Wolfgang Paterno

Ein Jahrhundert Leben


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sind auf Fotos gebannt. San Francisco gefiel mir. Jeden Tag Sonnenschein. Die Golden Gate Bridge. Die Welt in warmen Farben. Amerika war fantastisch, dort leben wollte ich nicht. Man kam als Fußgänger vor lauter Verkehr kaum über die Straßen, es waren selten Radfahrer unterwegs, alle bewegten sich im Auto fort. In den großen Städten wimmelte es von Menschen. Ella schickte mir aus Amerika oft die modernsten Dinge nach Lustenau. Einmal bekam ich von ihr falsche Wimpern. Ich klebte sie im Fasching verkehrt herum an und konnte die Augen nicht mehr richtig schließen. Alle lachten! Ella starb 2005. Ihr Mann David hatte schon viel früher einen Autounfall. Er war sofort tot. Mit 36 Jahren.

      Wie man 100 wird? Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich: »100? Wie schrecklich!« Ich hätte nie gedacht, dass ich ein langes Leben haben werde. Zu meinem 100. Geburtstag im August 2014 bekam ich Post vom damaligen Bundespräsidenten Heinz Fischer und persönliche Widmungen von den Schlagerstars Florian Silbereisen und Helene Fischer. »Für Hilda zum 100. Geburtstag«, schrieb Helene Fischer in Handschrift auf die Karte. Meine liebe Anneliese, seit vielen Jahren meine Ersatzenkelin, hatte das für mich arrangiert.

      Ich bin die älteste noch lebende Lustenauerin. Jedes Jahr nehme ich an den Jahrgangsfeiern teil. Für jedes Geburtsjahr sind im Festsaal Sitzreihen reserviert. Ich bin allein auf weiter Flur.

      Ich war nie verheiratet, habe keine Kinder. Ich liebte die Kinder aus der Nachbarschaft. Bei mir genossen sie Narrenfreiheit. Ich bin ledig und wäre also noch zu haben! An Männern fehlte es mir ja nie! Wir trafen uns, vor den neugierigen Blicken der Dorfbewohner geschützt, im Rheinvorland in einem Park auf einer Holzbank, im Schatten der Bäume. Unsere Mutter war in dieser Beziehung streng. Ihr passte keiner meiner Männer.

      Ich liebte das Tanzen. Als junge Frauen wählten wir uns die Buben auf den Festen in der Turnhalle zum Tanzen aus. Wir stöckelten die steile Treppe zu einem Lokal in der Schweiz hoch. Oft plumpsten wir auf unsere Hintern.

      Auf meine Erscheinung legte ich immer Wert. Ungepflegt ging ich nie aus dem Haus. Einmal stürzte ich im Bad. Ich lag eine Nacht lang reglos auf dem Fliesenboden, unfähig, aufzustehen. Am nächsten Morgen wurde ich gefunden. Man rief die Rettung. Bevor die Sanitäter das Badezimmer betreten durften, musste ich mich im Sitzen frisieren und mir die Augenbrauen nachziehen.

      Natürlich fürchte ich mich davor, dass mein Leben tatsächlich zu Ende geht. Angst kriecht hoch, sie verfliegt aber rasch wieder. Es werden mir bis zum Sterben nicht mehr so viele Jahre wie bisher geschenkt, dessen bin ich mir sicher. Alles ist eine Frage der Zeit.

      Ich kam mit den Menschen gut zurecht. Offenheit, Toleranz und wechselseitiges Interesse ermöglichten mir ein erfülltes Leben. Was zählen schon Haar- und Hautfarbe? Weniger als nichts. Kein Streit und keine Schwierigkeit, die ich mit anderen auszufechten hatte, wollen mir einfallen! Jeder möge sein Leben nach seiner Façon leben. Ich lebte meins.

      Wichtig war, mir selbst und anderen gegenüber aufmerksam und anständig zu sein. Ich bestimmte darüber, wie und was mein Leben sein soll, ließ jeden in Ruhe, der auch mir meine Freiheit gönnte. Vielleicht fällt das Sterben so leichter. Vor dem Tod selbst habe ich keine Angst, allenfalls ein bisschen Lampenfieber.

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      Hannes Schiel

      *1914, Wien

      Der berühmte Ernst Waldbrunn gab mir in seinem Theater eine kleine Rolle in Der Hexer von Edgar Wallace. Ich hatte noch ein gutes Gedächtnis und konnte in 24 Stunden jede Rolle lernen.

      Als Kind schon wollte ich Schauspieler werden. Mein Vater war deshalb böse mit mir. Er war Berufsoffizier und meldete sich 1914 freiwillig an die Front. Er kam in russische Gefangenschaft, vier Jahre galt er als vermisst. Wegen seines Manikürtäschchens hatte er den Russen vormachen können, er sei Arzt. Deshalb kam er frei. Als Arzt war er bei den Russen ein großer Herr. Eines Tages stand er in der Tür, in Armeemantel, mit Pelzkappe und Bart. Eine meiner Cousinen empfing ihn weinend, weil ihr Mann in den letzten Kriegstagen eingerückt war und auf dem Schlachtfeld verloren ging.

      Mein Vater starb früh. Erst nach seinem Tod konnte ich mich ganz der Schauspielerei widmen. Er war mir gegenüber oft rüde, erst mein späterer Vormund akzeptierte mich als Mensch. Im Wiener Volkstheater machte ich meine Bühnenprüfung. Im Parkett saßen Otto Preminger und der Schauspieler Hans Thimig. Preminger wurde später Hollywood-Regisseur.

      Mein erstes Engagement hatte ich in Innsbruck. Ich erinnere mich, wie in Grillparzers Libussa ein echtes Pferd auf die Bühne kam. Ich ging durch den Bühnenwald mit dem Pferd am Zügel. Die Hufe klapperten wie wild. Später zogen wir dem Ross Filzpatschen an. Der Auftritt sorgte im Publikum für Gelächter. Bald wurde das Pferd aus der Besetzungsliste gestrichen.

      Weihnachten 1939, nach Kriegsbeginn, kam ich an die Front. Bis zu minus 42 Grad Celsius. Ein Vorgesetzter fragte, wer Maschinenschreiben könne. Ich zeigte auf, obwohl ich keinerlei Erfahrung hatte, und wurde Schreibhengst. Den ganzen Krieg über hielt ich mich an irgendeinem Schreibtisch fest. Ich war nie ein Held, ich mogelte mich durch. Ich bin strikter Antimilitarist, schon wegen meines Vaters.

      Gegen Kriegsende bekam ich Diphtherie. In dem russischen Lager, in dem ich inhaftiert war, brach eine Epidemie aus. Die Russen entließen viele Gefangene. Am 10. Dezember 1945 erreichte ich den Wiener Stadtrand. Alle weinten, als ich halbwegs heil nach Hause kam.

      Ich fand schnell Arbeit als Schauspieler. Der berühmte Ernst Waldbrunn gab mir in seinem Theater eine kleine Rolle in Der Hexer von Edgar Wallace. Darauf kam ich ans Wiener Renaissancetheater. Ich hatte noch ein gutes Gedächtnis und konnte in 24 Stunden jede Rolle lernen. So wurde ich zu einem gefragten Einspringer. Von 1959 bis 1978 war ich am Wiener Burgtheater engagiert. Ich spielte gemeinsam mit Inge Konradi in Zuckmayers Katharina Knie, der Wilhelm Tell war meine Lieblingsrolle.

      Meine letzte Rolle ist der älteste noch lebende Burgschauspieler. Meine Frau war mir das Wichtigste im Leben. Wir waren über 60 Jahre glücklich verheiratet. Vor ein paar Wochen ist sie gestorben. Ich kann nicht aufhören, an ihren Tod zu denken. Mein Tod ist mir gleichgültig.

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      Barbara Zechner

      *1916, Vasoldsberg, Steiermark

      Viele lachen über mich, weil ich manchmal die Toten sehe. Sie kommen zur Tür herein und lächeln mich an. Meine Enkel besuchen mich oft. Sie können nicht nachempfinden, wovon ich rede, wenn ich von meinen Toten spreche.

      Ein Leben ohne Arbeit ist leer. Die Ruhe im Alter empfinde ich nicht als Belohnung. Statt hier zur Untätigkeit verdammt zu sitzen, würde ich viel lieber einer Arbeit nachgehen.

      Ich war mein Leben lang in einem Schloss bei sehr feinen Herrschaften beschäftigt. Was war das für eine Schinderei! Um vier Uhr früh die Schweine füttern, dann Butter und Topfen rühren! Die Herrschaft im Palais war Eigentümerin einer Kanzlei, die immer herausgeputzt zu sein hatte. War die eine Arbeit getan, fiel schon die nächste an. Zeit zum Ausruhen war selten.

      Jeden Tag ging ich mittags auf eine halbe Stunde nach Hause und brühte mir einen Kaffee. Kaum nippte ich an der Tasse, musste ich auch schon wieder zurück auf das Schloss! Ich war oft in Eile.

      Meine Nachbarin arbeitete nicht, sie saß am liebsten vor dem Haus in der Sonne. »So blöd wie du bin ich nicht, dass ich mich bei dieser Hitze abschufte«, rief sie mir im Vorbeigehen zu. »Ich brauche das«, gab ich ihr zur Antwort.