das Tal eng und voller Schatten, die über die Straße kriechen, nach den Herzen der Fröhlichen greifen und kräftig zudrücken.
Darum treibt es die Leute schon seit Jahrhunderten hinauf an die Seen, ans Licht, das Rilke beschrieben und Segantini gemalt hat. Von der stickigen Hitze der Poebene suchten viele den Weg hinauf zum Licht, das die St. Moritzer und Silser Hotelpioniere zu reichen Leuten machte. Baron Camille de Renesse mit seinem Palace wollte alles bisher Gebotene in den Schatten stellen. Sein Maloja Palace sollte das größte und mondänste Hotel in den Alpen werden, gebaut für den gelangweilten Hochadel und die Industriellen, die ihren Reichtum unter die Leute bringen wollten.
Das Bergell diente damals und dient auch heute als Durchgangstal, als düsterer Gegenpart zur Weite der Oberengadiner Seenlandschaft. Findet jedenfalls Steffen. Greg scheint fasziniert zu sein von der Passstraße, vom engen Tal und den Dörfern voller Geschichte und von den Geschichten, die einfach so am Wegrand herumliegen. Steffens Assistent erzählt gerne, das ist auch bei der Arbeit so. Daneben kann man sich wirklich nicht konzentrieren. Karin hingegen scheint Gefallen zu finden am jugendlichen und humorvollen Greg, der sie oft zum Lachen bringt. Diese Schwatzhaftigkeit, das beschließt Steffen keuchend, wird er gleich morgen zum Gesprächsthema machen. Es wird Zeit, dass er durchgreift. Auch wird er das Bergell – wenn überhaupt – nur noch alleine befahren.
Jede Steigung geht einmal vorbei. Auch die Rampe oberhalb von Vicosoprano. Eine letzte weite Ebene vor dem Talabschluss. Vor dem Aufstieg Casaccia, der Ort, an dem zur Römerzeit die Straße über den Septimer abbog. Greg, das wandelnde Lexikon. Steffen ist froh, dass der andere neben ihm fährt und für Ablenkung sorgt, von einem Gaudenzio von Novara erzählt, der im vierten Jahrhundert das Christentum ins Tal brachte und von den undankbaren Heiden geköpft wurde. Jahreszahlen zum Bau der Wallfahrtskirche, die in der Reformation geplündert wurde und seither als Ruine oberhalb des Dorfes steht. Die Geschichten helfen ihm über die Krämpfe hinweg, die abwechslungsweise die Waden und die Oberschenkel befallen und die er bekämpft, indem er die Beine ganz durchstreckt. Kurz vor dem Ort trinkt er den letzten Rest Kräuterschnaps zur Stärkung, das muss für die restlichen 350 Höhenmeter reichen.
»Wir sehen uns oben«, ruft ihm Greg zu und nimmt die Straße hinter dem Dorf in Angriff.
Steffen versucht mitzuhalten. Vergeblich. Der Kopf bringt die Beine nicht mehr zum Drehen, sodass er Greg ziehen lassen muss. Morgen, denkt er, morgen im Büro ist die Situation eine andere, da mache ich dich so richtig zur Schnecke, kleiner Greg.
Denkt er und kämpft sich hinauf. Links oben das Gerippe der Kirche, von der Greg vorhin gesprochen hat. Hinter sich ein Keuchen. Ein weiterer Rennradfahrer, der die Schlusssteigung in Angriff nimmt, denkt Steffen und spannt die Muskeln etwas an, dich lasse ich nicht so schnell vorbei. Es gelingt ihm, das Keuchen in Schach zu halten. Was, denkt er, wenn das Greg ist? Vielleicht musste er austreten und ist jetzt hinter ihm. Oder er ist selber am Rand der Erschöpfung. Diese Vorstellung gefällt ihm. Mal schauen, was passiert, wenn er einen Zwischenspurt einlegt. Steffen geht aus dem Sattel und drückt die Kurbeln. Lisa, Lara. Lisa, Lara. Habt ihr gesehen, wie ich das mache? Mit links, meine Lieben, mit links.
Einige Meter geht das so. Steffen voraus, doch das Keuchen bleibt an ihm dran. Dann der Hammer. Ein Wadenkrampf, den er nicht kontrollieren kann und der sein Bein völlig blockiert. Keine Möglichkeit, um zu reagieren. Eine Umdrehung noch, dann geht gar nichts mehr. Er versucht vergeblich, den Fuß vom Pedal zu lösen, und verliert das Gleichgewicht. Das Rad kippt samt Fahrer nach links, mit Hüfte und Schulter kracht er auf den Asphaltbelag. Der Schmerz zuckt heiß und hell durch seine Gelenke.
Als Steffen aufblickt, steht ein Mann neben ihm. Das Keuchen kommt vom Kopf, der aber nicht auf dem Hals sitzt. Den trägt der Mann locker unter dem Arm.
»Dumm gelaufen«, sagt der Kopf, als Steffen ächzend aufsteht und den Schaden an seinem Körper begutachtet wie die Karosserie eines beschädigten Fahrzeuges.
»Kann man sagen«, brummt er. »Scheißtag und Scheißtal!«
»Mich haben sie auch drangenommen«, sagt der Geköpfte und lächelt, »wenigstens wurde ich heiliggesprochen, was man von dir nicht sagen kann.«
Steffen will etwas erwidern, doch der Mann steigt nun die Straßenböschung hinauf und verschwindet zwischen den Bäumen.
Mit zitternden Beinen steigt Steffen wieder auf sein rotes Rennrad. Der Lenker ist nicht mehr ganz gerade, das Fahren geht aber einigermaßen. Er wählt den kleinsten Gang, fährt nun ganz langsam aufwärts, nimmt Kehre um Kehre, fast in Zeitlupe geht es an den Leitplanken entlang. Ich verstehe dich, Graf de Renesse, denkt Steffen, der wollte mit diesem Tal hier unten nichts zu tun haben. Das Hotel dreht dem Pass und dem Bergell den Rücken zu, schaut auf den See hinaus, auf die großen Wiesen. Ein Golfplatz sollte die Gäste anlocken und Bootsfahrten auf dem Silsersee würden die Herzen erfreuen.
Das Hotel müsste etwas für Verliebte sein, denkt er, etwas für Karin und mich. Die Ohrfeige, das möchte er ihr gleich morgen sagen, die war nicht gerechtfertigt. Natürlich hätte er sie nicht in diesen Putzraum hineindrängen sollen, ihr an den Hintern greifen und versuchen, den engen Rock hochzuziehen. Irgendwie war es ein Notfall. Ein nicht mehr zu kontrollierender Drang nach Nähe, nach Befriedigung. Und dann diese Klatsche. Sie schob ihn zur Seite, ordnete ihre Kleider und war weg, bevor er sich erklären konnte. Er will das nachholen. Wird ihr sagen, dass er an jenem Morgen den Anruf bekommen hatte wegen Lisa und Lara. Der Wagen ausgebrannt. Ein stinkendes Gerippe. Und von seinen beiden Liebsten blieb nur verkohltes Material übrig. Das alles musste er Karin sagen, wenn er morgen zur Arbeit kam.
Für Leute, wie er selbst einer war, wollte Steffen Träume wahr werden lassen. Die Ideen des Grafen weiterdenken. Es gab diese Geschichte vom Speisesaal, den er unter Wasser gesetzt haben soll, damit die Gäste mit Gondeln zum Buffet fahren konnten. Irgend so etwas sollte doch möglich sein. Der direkte Seeanschluss mittels eines Kanals steht auch ganz oben auf seiner Wunschliste. Ein Haus, in dem Träume wahr werden, so etwas schwebte ihm vor. Illusionen wecken, die Gäste erlösen, wie er sich selber erlösen muss aus diesem Albtraum. Neue Bilder an die Stelle der alten setzen.
Lisa, Lara, Lisa, Lara. Tränen laufen Steffen über das Gesicht. Er wollte doch nicht weggehen, wollte sie beschützen, doch das war nicht mehr möglich. Und so ging alles in Flammen auf, er hätte es verhindern können, denkt er, wenn er dabei gewesen wäre, wäre das nicht passiert.
Wie der Graf musste auch er Träume erfüllen, Glück bringen, Schuld tilgen. Doch was hatte es Camille gebracht? Ich darf dich doch so nennen, fragt er, als schon der Turm Belvedere oben am Pass sichtbar wird, den der Graf als persönliche Residenz gebaut hatte. Um sich gegen das Bergell und die Geister zu schützen, denkt Steffen, eine Burg, die das Böse abwenden soll. Auch das war ein Traum, den Renesse nicht realisieren konnte.
Steffen spürt, wie das Dunkle den Pass hinaufkriecht und ihm auf den Fersen bleibt, lauert, um zuschlagen zu können, wenn er eine Schwäche zeigt. All die verschütteten Menschen, die verbrannten Hexen und der enthauptete Heilige, sie sind hinter ihm her, und plötzlich weiß er, dass ihm nur der Turm des Grafen Sicherheit geben kann. Diese Gewissheit gibt ihm Kraft, hilft ihm, die Straße zu meistern und den Kulminationspunkt des Passes zu erreichen, bevor ihn die Welle von Blut, die die Straße heraufschwappt, einholt und wegschwemmt.
Von Gregor keine Spur. Das ist Steffen nur recht. Er fährt hinüber zum Turm Belvedere, lehnt sein Rennrad gegen die Mauer und nimmt die Champagnerflasche, die neben dem Eingang steht.
»Danke, Camille«, sagt er und steigt langsam die Treppe zum obersten Stockwerk hinauf.
*
Der belgische Graf, sagt man, habe sich im Champagnerrausch vom Turm Belvedere oben am Pass ins Bergell gestürzt, in den Tod. Andere Quellen berichten, dass er 1904 in Nizza gestorben sei, wo er christliche Literatur verfasst haben soll. Das ist fast zu wenig dramatisch.
Steffen Schmidt, unser ehemaliger Eventmanager, muss die Geschichte gekannt haben. Möglicherweise wollte er, weil er seiner Aufgabe nicht gewachsen war, dem Grafen nachfolgen. Bei seinem Sturz in die Tiefe erlitt er schwere Verletzungen, die nun in einer Zürcher Privatklinik behandelt werden und, wie man hört, nur langsam ausheilen. Was an seelischen Narben zurückbleibt,