zurück. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Vadym, ich will heute nicht schon wieder zu Paul gehen«, flüsterte sie mit piepsender Stimme.
Sie schien all ihren Mut gesammelt zu haben, um diese Worte auszusprechen. Dem Mädchen begannen Tränen über das Gesicht zu laufen.
Nelu blickte sie kalt an und zeigte keine Regung.
»Natürlich gehst du«, zischte er gefährlich leise.
»Ich will nicht«, schluchzte sie, »Paul ist gemein zu mir. Er tut mir immer entsetzlich weh. Günther ist viel netter. Kann ich nicht zu Günther gehen?«
»Wenn du nicht zu Paul gehst, siehst du mich nicht wieder. Er hat extra nach dir gefragt.«
Sie riss ihre Augen auf und starrte ihn entsetzt an.
»Wenn du nicht gehst, dann werde ich deine Schwester kennenlernen und mich nur noch ihr widmen«, fuhr Nelu ruhig fort.
»Natalie ist acht«, kreischte Luisa, und ihre Stimme überschlug sich, »die kann dir noch keinen Gefallen tun.«
Nelu lächelte.
»Aber sicher kann sie das. Früh übt sich. Du wirst schon sehen. Überlege dir gut, was du tust, Luisa, sonst gibt es keinen Vadym mehr für dich. Ich hole dich nicht mehr von der Schule ab, und deine dummen Freundinnen werden nicht mehr dämlich aus der Wäsche gucken und sich vor Neid in den Arsch beißen, wenn sie dich mit mir sehen.«
Sie zögerte, schien nachzudenken, nickte dann gequält und schlich, sichtlich verstört, mit hängenden Schultern davon.
»So«, erklärte Nelu gut gelaunt, und Jakob fiel erneut sein schneller Stimmungswechsel auf. »Wir zwei Hübschen gehen jetzt zum Kanal. Ein bisschen was trinken und vielleicht in die kühlen Fluten springen, es ist immer noch schrecklich heiß, oder? Was meinst du?« Jakob zuckte zusammen.
»Ich kann nicht zum Kanal gehen«, stieß er hektisch hervor und bemerkte, dass seine Stimme viel zu laut klang.
Nelu sah ihn irritiert an.
»Warum nicht? Angst vor Wassergeistern, oder was?« Er lachte.
Jakob starrte ihn aus geweiteten Pupillen panisch an.
»Ja, das trifft es«, er versuchte, sich zusammenzureißen und normal zu sprechen, aber es misslang ihm. »Ich kann nicht zu fließenden Gewässern gehen, ich kann auch nicht ans Meer gehen. Alles, was mit tiefem, dunklem Wasser zu tun hat, funktioniert nicht mehr.« Er schluckte krampfartig. »Ist mal was Komisches passiert, weißt du? Am Meer. Damals auf Mallorca.« Seine Stimme versagte.
»Alles gut. Kein Problem«, Nelu unterbrach ihn und klopfte ihm beruhigend mit der Hand auf die Schulter. »Es gibt auch noch etwas anderes als den Kanal und die Emscher, selbst bei diesem Wetter. Komm mit. Du bist der Auserwählte. Der erste Mensch, dem ich meinen Lieblingsplatz zeige. Wir brauchen noch was zu trinken.«
Er packte Jakobs Arm und zog ihn Richtung Westenhellweg. Die zentrale Einkaufsstraße in der Dortmunder Innenstadt gehörte zu den 10 meistbesuchten Einkaufsmeilen Deutschlands. Sie drängten sich durch die Passanten, betraten ein großes Kaufhaus, in dem sich in der unteren Etage ein Supermarkt befand. Im Laden bewegte sich Nelu zielstrebig auf das Spirituosenregal zu, griff nach einer Zwei-Liter-Flasche Wodka und warf sie mit Schwung in seine Umhängetasche.
Jakob linste über Nelus Schulter auf das Preisschild und wurde blass. So teuren Wodka würde er sich nie leisten können.
Nelu hüpfte entspannt durch die Regalreihen, warf zwei Tüten Chips zu der Flasche und zog den Reißverschluss seiner Tasche zu. Er grinste Jakob breit an und machte sich auf den Weg zur Kasse.
Die Kassiererin war verdammt hübsch. Sie sah so gut aus, dass Jakob verlegen nach unten auf seine Schuhe blickte. Die Frau richtete sofort ihre komplette Aufmerksamkeit auf Nelu und ignorierte Jakob. Erleichtert atmete er auf. Als Nelus Schatten wurde er quasi unsichtbar für alle anderen.
Nelu lachte die Kassiererin an und ließ seine weißen Zähne aufblitzen. »Nichts gekauft, schöne Frau«, sagte er, hob beide Arme nach oben und hielt ihr seine leeren Handflächen vors Gesicht, »aber bei so viel Schönheit, die hinter der Kasse versteckt ist, komme ich bestimmt die nächsten Tage wieder.«
Sie stieß ein grelles Kichern aus und fummelte mit ihren rot lackierten Fingern hektisch an ihren blonden Haarsträhnen herum. Sie schien von Nelus Anblick hingerissen zu sein und wirkte, als stünde sie unter Drogen, als sie versuchte, ihm unter ihren langen Wimpern vielsagende, belämmerte Blicke zuzuwerfen.
Jakob versuchte, ein Lachen zu unterdrücken. So wie die Frau sich aufführte, erschien sie ihm plötzlich gar nicht mehr so gut aussehend.
»Bis zum nächsten Mal, Schätzchen. Ich freue mich auf dich.«
Nelu rückte seine Umhängetasche zurecht und stolzierte lässig aus dem Laden. Jakob stolperte hinter ihm her.
»Geht doch. Wozu bezahlen, wenn es auch anders geht.« Nelu wirkte zufrieden.
Jakob prustete los. »Was hast du mit der Tussi gemacht? Die hat ja gar nichts mehr gecheckt.«
»Man muss nur wissen, wie man mit Frauen umgehen muss, dann bekommt man fast alles geschenkt«, erklärte Nelu, »mit Männern ist es übrigens dasselbe.« Er sah Jakob vielsagend an. »Menschen sind dumm und beeinflussbar. Man muss nur mit den Fingern schnippen, und schon tun sie, was du willst.«
Es war inzwischen dunkel geworden. Die Lichter aus den Schaufenstern der mittlerweile geschlossenen Geschäfte leuchteten in bunten Farben. Die Luft roch nach Sommer. Am Ende der Katharinenstraße blieb Nelu stehen.
»Wir sind gleich da. Ich zeige dir jetzt ein Ritual. Etwas, dass man tun muss, wenn man hier vorbeigeht.« Er ging voran. Jakob schaute neugierig die Treppen hinunter, die zum Hauptbahnhof führten.
Ein alter Obdachloser kauerte in seinem zerrissenen Mantel am Fuße der Treppe. Der Mann hatte langes, fettiges Haar und einen verfilzten, grauen Vollbart, sodass man sein Gesicht kaum erkennen konnte, und starrte stoisch auf die leere Straße.
Die Obdachlosenszene in Dortmund schien mit jedem Tag zu wachsen, dennoch war sich Jakob sicher, diesen Mann schon öfter in der Stadt gesehen zu haben.
Nelu erhöhte sein Tempo, als er die Stufen hinuntersprang und auf den Mann zuging. Bei ihm angekommen, holte er mit seinem Fuß aus und trat mit Wucht gegen den Pappbecher, der vor dem Mann gestanden hatte.
Der Becher flog weit, und das Kleingeld, das sich darin befunden hatte, prasselte klimpernd auf den Asphalt. Es klang wie ein tosender Regen, der durch die Nacht hallte.
Der alte Mann schrak zusammen, wich auf dem Gehsteig zurück und versuchte, sich im Schatten zu verkriechen.
»Du dreckige Kakerlake«, schrie Nelu in seine Richtung, »verkriech dich nur in den stinkenden Ritzen der Straße, du scheiß Tier, du. Das nächste Mal trete ich dir deinen Kopf weg.«
Jakob konnte das ängstliche Wimmern des Mannes hören.
Ganz tief in seinem Inneren regte sich so etwas wie Mitleid, doch er verdrängte das Gefühl.
»Ein alter Bekannter«, riss Nelu ihn aus seinen Gedanken, »tut immer wieder gut, diesen Pennern mal zu zeigen, wo sie stehen, sonst denken sie noch, die Straße gehört ihnen.«
Jakob schwieg.
Sie kamen an einer Hochhausansammlung am Königswall an. Es handelte sich hauptsächlich um verschiedene Büros, die in den Gebäuden ihren Sitz hatten. Nelu steuerte das höchste der Häuser an, das schräg gegenüber dem Fußballmuseum lag. Die meisten Fenster der Geschäftsräume lagen in Dunkelheit, nur vereinzelt war noch Licht hinter den Scheiben zu erkennen.
Nelu zog einen Schlüssel aus seiner Tasche, ging auf das Gebäude zu und schloss die schwere Tür auf. Er legte den Zeigefinger an seine Lippen.
»Ist besser, leise zu sein. Falls uns jemand begegnet, tu so, als würdest du hier täglich ein und aus gehen, als wäre