Elvia Wilk

Oval


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doch, dass ich die Hälfte meiner Zeit mit E-Mails verbringe. Aber in der restlichen Zeit kannst du tun, was du willst. Du kannst gucken, was verbesserungswürdig ist und es einfach verbessern. Wie viele Berater hat RANDI momentan? Nur zwanzig, oder so? Das ist doch ein Riesending!«

      Als er sie weiterhin ermunterte, schien sein Enthusiasmus immer weniger mit ihr zu tun zu haben. Ihr war das peinlich. Sie wiegelte die Komplimente ab und erkundigte sich, wie sein erster Arbeitstag lief. Er versprach, einen der Blumensträuße, die er geschenkt bekommen hatte, mit nach Hause zu bringen. Sein Postfacheingang war sagenhaft voll, der Rückstau scheinbar unüberwindbar; er hatte einige Praktikanten wie ein Rudel Hunde darauf angesetzt.

      »Prinz lässt dich übrigens grüßen.« Prinz war also bei ihm. Oberflächlich betrachtet war das nicht ungewöhnlich; Prinz hing immer in seiner Nähe herum.

      »Was macht ihr so?«

      »Er hat mir gerade dieses Buch über Psychotropika gekauft, von dem er mir erzählt hatte.«

      Es folgte ein Exkurs über psychotrope Substanzen, die die menschliche Erinnerung umstrukturieren konnten, wobei die Struktur des Gehirns modifiziert wurde, um durch negative Ereignisse entstandene Schäden zu heilen. Anja hätte das vielleicht interessant finden können, war aber zu beschäftigt damit, Louis gedanklich mit dieser Person in Einklang zu bringen, die ihr da freiwillig so viel am Telefon erzählte. »Prinz sagt, in dem Buch steht, dass die Leute mitunter zwanzig Jahre jünger aussehen, nachdem ihre Erinnerungen neu verdrahtet wurden. Die Geschichten sind total abgefahren.«

      »Bleibt er den ganzen Tag, oder was?«

      »Er wollte nur mal nach mir schauen.«

      »Das ist nett von ihm.«

      »Jep.«

      Sie zögerte. »Arbeitest du heute länger?«

      »Ich weiß nicht. Kommt darauf an, wie viel ich für dieses Projekt erledigen kann, das jetzt endlich in Gang kommt.«

      »Cool.« Die Frage hing in der Luft; Anja atmete ins Handy, und übergab sie damit dem Gerät. Sie würde nicht fragen. Sie ging auf Nummer sicher. »Dann sprechen wir wohl später.«

      »Prinz und ich wollten vielleicht abends was essen gehen.«

      »Na klar. Viel Spaß.« Sie achtete darauf, ihren Worten keinen bitteren Unterton zu verleihen.

      »Komm doch mit! Warum kommst du nicht einfach mit?«

      »Mach dir um mich keine Sorgen. Ihr zwei solltet Zeit miteinander verbringen.«

      Sie dachte so angestrengt über jede ihrer Antworten nach, dass sie nicht sicher war, ob sie in Echtzeit antwortete, oder ob eine wahrnehmbare Verzögerung entstand. Die Dynamik zwischen ihnen während dieser Unterhaltung war aus dem Ruder gelaufen und doch so festgefahren. Sie wusste einfach nicht, wie sie sie umleiten sollte. Ihre schlimmsten Unsicherheiten, die sich seit Ewigkeiten nicht gemeldet hatten – sein Mangel an Abhängigkeit von ihr, das Gefühl, dass er Erfüllung im gesellschaftlichen Leben suchte und nicht bei ihr, seine glatte Unverletzlichkeit –, gingen nun mit ihr durch. Warum waren sie zurück? War sie diejenige, die diese Dynamik verursachte, oder er? Oder keiner von beiden?

      »Ich hatte ohnehin schon mit Dam und Laura besprochen, dass wir vielleicht zusammen essen«, log sie.

      »Oh, okay. Dann vergiss es.« Es gelang ihm, leicht beleidigt zu klingen.

      Sie ruderte zurück. »Ich wusste ja nicht, ob du Pläne hast …«

      »Ist schon in Ordnung. Wir sehen uns heute Abend.«

      Nein, entschied sie, wenn einer den Verlauf dieses Gesprächs bestimmte, dann er. Er wusste immer genau, was er tat.

      Anja wusste, dass sie jammerte, und sie wusste auch, dass Laura und Dam sie nicht dafür bestrafen würden. Sie hatte nur drei Garnelen gegessen, die sie mit spitzen Fingern aus den kleinen Mais-Torvilla-Schalen zog, hatte aber den Mangel an Kalorien mit Wodka kompensiert.

      »Seit er wieder da ist, scheinen all unsere Gespräche einen Subtext zu haben«, sagte sie in Lauras Richtung. »Unter Wasser lauern merkwürdige Schatten.«

      »Fische«, sagte Laura. »Die gibt's in jeder Beziehung. Die Frage ist, warum du überhaupt unter Deck guckst.«

      »Wie weise! Spätabends glänzt meine Schwester mit Weisheit«, warf Dam ein.

      »»Schon klar«, sagte Anja. »Ich halte absichtlich nach ihnen Ausschau, als wollte ich sie unbedingt finden. Aber ich weiß, da ist ein großer Fisch im Anmarsch. Ich kann ihn spüren.«

      »Wie lange ist Louis überhaupt schon wieder zurück? Vierundzwanzig Stunden? Dreh nicht durch«, sagte Laura. »Du machst alles nur schlimmer, wenn du jetzt durchdrehst.«

      »Ich mache immer alles schlimmer, weil ich durchdrehe.«

      Sie hatte zum Abendessen bei Laura und Dam Schutz gesucht, ohne auch nur vorher angerufen und sich angekündigt zu haben. Vielleicht war es ja ein Überbleibsel spanischen Familienlebens, dass die beiden unter der Woche fast jeden Abend zusammen aßen, Dam danach immer abspülte, Drogen nahm und irgendeinen dunklen Ort aufsuchte, den er zu erreichen hoffte, bevor die Wirkung einsetzte. Er hatte sich schon umgezogen, um auszugehen, ein schwarzer Dreiecks-BH war unter dem lose gewebten gelben Tanktop zu sehen, die kniehohen Stiefel lehnten neben der Tür, der Vinyl Trenchcoat hing über seiner Stuhllehne. Von seinem Kopf baumelten zwei lange Dreadlocks, die in der Woche zuvor noch nicht dagewesen waren.

      »Weißt du«, sagte Laura, »der große Beziehungsfisch kommt irgendwann immer. Wenn es jetzt nicht der Trennungsfisch ist, wird es eines Tages der Todesfisch sein. Du kannst nur hoffen, dass der Fisch langsam schwimmt.«

      »Wenigstens hast du einen Fisch«, sagte Dam. Anja registrierte, dass er gekrümmt über seinem Teller saß, mit rotem Gesicht und matten Augen.

      »Trinkst du nur aus Solidarität zu mir?« fragte sie.

      »Solidarität, Baby. Außerdem mache ich gerade diesen fundamental menschlichen Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl durch.« Er warf einen Blick auf sein Handy, was er auch schon während des Abendessens ununterbrochen getan hatte. Dann schloss er die Augen und drückte das Handy dramatisch an sein Herz.

      »Oh-oh. Wer ist es?«

      »Federico.«

      »Frederico?«

      »Federico. Er ist ein fürchterlicher alter Troll. Er ist ein Frauenhasser und ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch Rassist ist. Er ist wirklich ganz schlimm.«

      »Warum willst du dann unbedingt, dass er anruft?«

      Dam formte mit seinen Händen ein großes O. »Es geht um die Wurst«, sagte er grinsend. »Aber er arbeitet immer nur. Er ist auch bei Fin-Start, managt da irgendwas.«

      »Wer arbeitet nicht bei Fin-Start«, sagte Laura.

      »Meinst du, er könnte mir erklären, was bei denen los ist?«, fragte Anja.

      »Nicht, wenn er mir nicht zurückschreibt. Sechs Stunden ist zu lang!«, rief Dam und schleuderte sein Handy durch den Raum. Es prallte an der Wand ab und landete in der Nähe des Bücherregals. Dam hechtete von seinem Stuhl darauf zu. Nachdem er ein letztes Mal seine Nachricht gecheckt hatte, schlug er es gegen die Fensterscheibe. Ein lautes Knacken war zu hören.

      »Keine Sorge«, sagte er und drehte das Handy um. »Die Schutzhülle funktioniert zumindest.« Er blickte zum Fenster hinauf. »Aber das Fenster hat einen Sprung.«

      Sie sprachen einen Toast auf Federico, und Dam sah ein, dass es Zeit war, ihn ziehen zu lassen. Laura stand auf, leicht schwankend, um ihr Handy in den quaderförmigen Lautsprecher beim Fenster zu stecken.

      Auch wenn der Lautsprecher, magnetisiert wie in der Werbung versprochen, knapp einen Meter über dem Boden schwebte, funktionierte die Bluetooth-Verbindung doch nie, so dass sie die Endgeräte mit langen, schwarzen USB-Kabeln verbinden mussten, was den ästhetischen Effekt untergrub. Die Leinen wanden sich vom Boden nach oben zum schwebenden