Elvia Wilk

Oval


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überleben«, wiederholte sie, und erinnerte sich daran, dass Howards Vater vor langer Zeit gestorben war. Sie hatten nie wirklich darüber geredet. Sie überlegte, die Unterhaltung herumzudrehen, und über Howard zu sprechen. Es würde nicht funktionieren.

      »Es lässt sich nicht vorhersagen, was passieren wird, oder was er brauchen wird«, sagte Howard mit beruhigender Stimme. »Sei einfach geduldig. Die Wege des Traumas sind unergründlich.«

      »Aber gibt es nicht auch universelle Dinge? Es ist ganz einfach kategorisch schlecht, wenn ein Elternteil stirbt. Selbst wenn du ambivalente Gefühle ihnen gegenüber hegst, oder sie hasst, ist es im Großen und Ganzen schlimm, wenn sie sterben.«

      »Vielleicht ist es nicht für jeden gleich schlimm.«

      »Wenn meine Eltern sterben würden, wollte ich, dass alle um mich herum durchdrehen, Kram verbrennen und alles zerstören.«

      »Aber es ist nicht dir passiert. Es ist ihm passiert.«

      Sie holte tief Luft und öffnete sich ihm völlig. »Ich weiß, dass ich nicht meine Gefühle auf ihn projizieren sollte, aber ich will nicht ahnungslos abwarten, nur damit er dann plötzlich ausrastet.«

      »Vielleicht rastet er gar nicht aus. Manche Leute nehmen das Leben eben leichter.«

      »Glaubst du das wirklich? Aus dir spricht das pure Privileg.«

      Er zeichnete mit seinem Finger einen Kreis um sein Gesicht. Sieh mich an. Eine Minderheit.

      »Ach, komm schon. Du weißt, was es heißt, privilegiert zu sein.« Sie ahmte seine Geste nach, zeichnete einen größeren Kreis in die Luft, der die renovierte Altbauküche mit dem blauen Keramikwaschbecken und der Edelstahlwaschmaschine einschloss.

      »Ich will damit nur sagen, dass Louis eine eher unkomplizierte Person ist.« Die nicht gerade subtilen Sticheleien gegen Louis nahmen zu. Sie ignorierte sie. Sie hatte um Rat gebeten; sie musste das, was mit dem Ratschlag einherging, schlucken. »Du neigst dazu, dich zu sehr in das Leben von Menschen einzubringen, die dir etwas bedeuten«, sagte er. »Das ist zwar sehr liebenswert und vorbildlich, aber nicht immer gut für dich. Setzen Sie zuerst Ihre eigene Sauerstoffmaske auf.«

      »In Ordnung. Das ist genug väterlicher Rat für heute.«

      »Ich klinge nur wegen meines britischen Akzents so herablassend.«

      »Das sagst du immer.« Sie lächelten einander an, und dann fragte sie: »Und wie läuft es mit – deinen Sachen? Hast du irgendwelche Sorgen?« Das übliche, unaufrichtige Angebot. Sie kannten beide die Dynamik, die zwischen ihnen herrschte. Sie war unausgeglichen, aber stabil. Alles, was sie über ihn wusste, war, dass er viel über sie wusste.

      Er lehnte sich ihr leicht entgegen, eine kaum wahrnehmbare Geste, der kein Außenstehender Bedeutung beimessen würde, die aber eine umso intimere Botschaft übermittelte, weil sie so verkümmert war.

      »Wenn du schon fragst, wir stecken momentan in einer kleinen PR-Krise«, sagte er.

      »Ach ja?«

      »Unter uns.«

      »Okay.«

      »Nicht einmal Louis geht das etwas an.«

      »Ich hab’s verstanden.«

      »Um ganz ehrlich zu sein«, sagte er und legte seine Fingerspitzen auf den Tisch, so dass die Hände kleine Zelte bildeten, »die Probleme mit The Berg sind nicht bloß technischer Natur.« Sie sah ihn ausdruckslos an, einen Moment besorgt, dass sie über ihre Schummelei mit dem Müll Bescheid wussten. Niemand beobachtet uns, rief sie sich in Erinnerung. Nur die stille, sich drehende Linse der Kameras. »Es ist zu internen Machtkämpfen zwischen den Architekten und den Ingenieuren gekommen, sogar die PR-Abteilung war involviert. Wegen der Unstimmigkeiten steht momentan alles still.«

      »Unstimmigkeiten in Bezug auf was?«

      »Sie haben sich nie offiziell darüber geeinigt, wie viel Technik es tatsächlich auf dem Berg geben soll. Einige der Architekten sind der Meinung, ihr solltet es nicht ganz so gemütlich haben. Die finden es zum Beispiel nicht sehr authentisch, dass ihr Klimaanlagen habt.«

      »Aber das System zur Regulierung des Klimas hängt am zentralen Stromnetz. Das ist eintausend Prozent CO2-neutral. Das schadet der Umwelt gar nicht.«

      »Ganz offensichtlich. Ich bin auf eurer Seite. Es ist immer eine willkürliche Entscheidung, was natürlich genannt wird, und was künstlich. Diese Entscheidungen sind alle symbolisch, und jede von ihnen repräsentiert eine politische Stellungnahme.«

      »Aber wenn irgendjemand entscheidet, dass unsere Klimaanlage und unsere Heizung unnatürlich sind, was kommt dann als nächstes? Dann findet irgendjemand, dass sauberes Wasser fake ist, und dann findet jemand, dass auch LEDs fake sind, und dann sagt jemand, wir dürften nichts essen, was wir nicht selbst anbauen. Wer entscheidet diese Angelegenheiten eigentlich?«

      »Das ist sozusagen das andere Problem. Eine Gruppe von Architekten hat gekündigt. Sie waren verärgert, dass ihre Pläne wie Vorschläge behandelt wurden und nicht wie verbindliche Vorgaben.«

      »Und keiner weiß davon.«

      »Daher der PR-Aspekt. Ich habe alle Hände voll zu tun, da ’nen Deckel draufzuhalten. Wir wollen nicht, dass die Leute durchdrehen.«

      »Es scheint dir egal zu sein, ob ich durchdrehe.«

      »Ich glaube, du kannst damit umgehen.«

      »Kann ich auch. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht ewig in diesem Haus sitzen und abwarten. Immerhin hast du uns da reingeholt?«

      »Nur Geduld. Sobald die da oben ihre Entscheidungen getroffen haben, sind die Lösungen einfach. Um die Heizung zu reparieren, müssen sie, glaube ich, nur ein paar durchgetrennte Kabel wieder mit dem Herzstück verbinden, oder wie sie es auch immer nennen, dieses ZPE-Ding.«

      »Du hast wirklich keine Ahnung von der Technik.«

      »Nicht die geringste. Ich halte mich an die Politik. Ich meine PR.«

      Ihre Schwester hatte sie damals überzeugt, die Geschichte mit Howard zu beenden. »Er projiziert irgendeine Fantasie auf dich«, hatte Eva gesagt. »Wie alt ist er, fünfundvierzig? Er will jemand ewig Junges. Er glaubt, du fändest es okay, das Mädchen für nebenbei zu sein. Er wird sich nie wirklich für dich entscheiden.«

      Anja hatte nie erwartet, dass Howard sich für sie entschied – tatsächlich wollte sie ganz genau das nicht –, aber die Vorstellung, von irgendjemandem als das »Mädchen für nebenbei« wahrgenommen zu werden (neben was eigentlich?), war schlimm genug, dass sie sich überzeugen ließ, Schluss zu machen. Da sie sich nicht in der Lage fühlte, aus sich heraus die Verbindung zu kappen, gelang es ihr, sich einzubilden, dass er sie zurückwies, und damit begab sie sich hinab in den Tunnel körperdysmorpher Störungen. Sie machte sich selbst glauben, Howard befände sich auf der Suche nach irgendeinem Idealbild mädchenhafter Perfektion und jede kleine Unebenheit disqualifiziere sie. Es konnte nicht sein, dass sie an ihm romantisch gesehen vielleicht gar nicht so sehr interessiert war; nein, das war keine Option; er war eine einflussreiche Person; die Erklärung konnte nur lauten, dass sie inadäquat war.

      Sie gab sich Selbstzweifeln hin, verdeckte in seiner Gegenwart ihre Arme, ihre Waden, ihre Brüste, wurde sprunghaft, und sorgte für immer peinlichere Szenen. Am Tiefpunkt ihrer Beziehung beschuldigte sie ihn, beim Sex immer nach ihren fettesten Körperpartien zu greifen. Er sagte: »Selbstverständlich, die mag ich am liebsten«, und das war dann das Ende.

      Louis hingegen wurde von Eva akzeptiert. »Ich hab ein Bild von ihm im Internet gefunden«, sagte sie. »Der ist heiß. Siehst du, es hat nur einen Monat gedauert, bis du einen Besseren gefunden hast. Du solltest eine höhere Meinung von dir selbst haben.«

      Anja beschloss, in diesen Angelegenheiten nicht mehr auf Eva zu hören. Sie hatte das schon oft beschlossen und war immer wieder eingeknickt, doch bei Louis gelang es ihr endlich, Eva nicht immer weiter mit Details zu füttern; Louis sollte ein heiliger Raum bleiben, frei von bohrenden Fragen. »Du musst es ernst mit ihm meinen«,