rel="nofollow" href="#ub542af81-86fb-4b2a-b5ad-add08505571d">Barbara Kolland
*1914, Bad Vöslau, Niederösterreich
*1915, Feldkirchen, Steiermark
*1915, Hitzendorf bei Graz, Steiermark
Vorwort
»Ein jeder ein Planet«
Wie lebt es sich mit 100 Jahren?
Stefanie Kürner ist sechs Jahre alt, als ihr Vater in den Krieg zieht und in Italien im Giftgas bleibt. Die Oberösterreicherin erinnert sich, wie 1918 die Fotos von Kaiser Franz Joseph von den Wänden entfernt wurden.
Die 1930er-Jahre in Wien: Gertraud Wozelka, eine ehrgeizige junge Frau, lässt sich nicht davon abschrecken, dass die Sitzreihen in den Hörsälen der Universität nahezu ausschließlich von Männern belegt sind. Mit 19 beginnt sie Pharmazie zu studieren, als eine der ersten weiblichen Studentinnen des Fachs. Ihr Vater ist Apotheker, in seine Fußstapfen möchte sie treten.
Zur selben Zeit kann der 22-jährige Franz Wallner von Bildung, Wissenschaft und Forschung nur träumen. Der Bauernsohn schuftet Tag für Tag auf dem Hof in Niederösterreich, für 90 Groschen Lohn.
Es sind Geschichten aus der Welt von gestern, deren Heldinnen und Helden inzwischen in einem hochbetagten Alter sind. Sie waren Zeugen, als 1918 die Erste Republik ausgerufen und Österreich 1945 durch die Alliierten vom Nationalsozialismus befreit wurde. Sie erlebten, wie Droschken durch Autos ersetzt wurden, Kindersterblichkeit und Kinderzahl abnahmen, wie sich Staubsauger, Reißverschluss, Nylonstrümpfe, Haartrockner, Kleinbildkamera, Kreditkarte, Kugelschreiber und Klettverschluss durchzusetzen begannen und Antibiotika und Vitamine entdeckt wurden. Sie waren Schulkinder, als in Wien der Justizpalast brannte, Jugendliche, als Engelbert Dollfuß ein austrofaschistisches Regime begründete, Erwachsene, als der Zweite Weltkrieg ausbrach.
Mit einem Bein stehen sie in der Welt des Analogen, in der ein Telefon und ein Fernsehgerät Luxus waren, mit dem anderen im 21. Jahrhundert. Hundertjährige wissen um Computer, Handy oder Tablet, auch wenn sie sich am Takt der digitalen Welt zumeist nicht mehr beteiligen. Die Sehkraft schwindet, die Displays sind klein, das Wischen und Blättern ist beschwerlich. Das Internet ist ein Buch mit sieben Siegeln. Menschen mit 100 Jahren Lebenserfahrung haben vieles kommen und gehen sehen.
1156 Hundertjährige zählte die Statistik Austria im Jahr 2017 in Österreich. 25 davon kommen auf den folgenden Seiten zu Wort, um über ihr langes Dasein zu sprechen. Es sind Lebensgeschichten über Freundschaft, Freude, Liebe, Humor, Disziplin, Glaube, Trauer, Gewalt, über Scheidewege und Nebensächlichkeiten, über die große Geschichte im kleinen Leben.
Die gebürtige Linzerin Maria Nopp tritt nach ihrem 21. Geburtstag in das Kloster der Ursulinen ein. Drei Monate später flieht sie gemeinsam mit ihren Mitschwestern vor den Nationalsozialisten nach Frankreich.
Wie für so viele ist der Krieg ab 1939 auch für Anna Strecker der tiefste Einschnitt in ihrem Leben. »Ich hatte mein ganzes Leben nie Angst, nur vor den Bomben«, wird sie später sagen.
Am 8. Mai 1945 beginnt eine neue Zeit, auch für Anna Rupar: »Mein Geburtstag ist der 8. Mai. Das Kriegsende 1945 war für mich also ein doppelter Feiertag.«
»Zentenare« nennt man Personen, die sich schon ein ganzes Jahrhundert auf diesem Planeten aufhalten. Die besondere Magie, die ein Alter im dreistelligen Bereich für viele ausstrahlt, können die Hundertjährigen, die nachstehend über Wohl und Wehe des Uraltseins sprechen, nicht teilen. »Was habe ich schon davon? Es ist doch nur eine Zahl«, bekennt der 103-jährige Franz Wallner. Der Geburtstagsblumenstrauß, ab bestimmter Altersklasse von Bürgermeistern gewohnheitsmäßig überreicht, ist die symbolische Bestätigung dafür, dass hohes Alter per se als Besonderheit gilt.
Altwerden hat viele Gesichter. Manche Hundertjährige schmieden Pläne für die Zukunft, andere wünschen sich ein baldiges Ende, die Erlösung von Einsamkeit und körperlichem Weh. Die einen genießen ihren Nachmittagskaffee im Pflegeheim, andere sitzen isoliert in ihren Wohnungen, von Erinnerungsfotos umgeben, auf denen längst alle tot sind.
Vier Fünftel der Hundertjährigen in Österreich sind Frauen. Die deutsche Journalistin Kerstin Schweighöfer schreibt in ihrem Buch 100 Jahre Leben über die Hochbetagten: »Die meisten von ihnen sind Frauen, was daran liegt, dass wir es mit einer Generation zu tun haben, in der Frauen nicht nur deshalb älter werden konnten, weil sie nicht auf den Schlachtfeldern Europas gefallen sind, sondern auch, weil ihnen männliche Laster wie Rauchen und Trinken noch fremd waren und sie sich auch in dieser Hinsicht noch nicht emanzipiert hatten.«
Besonders gute Chancen, ein dreistelliges Alter zu erreichen, hat man, statistisch gesehen, in Bregenz, ganz im Westen Österreichs; in Wien feiert man am ehesten im 19. Gemeindebezirk hohe Geburtstage.
Georg Graner, in der Zeit des Nationalsozialismus in ein polnisches Arbeitslager deportiert, hält seiner kranken Frau Traude nach 63 Ehejahren noch immer jede Nacht die