Christof Gasser

Schaurige Orte in der Schweiz


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stieg ein besorgter Säntisträger zum Gipfel. Dort fand er zu seinem Entsetzen die Leichen des Wetterwarts und dessen Frau Lena vor. Was sich genau in den letzten Tagen ihres Lebens ereignet hat, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Es gab nur einen Überlebenden und Zeugen der Tat: den Säntishund »Sturm«.

      Es ist eine schreckliche Geschichte. Ich wünschte, sie wäre nicht passiert. Wäre es möglich, ich würde sie ungeschehen machen. Doch das geht nicht. Es ist zu spät. Die anderen werden sagen, ich sei schuld an der ganzen Sache. Aber so einfach ist das nicht mit Schuld und Unschuld. Es gibt nie nur eine Wahrheit. Je einfacher etwas auf den ersten Blick erscheint, desto komplizierter ist es, wenn man genauer hinschaut. Doch lassen Sie mich von vorne beginnen. Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen, die mir als die wahre erscheint. Meine Geschichte. Die Geschichte von Gregor Anton Kreuzpointner.

      Ich befinde mich in einer alten Scheune, wie ich dies hier schreibe, sie liegt in der Nähe der Schwägalp am Säntis. Ein klägliches Versteck. Es ist kalt, meine Finger sind steif, ich kann den Stift kaum halten. Die Sonne hat sich längst hinter den Gipfeln weggeduckt, auch das letzte Licht des Tages stiehlt sich davon. Die Buchstaben werden undeutlich im flackernden Schein der Laterne. Und doch muss ich die Worte niederschreiben, ich will nicht schweigend von der Welt gehen.

      Dass ich gehen muss, scheint unausweichlich.

      Die Verzweiflung, die mich getrieben hat, war groß, nun ist sie der Resignation gewichen. Wenn sie mich finden, werde ich tot sein. Lebend werden sie mich auf jeden Fall nicht kriegen, so viel ist klar. Es ist kein großer Preis, den ich bezahle, denn mein Leben ist mir längst abhandengekommen. Dabei war so lange alles gut gegangen. Zu gut womöglich. Das Glück war ein falsches Versprechen, nicht mehr als eine Seifenblase, die schön und bezaubernd und verlockend erscheint und die in der nächsten Sekunde zerplatzt.

      1911 bin ich in die Schweiz gekommen, aus Bayern, ich war 19, gelernter Schuhmacher. Elf Jahre ist das her. Wie die Zeit vergeht. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit – gleichzeitig kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich in Herisau die Stelle als Gummiarbeiter angetreten habe. Ich habe geschuftet wie ein Irrer, auch wenn der Heinrich später das Gegenteil behauptet hat, der Lügner, der falsche Hund. Ich weiß, wie man anpackt. Ich bin kein fauler Sack! Ich habe mich von ganz unten nach oben gekämpft, nur um dann umso tiefer zu fallen. Doch wie hätte ich das ahnen können?

      Ich war ein fescher Kerl, bin es noch immer, einer, dem die Damen zukichern und der sie zum Erröten bringt. Sportlich war ich der Beste, ich hätte es auf den Skiern bis an die Spitze gebracht, ohne Zweifel, wenn man mich gelassen hätte. Auch am Berg bin ich nicht zu schlagen. All die reichen Herren wollten mich als Bergführer und Skilehrer haben. Das Geld steckten sie mir in Bündeln zu; ich müsse mich selbstständig machen, meine eigene Schuhmacherei gründen, mein eigener Chef sein, damit ich mehr auf den Sport setzen könne. Damit ich mehr Zeit für sie hätte. Sie haben mich bewundert, sie haben mich hofiert. Ich war ein Narr und dachte, sie wären meine Freunde.

      Das Geld hat nicht lange gereicht. Ich war zu oft am Berg und zu selten in der Werkstatt. Heute, im Nachhinein, muss ich sagen: Die Berge waren meine Liebe und meine Leidenschaft – und jetzt sind sie mir zum Verhängnis geworden. Es wäre anders gekommen, wenn es den Heinrich Haas nicht gegeben hätte. Erst hat er mein Glück geraubt, dann nahm er sich, was für mich bestimmt gewesen wäre. Er hat mein Leben zerstört.

      Neue Zürcher Zeitung,

      25. Februar 1922

      Unglücksfälle und Verbrechen.

      Mitten in den Fastnachtstrubel hinein fällt die Nachricht einer entsetzlichen Bluttat, der zwei brave, pflichteifrige Menschen zum Opfer fielen, die auf einsamer Höhe von Mörderhand getötet wurden. Auf 2.500 Metern, auf dem Gipfel des Säntis, verrichtete der Wetterwart Heinrich Haas mit seiner Frau Lena seinen schweren Dienst, nur durch einen dünnen Draht mit der Welt in der Tiefe verbunden, ringsum von Eis und Schnee umgeben, gefangen im selbstgewählten Exil. Ein meisterhafter Träger, der dem Ehepaar Haas das Notwendigste zum Leben wöchentlich einmal auf den Gipfel brachte, war in der Winterzeit der einzige Bote aus dem Tale, wo ihre zwei Kinder der Sorge guter Freunde anvertraut waren. Jetzt hat er das Ehepaar tot aufgefunden, ermordet. Man kann es kaum fassen, dass bis da hinauf ein Mörder den Weg fand, dass diese kleine Stätte nicht gefeit war vor bösen Taten und schlimmen Menschen, die es in tiefer Einsamkeit fertigbringen, zwei bescheidene Menschen zu berauben und zu töten. Diese Weltverlassenheit war der Stundengenosse des Täters; er wusste, dass weitherum niemand ihn an seiner Tat hindern, niemand ihn beobachten und verscheuchen, niemand seinen Opfern zu Hilfe eilen konnte, er war mit ihnen allein im eingeschneiten Häuschen und ein Entrinnen gab es hier für sie nicht.

      Ich hatte das Inserat in der Zeitung gelesen: Gesucht, Säntiswart! Das war vor drei Jahren, als ich gerade das erste Mal Konkurs anmelden musste. Ich wusste auf Anhieb, dass das meine Berufung ist: Wetterwart auf dem Säntisgipfel.

      Der frühere Wetterwart war durchgedreht. Das kann passieren in der monatelangen Einsamkeit auf der Wetterstation auf dem Gipfel des Säntis, des höchsten Bergs im Alpstein, hier in der Ostschweiz. Aber ich versichere Ihnen: Mir wäre das nicht passiert. Diese Weite! Das Panorama! Vor einem liegen die Spitzen der Berninagruppe: Piz Bernina, Piz Morteratsch und Piz Boval. Vom Säntisgipfel aus kann man in sechs Länder sehen: die Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Frankreich und Italien. Wer dort oben steht, sieht auf die Welt hinab. Wer dort oben steht, ist König. Und der Wetterwart, der die Daten des Observatoriums ins Tal hinabsendet und damit hilft, das Wetter vorherzusagen, ist gar der Kaiser. Höher kann man nicht aufsteigen. Fast hätte ich es geschafft.

      Um zu verhindern, dass den neuen Wetterwart dasselbe Schicksal ereilt wie seinen Vorgänger, dass nicht auch er in den Wahnsinn abdriftet, sollte niemand mehr allein einen Winter dort oben verbringen: Nur noch Ehepaare durften sich bewerben. Ich zögerte keine Sekunde und bat Katharina um ihre Hand. Ich wollte sie heiraten und mitnehmen, sie liebte mich, sie würde mich begleiten, auch wenn sie aus gutem Hause stammte und das Leben dort oben nicht einfach sein würde. Dafür wartete ein Abenteuer auf uns, ein verantwortungsvoller Auftrag, höchstes Ansehen! Auf einen Schlag würde ich all meine finanziellen Sorgen los sein. Es war für mich keine Frage, dass wir so schnell als möglich heiraten und die Stelle erhalten würden. Ich hätte gemeinsam mit Katharina dort oben das Glück gefunden, so viel ist gewiss.

      Dann begann ihr Vater, Fragen zu stellen. Ich war ihm wohl nicht gut genug, als Deutscher, als zugezogener Fremdling ohne begütertes Elternhaus. Ihr Vater hat sich umgehört, hat vom Konkurs erfahren. Und dann erzählt ihm der Heinrich, ich sei ein fauler Sack, arbeitsscheu, für nichts zu gebrauchen. Der Lügner! So war das nicht. Ich wollte mich verteidigen, doch es war zu spät, da hat mir schon niemand mehr geglaubt. Katharina lehnte meinen Antrag ab, und alleine hatte ich mit meiner Bewerbung um die Stelle als Wetterwart auf dem Säntis keine Chance mehr. Und dann kriegt sie ausgerechnet ebendieser Heinrich Haas. Das war Betrug! Der hinterhältige Mistkerl ist mit seiner Lena in die Wetterstation gezogen, hat die Kinder im Tal zurückgelassen. Wie er sich dafür feiern ließ! Postkarten hat er drucken lassen: Er posiert mit seiner Lena im Schnee, sie sägt das Holz, er spaltet es. Auf einer anderen Postkarte sieht man, wie sie ihm die Haare schneidet, während er ein Buch liest, darüber steht in gedruckter Schrift: Observatorium Säntis, Selbsthilfe: Frau Säntiswart Haas an der Arbeit.

      Dabei hätte ich auf dem Bild sein sollen, mit meiner Katharina. Lange Zeit habe ich gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Ich habe meine Kunden auf den Säntisgipfel geführt, manchmal bin ich auch alleine hochgestiegen. Ich versuchte weiterzumachen, eröffnete erneut eine Schuhmacherei, führte daneben meine eigene Berg- und Skischule. Doch es war, als hätte sich auf einmal alles gegen mich verschworen. Das Geld ging aus, die Schulden wuchsen, die Pfändungen häuften sich. Wieder folgte ein Konkurs. Niemand war mehr bereit, mir zu helfen. Doch ich brauchte Geld, um zu überleben.

      Es war nicht mein Fehler. Heinrich Haas war für meine Misere verantwortlich. Er allein. Obwohl ich den seelenlosen Schuft dafür verachtete, war er meine letzte Chance. Ich brauchte Geld. Er verdiente genug. Er war es mir schuldig.

      Neue Zürcher Zeitung,

      26. Februar 1922

      Unglücksfälle