Lass ihn sein Ding machen. Trauer ist nicht ansteckend. Du hast keinen Grund, Angst zu haben.«
Anja dachte einen Moment lang darüber nach. Wie schräg. Angst, das war es.
»Was auch immer sonst da gerade los ist, er liebt dich«, sagte Laura. »Er ist eine wahnsinnige Nervensäge, aber offensichtlich liebt er dich.«
»Oh«, Anja lächelte, ohne es zu wollen. »Ja, nehme ich mal an. Danke.«
Sie schüttelte Dams Arm, und seine Augen öffneten sich einen Spaltbreit. Aus ihrem Schoß sah er sie an. »Dam, gehst du heute noch aus, oder was?«
Er runzelte die Stirn. »Zum Teufel, nein. Ich verlasse das Haus nicht. Hast du nicht bemerkt, wie neblig es heute war? Ein seltsamer Geruch liegt in der Luft. Ich traue der Sache nicht.« Er fand sein Handy in der Tasche seiner Cargo-Hose. »Ich sollte wahrscheinlich jetzt ein Update verschicken.« Ohne auf den Bildschirm zu blicken, begann er zu tippen.
»Wie kannst du eine Wettermeldung verschicken, wenn du nicht mal draußen warst?«
Er verdrehte die Augen. »Intuition. Gerüchte. Den ganzen Tag lang schicken mir Leute aus der ganzen Stadt Neuigkeiten. Ich konsolidiere das nur. Wie dem auch sei«, sagte er und lächelte, »ich habe keine Lust, heute auszugehen und ich will nicht, dass irgendjemand ohne mich feiert. Da kann ich sie ebenso gut mit meiner Vorhersage ein bisschen erschrecken.« Er warf Laura einen Blick zu, die ihren Stuhl zurückgekippt hatte und nun an der Wand lehnte. Den obersten Knopf ihrer Hose hatte sie geöffnet und rieb sich den vollen Bauch. »Laurita, sieh dich nur an. Du benimmst dich genau wie Mama, wenn sie zu viel gegessen hat. Mach die verdammte Hose zu.«
hitzewelle trocken / modergeruch / tipp: behaltet eure paranoia besser für euch
Keine Spur von Louis, als sie gegen Mitternacht die Tür aufwuchtete. Dafür Spuren anderer Leute, nahe dem Waschbecken waren einige matschige Fußabdrücke auf dem Küchenboden zu sehen. Offensichtlich hatte Howard jemanden überzeugen können, den Berg hinaufzustapfen und so zu tun, als würde etwas repariert. Aus der Schublade mit dem Kontrollset ragten die nackten Enden einiger Kabel. Sie hatten nur Chaos angerichtet: die Illusion von Fortschritt. Sie huschte aus der Küche, entschied zu schlafen, oder so zu tun, bis Louis nach Hause kam.
Sie war daran gewöhnt, dass er spät aus seinem Atelier bei Basquiatt zurückkam. Niemand zwang ihn, Überstunden zu machen, aber wenn er nicht leidenschaftlich genug war, um länger zu bleiben, warum hatte er den Job dann überhaupt? Sie fragte sich, ob sie nun im selben Boot saß, eine Beraterin ohne feste Arbeitszeiten. Aber sie war nicht er. Er war immer schon so gewesen.
Basquiatt war keine große NGO, und sie stellten immer nur einen Künstler-Berater ein – neben so vielen Freischaffenden, oder kurzfristig Angestellten wie für ein bestimmtes Projekt benötigt –, also musste der Auserwählte ein echter »Querdenker« sein. Genau das war Louis.
Sein Job bestand aus zwei Aufgaben: Pressewirksame Experimente am Rande der eher traditionellen Grenzen des Unternehmens zu generieren, und im Verlauf dieses Prozesses die Unternehmenskultur zu verbessern und die Unternehmenswerte von innen heraus zu stärken. Er sollte nicht an einem konkreten Projekt in einer konkreten Region herumspielen – etwa Städteforschung in Lagos oder Impfkampagnen auf den Philippinen –, er sollte nicht an diesem oder jenem Ort die Welt verbessern, sondern Basquiatt verbessern und somit Basquiatt helfen, die Welt zu verbessern. Er zeigte der Institution neue Wege des Denkens auf, und brachte ihr bei, ihre eigene Institutionalität kritisch zu hinterfragen. Durch seine bloße Anwesenheit sorgte er dafür, dass die Institution hip und frisch blieb. Seine Kreativität war Mittel und Zweck zugleich.
Seinen elitären Status erhielt Basquiatt durch einen strengen Auswahlprozess für Investoren aufrecht. Aktien wurden nicht öffentlich verkauft, sie wurden gezielt Investoren angeboten, die für ihr ethisches Handeln bekannt waren und sich bereit erklärten, mehrere Prüfungen zu durchlaufen, bevor es ihnen gestattet wurde, Anteile zu kaufen. Alle paar Jahre kam es zu einem Skandal, wenn ein Basquiatt-Aktionär sich als geheimer Waffenlieferant oder Geldwäscher entpuppte, aber das Aussortieren fauler Äpfel war nur Teil der Routine, die nötig war, um den generellen Eindruck von Unverdorbenheit aufrechtzuerhalten. Jeder Apfel hatte einen Wurm oder zwei, am besten entlarvte und verbannte man sie mit so viel Pomp wie möglich.
Anja fand das neue Tablet unter Louis’ Kissen und fuhr mit dem Finger über den Bildschirm, um es zu entsperren. Sie wischte durch die geöffneten Seiten, Spiele und noch mehr Spiele, und wertete es als gesundes Zeichen, dass Louis es hier liegen gelassen hatte, um sich anderen Aktivitäten zuzuwenden. Dann erinnerte sie sich daran, dass er mit Prinz unterwegs war. Wahrscheinlich hatten sie noch andere Leute getroffen und waren in eine Bar gegangen. Sie hätte mitgehen sollen, aber sie fühlte sich körperlich zu schwach. Louis’ Lungen hielten dem gesellschaftlichen Passivrauchen besser stand als ihre. Wenn sie länger als ein paar Stunden in einer verrauchten Bar saß, bekam sie immer gleich eine Nebenhöhlenentzündung. Berlin, der letzte Ort auf diesem Planeten, an dem noch geraucht werden durfte.
Automatisch öffnete ihr Finger das E-Mailprogramm auf dem Tablet. Als sie sah, wie Louis’ gesamtes Leben sich vor ihr entfaltete, setzte sie sich auf. Ihr Finger schwebte in der Luft, unentschlossen. Sie horchte in sich hinein, suchte nach einem wirklichen Verdacht, dem Verlangen, zu wühlen. Er hatte das Ding zuhause gelassen – ohne es durch ein Passwort zu sichern –, weil er nichts zu verbergen hatte. Und was sollte sich denn schon in dieser Maschine verstecken? Der kleine goldene Schlüssel zu seinem Seelenzustand? Das Passwort, damit sie sich völlig sicher fühlte in ihrer Beziehung?
Wenn es kein Geheimnis gab, gab es auch keinen Grund, nicht durch die Nachrichten zu scrollen. Sie sahen sich ständig die Nachrichten des anderen an. Das war echte Intimität.
Sie beschränkte sich auf ein beiläufiges Stöbern in den Betreffzeilen. Jede Menge interner Basquiatt-Mails. Er hatte sich alle unsensiblen E-Mails an seine private Adresse weitergeleitet. Es war sinnlos, Arbeit und Leben künstlich voneinander getrennt zu halten.
Re: treffen mittwoch
PRESSEMITTEILUNG eilt :)
Mein Beileid
Davon gab es einige, von Basquiatt-Mailadressen und anderen. Fühl dich umarmt. Komm zu Kräften.
Da waren viele Nachrichten von Prinz, meist ohne Betreff, wahrscheinlich Memes. Eine hätte sie beinahe geöffnet, sie stammte von einer Adresse, die aussah wie die einer Anwaltskanzlei. Nächste Schritte: Erbschaftssteuer. Über das Erbe hatten sie kaum gesprochen. Sie wusste nur, dass die Vermögenswerte unbedeutend waren.
Eine ungeöffnete E-Mail von diesem Nachmittag ließ sie mit dem Finger in der Luft erstarren: 16:00 [email protected]. In ihrem Postfach war diese Adresse ein gewöhnlicher Anblick, hier aber wirkte sie fremd. Sie hockte dort zwischen den anderen ungelesenen Nachrichten wie in einer Reihe reifer Kirschen im Spielautomat.
Die Betreffzeile verriet nicht viel: Feedback.
Ihr Handy bimmelte und ihr Herz machte einen Sprung. Louis, er war auf dem Weg nach Hause. Sie atmete tief aus, schloss alle Apps und schob das Tablet wieder unter das Kissen zurück.
Sein Kissen, der Abdruck seines beeindruckenden Kopfes darauf. Sein Kopf auf seinem Kissen in ihrem Bett. Das extrabreite Bett, das einem zustand, wenn man zusammenlebte. Anja wusste, dass sie nur ein Paar von vielen waren, das sich in das Nest seiner Intimität kuschelte, überzeugt davon, dass es einzigartig war, wo es doch auf der ganzen Welt Leute gab, die sich wie sie selbstgefällig aneinander klammerten, völlig identisch in ihrer Einzigartigkeit. Als Paar zusammenzufinden und zu leben war die normativste Angelegenheit der Welt. Man konnte unmöglich sagen, ob man diese Lebensform annahm, weil sie einfach zur Verfügung stand, oder weil man es wirklich wollte. So oder so war es eine fundamental gewöhnliche Art zu leben.
Und doch hatte sie immer vermutet, dass sie beide wirklich etwas Besonderes waren, weil Louis etwas Besonderes war. Louis’ Verlangen, Gutes für die Welt zu tun, rang stets mit seinem Wunsch nach Erfolg um jeden Preis – ständig