Elvia Wilk

Oval


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Hände und faltete sie erneut. »Aber den Müll an einem anderen Ort zu entsorgen, ist Schummelei«, sagte sie. »Wenn das Haus nicht mit all meinem Müll klarkommt, dann haben die Designer ihren Job nicht richtig gemacht und sollten die Sache auch beheben.«

      »Die haben ganz offensichtlich ihren Job nicht richtig gemacht, Anja. Nichts funktioniert in diesem verdammten Haus. Ich werde nicht jeden Tag meinen ganzen Müll heimschleppen. Das ist einfach nicht realistisch – willst du, dass ich die Verpackung von meinem Mittagessen aufhebe? Wo hört das auf? Soll ich etwa mit dem Scheißen warten, bis ich nach Hause komme?«

      »Warte mal, wieso ist dein Mittagessen verpackt? Ich habe dir eine Lunchbox gekauft!«

      Am Ende hatte sich Louis’ praktisches Wesen durchgesetzt, wie es das gerne mal tat. Er hatte recht: Anja konnte mit dem Scheißen nicht warten, bis sie zuhause war, und sie konnte auch nicht den Überblick behalten über alles, was sie verbrauchte. Allein der Versuch hatte zu einem ontologischen Zusammenbruch auf der Mikroebene ihres Alltags geführt. Waren Wimpern und Hautzellen gleichzusetzen mit Haargummis und Kaffeebechern? Waren Einweg-Kaffeebecher gleichzusetzen mit einem Becher, der mit Grauwasser aus dem Haus gereinigt werden musste, das hochzupumpen wieder Energie verbrauchte? Sie konnte sich nicht dazu durchringen, die Nachbarn zu fragen, wie sie die Dinge handhabten, überzeugt davon, dass alle automatisch die Regeln verstanden. Ihre Verwirrung offenzulegen, hätte geheißen, alles offenzulegen, einschließlich ihrer Zweifel.

      Das war erst wenige Monate her, doch neuerdings, da immer mehr Teile des Systems verstopften oder ins Stocken gerieten, hatten die beiden angefangen, das genaue Gegenteil von dem zu praktizieren, was Anja ursprünglich getan hatte: Sie trugen ihren Müll den Berg hinunter und entsorgten ihn klammheimlich in den orangefarbenen Mülleimern am Straßenrand. Zunächst hatte Anja sich geschämt, den Hang mit einem Rucksack, vollgestopft mit einem vom Laptop plattgedrückten Bündel Müll, herunterzumarschieren, doch Louis versicherte ihr, dass sie nur taten, was von ihnen verlangt wurde: Sie verliehen der Nachhaltigkeit ein gutes, sauberes Gesicht. Irgendwann fühlte es sich genauso verantwortungsbewusst an, den Müll vom Berg hinunterzubringen, wie es sich zuvor angefühlt hatte, ihn hinaufzutragen.

       2

      Anja schlitterte den Hang hinab, der durch die Überbeanspruchung matschig geworden war. Er war bislang weder gepflastert oder auch nur mit Kies bestreut worden, weil Fin-Start nicht zugeben wollte, dass der Zustand des Pfades vernünftigerweise nicht länger als provisorisch bezeichnet werden konnte. Anstatt das Provisorium zu optimieren, um es während der nicht endenden Zwischenzeit funktionaler zu gestalten, wurde es ignoriert, wie zum Zeichen, dass etwas Besseres, etwas Großartiges – der bestmögliche Pfad – kommen würde.

      Louis verglich diese Situation mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem. Die Weigerung, eine Nichtlösung mit einer Behelfslösung zu verbessern, sagte er, sei die Geisteshaltung, die einen Großteil der Welt zu einem schlammigen Hang machte, der der Instandsetzung bedurfte. Genau diese Argumentation hatte ihn tatsächlich während seines ersten Jahres bei Basquiatt viel Zeit gekostet, der NGO, für die er arbeitete und die seiner Meinung nach einem ideologischen Glauben an große Lösungen aufsaß, die niemals erreicht werden konnten, und zwar zum Nachteil von kleinen, praktisch anwendbaren Kompromissen. »Lasst uns realistisch sein!«, parodierte er sich häufig selbst. »Was können wir heute tun, um die Lage zu verbessern?«

      »Was glaubst du, warum Flüchtlingslager nie mit einer anständigen Infrastruktur ausgestattet werden?«, hatte er Anja nur wenige Tage vor seiner überstürzten Abreise in die USA gefragt. Sie hatten im Regen ihre Einkauftaschen den Hang hochgeschleppt zu ihrer Wohnung, die Oberkörper stets gegen den Anstieg gestemmt, während ihre Turnschuhe im Matsch wegrutschten; es war jämmerlich.

      »Schlammige Szenen der Verwahrlosung«, rief er ihr den Berg hinunter zu, fest entschlossen, die Diskussion aus irgendeinem Grund genau in diesem Moment zu führen. Je schlimmer die Dinge in ihrer Wohnung wurden, desto stärker neigte er zu Tiraden. »Der Schlamm soll ein Zeichen sein, dass die schlimme Situation nicht ewig andauern wird, egal, wie lange sie schon andauert. Sie wollen dich glauben lassen, das Lager gäbe es nur vorübergehend, damit niemand die Verantwortung dafür übernehmen muss.« Seine Stimme wurde lauter, je weiter sie zurückfiel. »Die Lebensqualität im Hier und Jetzt«, brüllte er über die Schulter, »wird dem Ideal geopfert. Verstehst du, was ich meine?«

      Natürlich verstand sie, was er meinte. »Aber dir ist schon klar, dass du The Berg mit einem Flüchtlingslager vergleichst, oder?« Damit war die Diskussion beendet.

      Heute trug sie nur einige Avocadoschalen in den Taschen ihres Vinyl-Anoraks. Die ganze Wohnung glich einer einzigen heißen, geschwollenen Beule, sie traute sich nicht, irgendwas in den Abguss zu stopfen. Sie winkte einer Gruppe Elektriker in Blaumännern zu, die gelangweilt um einen Pfeiler standen, der eines der Kabel der Seilbahn tragen sollte. Sie hatten die Gondel auf einen Stapel Holzpaletten gehievt. Einer der Arbeiter warf einen Zigarettenstummel auf das bloßliegende Ende eines halb im Matsch vergrabenen Kabels, und es stieß einen kläglichen Funken aus.

      Als sie ihr Fahrrad von einem Pfahl am Fuß des Hangs losmachte, sah sie, dass Louis’ Rennrad noch immer an einen Baum angeschlossen dastand. Er musste die Bahn genommen haben. Sie steckte ihr Telefon in das Ladegerät auf der Lenkstange, und checkte ihre Nachrichten. Dam hatte bereits die ersten Wetternews des Tages verschickt: 35° trocken/Lavendel/schwülheiße Westböen.

      Zum Vergleich blickte sie auf die Wetter-App ihres Telefons. Höchsttemperatur 24 Grad, windstill, wolkenlos. Die Diskrepanz zwischen der offiziellen Version und der von Dam – der richtigen Version – sollte sie längst nicht mehr stören, tat es aber. Sie steckte sich Ohrstöpsel in die Ohren und begab sich auf die lange Fahrt hoch in den Prenzlauer Berg, zu Howards Wohnung. Normalerweise benötigte sie dafür eine halbe Stunde, die Länge eines Podcasts, aber heute trat sie schwerfälliger als sonst in die Pedale, bei jedem Tritt schwang sie von einer Seite zur anderen. Sie war erschöpft, und wie von Dam vorhergesagt, kam aus Westen heißer Wind. Der Himmel war blass lila, mehrere Wolkenebenen lagen übereinander, jede von ihnen eine identische, verblasste Kopie der anderen. Ebene hinzufügen. Ebene hinzufügen. Diese Ebene duplizieren. Auf Hintergrundebene reduzieren.

      Mit einem Teil ihres Hirns hörte sie den Podcast, mit dem anderen dachte sie darüber nach, was jetzt wohl gerade im Labor vonstatten ging. Sie war leicht angespannt, weil sie den Vormittag dort verpassen würde. Wahrscheinlich hätte sie Howard bitten sollen, sich abends nach der Arbeit zu treffen.

      In der Woche zuvor hatte die Simulation, die sie und Michel seit Wochen programmierten, endlich die Kultivierung von Zellen autorisiert. Heute war der erste Tag seit zwei Monaten, an dem sie nicht vor ihren Bildschirmen sitzen mussten, sondern winzige Dinge mit ihren wirklichen Händen in wirkliche Polystyrenschalen legen würden. Es war seltsam, sich auf einen Vorgang zu freuen, von dem sie zweifelsfrei wussten, wie er ablaufen würde. Immer und immer wieder hatten sie in Hochauflösung gesehen, wie die Routine sich vollzog; die absolute Vorhersagbarkeit der Ereigniskette war der einzige Grund, warum sie die ganze Sache überhaupt in einer Schale geschehen lassen durften.

      Vor ihrem inneren Auge sah sie die Animation. Eine Zellmembran schwoll an, um an ihrer Peripherie einen neuen Fleck unterzubringen – einen verrückten Moment lang ein Ei mit zwei Eigelb – dann drängte der neue Fleck nach außen, bis schließlich der Rand der Zelle aus seiner Begrenzung ausbrach, um ein neuer, eigener Rand zu werden. Er schlüpfte bemerkenswert weit davon und rülpste sich in seine eigene, geschlossene Form – aus unmöglich wurde möglich. »Plop« sagte Michel jedes Mal, wenn sie die Duplikation auf dem Bildschirm verfolgten. »Plop-plop-plop.«

      Sie tröstete sich mit der Tatsache, dass heute nicht der wichtigste Tag war. Erst morgen würde sich aus all diesen langsamen Plops eine Oberfläche bilden, die für das bloße Auge sichtbar war. Die Plops waren so entwickelt worden, dass sie sich sehr langsam vollzogen – so wuchsen sie zu einem Strang greifbarer Materie. Die Oberfläche würde zunächst durchsichtig sein und sich im Verlauf der Stunden zu einer perfekt symmetrischen Doppelwelle formen, wie die Kontur eines Gaumens, aber unfassbar glatt. Und so klein – perfekt angepasst an die Rahmenbedingungen