehmen. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir?2

      Bereits in diesen ersten Zeilen wird der Bezug zu Aischylos, den Jelinek am Ende des Textes explizit anführt, augenscheinlich. Die Passage nimmt Fragmente aus der Parodos der Hiketiden-Übersetzung von Johan Gustav Droysen (hier fett hervorgehoben) auf, mutiert sie und stößt dadurch eine Assoziationskette an. Wie bei Aischylos ist es eine chorähnliche Figuration, die den Text eröffnet. Und auch hier wird dieses Wir bis zum Schluss präsent bleiben. Analog zu den Hiketiden des Aischylos finden wir in den Schutzbefohlenen zudem keine Exposition des mythos durch Dritte vor. An die Stelle der vermittelnden Darstellung tritt auch hier ein unvermitteltes Erzählen.3

      Das Verfahren der Bricolage, das hier zur Anwendung gelangt, führt uns Geflüchtete vor Augen, die in der Fremde um Aufnahme bitten, und die sich – dazu verdammt, eine Entscheidungsfindung abzuwarten – in einem liminalen Zustand befinden. In einem Zustand mithin, der im letzten Satz der Schutzbefohlenen widerhallt: „Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da.“ (SCH, S. 59-60) Das, was Geoffrey Bakewell für die Danaiden des Aischylos konstatiert, wenn er sie als „trapped between the two worlds“4 bezeichnet, trifft auch auf die in der Votivkirche protestierenden Refugees zu, denen Jelinek ihren Text gewidmet hat. Scheinbar angekommen, juristisch jedoch in einer Grauzone zuwartend, wird ihnen der Zugang zu Arbeit und Bildung verwehrt, wird ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben aberkannt. Sie sind mithin, wie Lynette Mitchell in Bezug auf die Danaiden feststellt, „both ‘insiders’ and ‘outsiders’“.5 Der heutige Asylwerber offenbart sich als „lebender Toter“, wie Giorgio Agamben im Weiterdenken von Hannah Arendts The Origins of Totalitarism (1951) angemerkt hat.6

      Welcher Imaginationen aber bedient sich Jelineks ästhetisches Verfahren im Aufzeigen dieser spezifischen Prekarität? In Die Schutzbefohlenen treffen wir häufig auf das Bild des Vogels, das die Danaiden im antiken Prätext bemühen, um ihre Flucht zu verbalisieren. Gleichzeitig vergleichen sie sich auch als Vögel, wenn sie die Gewalt des Aggressors beschreiben.7 Von Danaos werden die Mädchen als „Taubenschwarm, vor gleichbeschwingten Falken bang“8 bezeichnet. Dieser Vergleich lässt sie als verschreckt und demütig erscheinen. Das für die Taube typische Bewegungsrepertoire des (Auf- und Nieder-)Flatterns unterstreicht die Aufregung der Schutzsuchenden, gemahnt aber auch an die Thematik des sich Niederlassens, um die die Tragödie kreist. Jelineks Tragödienfortschreibung greift all diese Assoziationen auf:

      Wir haben an heilige Stätte uns gesetzt wie ein Taubenschwarm, doch die hier kennen nur diese eine Taube, die dort droben auf dem Dach, die wir ganz sicher nicht kriegen werden, die ist zu hoch, vor keinem Falken muß die bang sein, die Taube, und wir? Wir müssen uns vor allem und jedem fürchten. (SCH, S. 8, Herv. SF)

      Mit der von Aischylos entlehnten Figuration des Schwarms, die an anderer Stelle als „Barbarenschwarm“ rekurriert, bringt die Autorin einen Terminus ins Spiel, der zentrale Fragen von Inklusion und Exklusion, von Gemeinschaft und Außenseitertum aufwirft.9 Der Schwarm verschiebt (System-)Grenzen und lässt die Distinktion einer Gemeinschaft von einem Außen unscharf werden. Nachdem Schwärme keine gesicherten Aussagen über ihre zeitliche Strukturiertheit, ihre Bewegungsrichtung und ihren Entstehungsort erlauben, haftet diesen „Kollektiven ohne Zentrum“10 etwas Bedrohliches an: Schwärme bilden sich plötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund und können sich genauso rasch wieder auflösen. Sie symbolisieren dadurch eine unmittelbar einbrechende, nicht fassbare Bedrohung. Der Schwarm beschreibt mithin ein Grenzphänomen, eine Figuration, die im Dazwischen binärer Ordnungen auftritt und einen Schwellenraum eröffnet, der „sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert.“11 In dieser Unberechenbarkeit eignet er sich dazu, Angst- und Katastrophenszenarien im Kontext von Asyl und Migration zu (re)inszenieren. Jelinek lässt diese Figuration der Durchquerung mittels eines ästhetischen Verfahrens erfahrbar werden, das ich gemeinsam mit Teresa Kovacs als „schwärmendes Schreiben“ bezeichnet habe.12 Tatsächlich haben wir es in Die Schutzbefohlenen mit changierenden Sprechinstanzen zu tun, die sich aus dem Nichts konstituieren, sich zu einer scheinbaren Autorität verdichten, um dann aber wieder zu zerfallen:

      Von alter Blutschuld, die grauenhaft der Erde Schoß entwich, ausgerechnet zu uns, zu meiner Familie, kann niemand befreit werden, es kann keine Ausnahme gemacht werden außer mir, ich bin außer mir, alle tot, alle tot, grauenhaft entwichene Schuld, aber das ist Ihnen wurst, das kümmert Sie nicht, allvernichtendes, das kann ich jetzt nicht lesen, Mordgen? Nein, von Genen wissen wir nichts, wir sind Bauern gewesen, wir sind Ingenieure gewesen, wir sind Ärzte gewesen, Ärztinnen, Schwestern, Wissenschaftlerinnen, wir sind etwas gewesen, jawohl, was auch immer […]. (SCH, S. 10)

      Das „Wir“ in den Schutzbefohlenen evoziert ein polymorphes Sprechen, das auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit eines jeden „Wir“ feiert. Anstatt jedoch hinter dem „Wir“, das in Die Schutzbefohlenen figuriert, „die anderen“, d. h. „die Refugees“ zu vermuten, plädiere ich dafür, dieses „Wir“ als leeren Signifikanten aufzufassen, der als Produkt unterschiedlicher diskursiver Elemente und hegemonialer Artikulationen zu denken ist. Tatsächlich ist das chorähnliche „Wir“ der Schutzbefohlenen ohne ein „Anderes“ nicht zu erfahren. Das „Wir“ ist eben