der zwei Jahre, in denen er seinen Master of Fine Arts in Kalifornien machte, schwand die Scham über seine Herkunft. Viele der Freunde, die er an der Universität kennenlernte, stammten aus ähnlichen kulturellen Wüsten, hatten die Dünen der freien Künste erklommen und waren mit der Genugtuung, die unfairen Voraussetzungen überwunden zu haben, oben angekommen. Dieser gemeinsame Aufstieg aus der Mittelmäßigkeit war es, der ihnen das Recht verlieh, Kunst zu machen – im Gegensatz zu all diesen aufgeblasenen Söhnen und Töchtern von Sammlern und Kuratoren mit ihren eigenen Treuhandfonds. Er hieß Pat wieder in seinem Leben willkommen, sie war der Beweis, wie weit er es gebracht hatte.
In Kalifornien begann er, ernsthaft Kunst zu produzieren. Die meiste Zeit des zweiten Studienjahrs beschäftigte er sich mit einem einzigen Projekt und stellte eine Reihe winziger Drohnenhelikopter her. Die Drohnen waren mit Weitwinkelkameras ausgestattet, mit denen sie große Flächen absuchen und sich an verdächtige Zeichen von Armut heranzoomen konnten; baufällige Dächer, Müll, Entfernung zur Wasserversorgung, Nähe zu gefährlichen Abfällen. Diese Faktoren wurden in ihre Wiedererkennungssysteme für Bildmaterial aufgenommen. Anhand dessen, was die Drohne fand, war es theoretisch möglich, sagte Louis, die Gegenden zu bestimmen, in denen Entwicklungshilfe am dringendsten benötigt wurde. Bei der Ausstellung, die seine Abschlussarbeit begleitete, zeigte er wandgroße und erstaunlich hoch aufgelöste Drucke einer Gegend, die die Drohne aus der Luft aufgenommen und als Gefahrenzone markiert hatte: den Campus der Universität. Zerfallende Gebäude, Müllhaufen, und die gefährliche Nähe zu einer Chemiefabrik hatten den Campus als geeignetes Ziel für Hilfsleistungen identifiziert.
Sein Fünf-Jahres-Vertrag mit Basquiatt war nun schon zur Hälfte abgelaufen. Sie hatten ihn noch vor Ende seines Studiums eingestellt, das Ticket nach Berlin für die Woche nach seinem Abschluss gebucht. Er war der Einzige aus seinem Jahrgang, der direkt zum Berater aufstieg. Viele seiner Klassenkameraden sollten später auch diese Laufbahn einschlagen, mussten aber erst wenigstens den Anschein erwecken, etwas geleistet zu haben, das sie für einen Job im Consulting qualifizierte.
(Seine Zeit in Berlin war ziemlich klar; Anja hatte viele Daten über ihn aus den letzten drei Jahren. Jede Menge gemeinsame Freunde, denen sie Details aus den Rippen leiern konnte. Es hatte vor ihr ein paar Frauen gegeben, aber nur ein paar.)
Dies waren die Fakten, anhand derer sie sich ausmalte, wie Louis’ Rückkehr nach Indiana zur Beerdigung verlaufen war, die Geschichte, die sie sich selbst erzählte. Einige Informationen gab er von sich aus preis – Nierenversagen, zum Beispiel. Bei Frauen über 60 sei dies eine häufige Todesursache, hatte er gesagt. Sie war über 60 gewesen? 59.
Pat hatte ihn also nicht fernsehen lassen. Die Tatsache an sich war die erste Information. Aber dieses Detail hatte darüber hinaus eine weitere Bedeutung: Louis brachte das Gespräch nun von sich aus auf Pat. Er hatte ihren Namen seit seiner Rückkehr bislang nicht ausgesprochen.
»Du hast Pat noch kein einziges Mal erwähnt, seit du wieder da bist«, sagte Anja.
Er nickte. »Ich weiß, das ist schräg. Ich habe kaum über sie nachgedacht. Und ich habe auch seit der Beerdigung nicht geweint.« Er war nach dem Duschen nun völlig trocken und stieg in seine Shorts. Sie starrte ihn an.
»Du hast auf der Beerdigung geweint?«
»Ja, es ist so krass, was die mit der Kirche gemacht haben.«
»Mit der Kirche?«
»Die First Christian Church, in der mein Vater früher gespielt hat.«
Kirche, Vater, Orgel: Check.
»Was haben sie gemacht?«
»Die Kanzel abgerissen, das war so ein schöner Thron aus Holz. Scheinbar ist es für die Prediger nicht mehr angesagt, stillzustehen, sie sollen rumlaufen, als wollten sie Jesus verkaufen. Sie haben eine riesige Leinwand angebracht, um Filme zu zeigen und eine Stereoanlage für Christrock. Ich nehme mal an, die Aufmerksamkeitsspanne der meisten Leute ist nicht mehr lang genug, um für die Dauer einer ganzen Predigt stillzuhalten, wenn es keine Multimedia Show gibt. Die verstehen nur nicht, dass dieses Gebäude nicht dafür gemacht ist, es taugt nicht zur Megakirche.«
»Das ist die Kirche von Eero Saarinen, oder?« Zusatzinformationen, danke, Google. Anja wusste, dass Columbus eine Brutstätte der modernen Architektur war. Ein Leuchtfeuer der Kultur im Mittleren Westen, die großen Namen tummelten sich hier. Louis war auf dieses Thema immer wieder zu sprechen gekommen und hatte seine Bedeutung jedes Mal aufs Neue betont.
»Nein, Eliel, sein Vater. Die Kirche war die erste große Architektur in Columbus.«
»Gibt es da keinen Denkmalschutz?«
Er saß auf dem Bettrand und zog seine Socken an, die er normalerweise beim Schlafen trug. »Columbus hat so eine schräge Mischung aus anspruchsvoll und ordinär, die echt schwer zu erklären ist. Architektonische Meisterwerke zwischen Einkaufszentren, heruntergekommenen Garagen und Wohnwagensiedlungen. Die Leute merken gar nicht, dass die öffentliche Bibliothek von I.M. Pei ist, die Teenager wissen nur, dass es in ihr viele dunkle Ecken zum Rumknutschen gibt. Dann ist da noch dieser riesige Ring an Industriebauten um die Stadt, weil die Motorenfirma zwar für all die schicke Architektur gezahlt, ihre eigenen Fabriken aber nie auf Vordermann gebracht hat. Also leben und arbeiten die meisten Leute tatsächlich in diesen echt beschissenen Anlagen, aber die Stadt sieht immer noch schön aus für die Touristen.
»Die Motorenfirma hat für die Architektur bezahlt?« Sie tastete sich vor. Kein Glück.
»Das Unternehmen wollte was für die Gesellschaft tun. Philanthropie. Damals war es noch neu, dass Unternehmen so was machen.«
Sie wusste, in welche Richtung sich das Gespräch bewegte. Es bewegte sich sehr weit weg von Pat, weg vom emotionalen Inhalt, hin zum intellektuellen. Und er hatte Laura noch beschuldigt, ihr Interesse fürs Fernsehen hinter einem akademischen Anspruch zu verstecken. Er wusste, wovon er sprach.
Doch sie zog mit, spielte ihre Rolle. »Was hatten die Leute von der Motorenfirma davon, dass sie für die Architektur bezahlt haben?«
»Das ist die Sache mit dem wohltätigen Engagement von Unternehmen, es ist nicht klar, was die davon haben. Die machen das aus vielerlei Gründen, fürs öffentliche Ansehen, die Arbeitsmoral. Aber wenn man das ein bisschen allgemeiner betrachtet, ist das auch eine Art, wie sie die Leute überzeugen, dass wir die Regierungen für öffentliche Dienstleistungen gar nicht brauchen. Wenn Unternehmen wohltätig sind und Bäume pflanzen und schöne Gebäude bauen, werden die Leute nicht die Regierung unter Druck setzen, dass die ihren Job macht und mitmischt. Wie heißt es so schön, Philanthropie ist ein Grundpfeiler des Neoliberalismus.«
Er ging ins Badezimmer und kehrte mit seiner Zahnbürste in der Hand zurück. »Warte mal, wie lange läuft Der Bachelor eigentlich schon? Ist das nicht schon vor zwanzig Jahren rausgekommen?«
»Noch länger her. Das ist die älteste noch laufende Reality-TV-Sendung aller Zeiten. Außer Big Brother vielleicht.«
»Kaum zu glauben«, sagte Louis, der wieder ins Badezimmer zurückgegangen war und sich die Zähne putzte.
Sie rief ihm zu: »Aber warum interessiert sich eine Motorenfirma für moderne Architektur? Scheint mir ein bisschen ein Nischenthema zu sein.«
»Da war ein Superhirn am Werk«, gurgelte er zurück. Sie wartete, bis er ausgespuckt hatte, und sie das Wasser in den Abfluss laufen hörte.
»Ein Superhirn also.« Er kam aus dem Badezimmer und hockte sich auf die Bettkante.
»Ja, ein Vordenker!« Er lehnte sich zurück, um sie anzusehen. »J. Irwin Miller, Prototyp des ethischen Firmenbosses der Zukunft.«
Sie lachte. »Willst du mir die Geschichte erzählen?«
»Eine Gutenachtgeschichte. Lass mich kurz nachdenken.« Er fuhr sich gespielt übers Kinn, offensichtlich gab es nichts, worüber er nachdenken musste. Er war bestens vorbereitet auf die Welt gekommen. »Gehen wir zurück in die 1940er Jahre.« Sie lachte erneut.
»Wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg.«
»Okay.«