Christof Gasser

Schaurige Orte in der Schweiz


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und Heinrichs Uhr zu Geld. Viel zu wenig habe ich dafür gekriegt, aber es würde reichen, um den Zug nach Deutschland zu nehmen, denn bleiben konnte ich nicht.

      Doch dann sah ich das Flugblatt, darauf mein Bild: Kreuzpointner, mutmaßlicher Doppelmörder, gesucht! Ich war steckbrieflich zur Fahndung ausgeschrieben. In dem Moment ahnte ich, dass meine Flucht womöglich nicht gelingen würde. Dass das Flugblatt gar mein Todesurteil bedeutete, realisierte ich erst später. Wer würde mir jetzt noch ein Bahnbillet verkaufen? Wie sollte ich unerkannt über die Grenze gelangen? Als Erstes musste ich die Waffe loswerden, verkaufen ging nun nicht mehr, also deponierte ich sie neben einem Briefkasten. Zurück in meine Wohnung konnte ich nicht, bestimmt wurde sie überwacht. Ich musste mich verstecken. Im Kopf ging ich alle Möglichkeiten durch und fand doch keine Lösung – weil es keinen Ausweg mehr gibt. Ich, Gregor Anton Kreuzpointner, bin am Ende.

      Neue Zürcher Zeitung, 2.

      März 1922

      Unglücksfälle und Verbrechen.

      Die Verdachtsmomente für den mutmaßlichen Mörder des Ehepaars Haas, Kreuzpointner, häufen sich von Stunde zu Stunde. Es wurde heute festgestellt, dass er letzten Mittwoch den ersten Morgenzug zur Fahrt von Gais nach St. Gallen benutzte (die letzte Wettermeldung des Säntiswarts ist die vom Dienstagnachmittag). Es konnte ferner ermittelt werden, dass Kreuzpointner letzten Samstag durch Vermittlung einer anderen Person Schmucksachen verkauft hat, die zur Appenzellertracht der ermordeten Frau gehörten, ebenso eine Herrenuhr, von der die Mutter und die Schwester von Frau Haas ebenfalls mit Bestimmtheit erklärten, dass die dem Ehemann Haas gehörte. In Kreisen der Justizbehörden ist zu vernehmen, dass noch andere schwere Belastungsgründe dafür sprechen, dass Kreuzpointner der Täter sein muss.

      Gestern hat überdies ein Unbekannter bei einem Briefkasten ein Paket deponiert, das er in einiger Zeit abzuholen versprach. Das Paket wurde der Polizei übergeben, die feststellte, dass dasselbe eine ungereinigte Pistole enthielt, deren Kaliber mit derjenigen des Säntismörders zu tun hat. Da Kreuzpointner noch im Besitze der Schlüssel des Säntisobservatoriums ist, wird in Appenzell mit der Möglichkeit gerechnet, dass er versuchen würde, allenfalls nochmals nach dem Säntis zurückzukehren.

      Jetzt sitze ich hier in dieser Scheune, ich friere, es ist unklar, ob die Kälte nur von außen oder nicht doch auch von innen kommt, aus meiner mörderischen Seele. Ich hatte gedacht, dass es für mich ein Davonkommen geben könnte. Es war ein Trugschluss. Lasse ich mich draußen blicken, werden sie mich verhaften, und was dann passiert, ist absehbar: Niemand wird mich anhören, niemand wird verstehen, niemand wird Erbarmen haben. Sie werden mich verurteilen, zum Tode durch den Strick oder, noch schlimmer, durch die Guillotine. Darum muss ich tun, was nicht zu vermeiden ist. Sie kommen immer näher, ich kann es spüren. Ein paar Stunden noch, ich darf nicht zu lange zögern.

      Was für ein Leben. Was für ein Ende. Hätte ich doch diese eine falsche Abzweigung vermieden. Hätte es den Heinrich Haas bloß nie gegeben. Alles wäre anders gekommen. Alles wäre gut geworden. Doch nun endet es in der Katastrophe.

      Ich bin kein schlechter Mensch. Nein, das bin ich nicht. Ich bin auch kein wirklicher Mörder, es ist einfach passiert. Wäre es möglich, ich würde es ungeschehen machen. Doch das geht nicht. Es ist zu spät. Ich habe nur noch einen Wunsch: Wenn alle anderen behaupten, ich sei schuld an der ganzen Sache, dann stehen Sie hin und sagen Sie laut: »So einfach ist das nicht mit Schuld und Unschuld. Denn es gibt nie nur eine Wahrheit.« Bitte teilen Sie den Menschen mit: »Gregor Anton Kreuzpointner war kein schlechter Mensch.« Das ist mein letzter Wille.

      Neue Zürcher Zeitung,

      6. März 1922

      Unglücksfälle und Verbrechen.

      Zum Doppelmord am Säntis: Auffindung des Mörders Kreuzpointner. Kreuzpointner, der Mörder des Säntiswarts und seiner Frau, wurde heute von einem Jäger und Wildhüter in einer Scheune im Äckerli auf der Schwägalp (am Fuße des Säntis) erhängt aufgefunden. Die Leiche war noch warm. Vergangene Woche haben Wildhüter und Polizisten alle Sennhütten des Säntisgebietes wiederholt nach Kreuzpointner abgesucht. Doch am Donnerstag war der Stadel, wo der Mörder seinem Leben ein Ende setzte, leer gewesen. Nun hatte er die Hütte verrammelt. Die Leiche lag bäuchlings auf einer Pritsche, die Schnur war an einem in der Decke steckenden Nagel befestigt. In den Kleidern befand sich weder Geld noch sonst etwas Wertvolles …

      Die Leiche wurde, nachdem die Behörden einen Augenschein genommen hatten, noch am Samstagabend nach Urnäsch gebracht und am Sonntag seziert. Da die Appenzeller sich sträuben, den Mörder auf einem ihrer Friedhöfe zu begraben, durfte er zu Forschungszwecken der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich übergeben werden.

      von Daniel Badraun

      Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen meinen neuen Chef kurz vorstelle. Steffen Schmidt ist 48 Jahre alt, im besten Alter und glücklicher Single. Seit zwei Monaten ist er Eventmanager im Maloja Palace. Sein Auftrag ist es, die Geschichte des Hauses, erbaut zwischen 1882 und 1884, weiterzuschreiben. Die glamouröse Anfangsphase des Hotels endete leider bereits nach wenigen Monaten, weil in Italien die Cholera ausbrach und die Grenzen geschlossen wurden. Der belgische Graf Camille de Renesse erlitt mit seinem Unternehmen Schiffbruch und verlor sein ganzes Vermögen.

      Für die New-Palace-AG soll Schmidt eine Tradition weiterführen und den einen oder anderen Traum des Barons wahr werden lassen. Das ist eine Herausforderung, die ganz nach seinem Geschmack zu sein scheint. Und ja, ich, Gregor Lüscher, bin natürlich mit dabei als erster Assistent des Chefs. Vorerst jedenfalls. Es würde uns freuen, wenn wir Sie schon bald zu unseren neuen Gästen zählen dürften.

      *

      Ein Alpenpass hat zwei Seiten. Normalerweise startet man auf der einen Seite und fährt hoch bis zum Hospiz, bis zum höchsten Punkt mit der Tafel, auf der die Höhe über Meer angegeben ist. Dann geht es auf der anderen Seite hinunter in ein neues Tal, in eine neue Region. Eine Passfahrt ist für viele Flachländer etwas Besonderes, sowohl für Motorradfans, die das ultimative Kurvengefühl suchen, als auch für Automobilisten. Umgeben von einer schützenden Blechschicht erleben diese die Bergwelt aus einer sicheren Distanz.

      Im Engadin sind Passfahrten eine Notwendigkeit. Um das Tal zu verlassen, müssen Bewohner und Gäste über die Berge. Steffen als Zugezogener ärgert sich jedes Mal, wenn ihm der Weg in den Süden versperrt wird. Das Hindernis versucht er möglichst schnell hinter sich zu lassen, mit einer ordentlichen Ladung PS unter der Haube.

      Etwas langsamer geht es bei den Radfahrern, die für eilige Automobilisten ein weiteres Ärgernis sind. Aus eigener Muskelkraft überwinden sie mit energischen Kurbeldrehungen Höhenmeter um Höhenmeter. Es gibt die Tourenfahrer mit schwer bepackten Rädern, die schwitzend ihre Routenwahl verfluchen und sich später ganz oben stolz in den Armen liegen, ein Foto für ihren Social-Media-Account schießen und danach die Abfahrt in Angriff nehmen.

      Wer mit dem Mountainbike am Berg herumkurvt, befährt das einsame Tal, als hätte er es selber entdeckt, und springt über Steine wie ein Zicklein, das zum ersten Mal aus dem Stall darf. Die Mountainbikerin und der Mountainbiker fahren gerne auf rauen Wegen, je wilder, desto besser. Wenn sie am Abend schmutzbespritzt nach Hause kommen, war es ein guter Tag für sie, von dem sie noch lange erzählen können. Für Steffen ist das nichts, er schwitzt lieber im hoteleigenen Fitnessstudio oder in der Sauna spätabends, wenn die Gäste längst an der Bar sitzen.

      »Wenn du hier im Tal so richtig ankommen, Wurzeln schlagen und die Berge spüren willst«, sagt Greg, sein engster Mitarbeiter, immer mal wieder, »musst du sie selber erobern.«

      Mitarbeiter ist eigentlich falsch, Greg ist der Untergebene, der Assistent, doch Steffen will nicht, dass ein zu großes Gefühl der Hierarchie aufkommt, denn Greg hatte sich ebenfalls für die Führungsstelle beworben, die Steffen als Fremder mit besten Qualifikationen nun innehat. So bemüht er sich um einen kollegialen Ton, lässt aber nie Zweifel aufkommen, dass er am Ende das letzte Wort haben würde.

      Greg gehört zu den harten Mädels und Jungs, die das Rennrad für