Christof Gasser

Schaurige Orte in der Schweiz


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und in den Farben ihrer Lieblingsteams gekleideten Rennradfahrer sind die Musketiere der Pässe. Auf ihren Leichtgewichträdern, die oft mehr kosten als ein Kleinwagen, fahren sie die steilsten Rampen hoch, vergleichen dann auf dem Handy ihre Leistung mit anderen und stürzen sich wagemutig den Berg hinunter, oft schneller als die ortsunkundigen Automobilisten, die sie auch in engen Tunnels überholen. Zu Hause duschen sie und sind bereit für den Alltag. Sie werden von der Lust am Leiden und von der unstillbaren Suche nach den eigenen Grenzen angetrieben.

      Wie gesagt, erst fährt man hinauf, dann wieder hinunter. Erst kommt die Anstrengung, dann das Vergnügen. Bei einem normalen Pass wie dem Bernina, dem Flüela oder dem Albula ist das so.

      Als Greg Steffen anbietet, zusammen den Malojapass unter die Räder zu nehmen, willigt dieser ein. Zu schnell, wie ihm jetzt bewusst wird. Der Maloja ist tückisch. Wenn man vom Engadin her kommt, erlebt man eine gemütliche Anfahrt, vorbei an tiefblauen Seen. Wer am Morgen in Richtung des Ortes Maloja radelt, muss nicht mal gegen den Wind ankämpfen, der fast täglich ab 11 Uhr vom Comer See her aufkommt, zur Freude der Windsurfer und Segler auf den alpinen Gewässern.

      Steffen hat nur eine kurze Anfahrt. Vom Hotel Maloja Palace, in dem er eine Suite bewohnt, ist es nicht weit bis zum Parkplatz am südlichen Ende des Dorfes, wo ihn Greg erwartet. Einige Reisende machen Fotos und fahren dann weiter Richtung Italien. Steffens Rennrad ist knallrot, ein Schnäppchen. Sehr bequem zum Fahren, findet er nach einer Proberunde. Das Wenige, was man für eine kurze Passfahrt braucht, hat er in die Taschen seines Trikots gesteckt. Er fährt in den Farben eines belgischen Teams, das ist er dem Hotelgründer schuldig. Greg und er würden wie Profis unterwegs sein. Wie Profis, jedoch mit einer Bankkarte für die gehobene Küche in einem südlichen Ristorante.

      Sie fahren bei schönstem Wetter mit tiefblauem Engadiner Himmel los, von der Frische des Alpentales hinunter in die feuchte Hitze von Chiavenna, und verbringen dort hinter dicken Mauern mit Blick auf die Mera zwei gemütliche Stunden.

      Das üppige Essen nach der leichten Abfahrt ist ein Genuss, angereichert mit Gregs Erzählungen.

      »Eine Fahrt den Pass hinauf ist eine Fahrt durch die Geschichte«, erzählt er und hebt lachend sein Glas. »Uns wird ganz schön viel Blut entgegenfließen.«

      Da nickt Steffen noch unternehmungslustig.

      Nach dem Essen schwingen sich die Männer auf die Sättel, klicken die Schuhe in die Pedale ein und fahren ohne Eile über das Kopfsteinpflaster der Altstadt. So müsste die weitere Tour sein, denkt Steffen. Langsam an den stattlichen Häusern der wohlhabenden Familien vorbeirollen, die einst viel Geld mit dem Handel über die Alpenpässe gemacht haben. Ab und zu einen Blick in die schattigen Innenhöfe werfen, um die Tische der Straßencafés kurven, auf denen große Gläser mit kühlen Getränken stehen.

      Als sie den Aufstieg in Angriff nehmen, eine ausgiebige Mahlzeit im Magen, Veltliner Pizzoccheri mit reichlich Käse und Butter überbacken, danach ein gutes Stück Fleisch mit Kroketten, davor ein großes Bier gegen den Durst, zum Essen ein sonnendurchfluteter Wein und Grappa zum Kaffee, merkt er, dass die 36 Kilometer zurück ins Engadin, zurück ins Hochtal, nicht einfach werden. Denn im Gegensatz zu den anderen Alpenpässen beginnt der Maloja auf 1.800 Metern und führt hinunter bis ins italienische Chiavenna, mit gerade mal 333 Metern über Meereshöhe. Was in einer guten Stunde genussvoller Abfahrt erledigt ist, wird umgekehrt zu einer fast nicht enden wollenden Qual.

      Die Sonne brennt mit gefühlten 40 Grad auf die Dächer der Stadt. Zwischen den Gipfeln über ihnen braut sich ein Gewitter zusammen, dunkle Wolken kleben an den steilen Felswänden, die sich rund um die italienische Kleinstadt am Alpenrand erheben.

      Erst geht die Fahrt an eintönigen Betonbauten vorbei durchs Stadtrandgebiet. Gleich außerhalb von Chiavenna beginnt die erste Steigung, die nicht ohne ist. Steffen konzentriert sich auf Gregs Hinterrad und versucht, die Atmung zu kontrollieren. Vier Umdrehungen einatmen, vier ausatmen. Lisa, Lara, Lisa, Lara. Lisa hatte darauf bestanden, dass ihre Tochter ähnlich heißen sollte wie sie, was er lächerlich fand. Jetzt aber passen die Namen zum Rhythmus.

      Das Tempo ist eine Herausforderung, die er annehmen muss. Nicht schlapp machen, keine Blöße bieten, schon gar nicht am Anfang. Greg wird schon sehen, wie er beißen kann. Er wird Asphalt und Höhenmeter fressen, so wie er die Spezialitäten vertilgt hat. Im Hotel ist Steffen als energischer Macher bekannt. Diese Straße wird ihn nicht in die Knie zwingen.

      Die Beine schmerzen von Anfang an, wohl eine Folge der Haltung am engen Tischchen in der Osteria. Das gibt sich, denkt Steffen, sobald die Muskeln in Bewegung sind, sobald das Blut zirkuliert, das Herz ordentlich pumpt und die gesamte Maschinerie mit Sauerstoff versorgt wird.

      Piuro, die Straße wird noch etwas steiler, sie ist von mächtigen Felsbrocken gesäumt. Erste Tropfen fallen auf den nassen Asphalt und verdampfen in der Nachmittagshitze, der Geruch nach Reifengummi und Staub nimmt ihm fast den Atem. Dann größere Tropfen, die um ihn herum zerplatzen, seine verschwitzten Arme nässen, über Brillengläser und Wangen laufen, Staub und Salz wegwaschen. Plötzlich öffnet sich der Himmel. Prasselnder Regen, sie sind sofort bis auf die Haut durchnässt. Vor ihnen ein Parkplatz mit Unterstand. Anhalten, ausschnaufen, die Beine ausstrecken.

      »Dort oben am Conto«, Greg deutet auf einen Berg rechts über ihnen, »löste sich im September 1618 nach tagelangem Regen eine gewaltige Gesteinsmasse und begrub das antike Plurs samt seinen 2.000 Bewohnern unter sich.«

      Sie stehen schweigend da. Nach einigen Minuten beginnt Steffen im feuchten Trikot zu frösteln. »Warten bringt nichts«, sagt er und steigt auf sein rotes Rad. Greg übernimmt wieder ungefragt die Führung.

      Um sie herum kühle, tropfende Nässe. Die Brillengläser sind angelaufen, mit den feuchten Handschuhen versuchen sie, etwas Klarheit zu schaffen. Immer wieder schaut Steffen zum gegenüberliegenden Hang hinauf. Nebelschwaden ziehen über die Baumwipfel. Wenn jetzt der Berg käme, was dann? Nach vorn schauen, über den Lenker gebeugt, Gregs Hinterrad nicht verlieren. Das Hinterrad ist sein Ein und Alles. Die Mittelachse zwischen Gregs muskulösen Waden.

      Auf der Straße fließt das Wasser wellenförmig abwärts, die vorbeirauschenden Autos bespritzen die nassen Männer immer und immer wieder. Dann tauchen plötzlich Gesichter auf, schimmern durch den Asphalt. Nasen und Ohren und Fratzen im Wasser, die schreien.

      »Hast du das gesehen, Greg?«

      Keine Antwort. Nur das Zischen der Reifen auf dem Asphalt.

      Wir sind die Vergessenen, die im Stein Versunkenen, verurteilt zu ewiger Verdammnis. Wir sind verborgen in der Tiefe, erstickt im Schlamm. In den großen Vorratsräumen unserer Häuser lagern Reichtümer, Seidenstoffe aus fernen Ländern, Edelmetalle und Specksteintöpfe aus heimischer Produktion. Doch was haben die uns genützt? Ein weiteres Leben konnten wir uns nicht kaufen, sosehr wir auch bitten und beten. Wenn es regnet, erinnern wir uns an jene Nacht, als der Berghang kam, ins Tal hinunterrauschte, alles mitriss und unter sich begrub. Gierig und unberechenbar.

      Wenn es regnet, kommen wir herauf und holen uns müde Wanderer, unvorsichtige Kinder beim Beerensuchen, gierige Pilzsammler. Und natürlich auch mal einen Rennradfahrer, der seine Kollegen verloren hat und alleine unterwegs ist. Ihnen allen zeigen wir unsere Schätze, führen sie hinunter in unsere Häuser und lassen sie nie mehr gehen.

      Nicht hinsehen, denkt Steffen, nicht hinsehen, das ist der Alkohol, das Cholesterin im Blut. Er darf Gregs Hinterrad nicht aus den Augen verlieren und alles ist gut. Doch dann ist der Reifen nur noch verschwommen zu sehen hinter einem Regenschleier, aus dem ihn feurige Augen anstarren. Auf der Straße zerfließende Gesichter, Wangen, die blutrot aufspritzen, wenn er darüberfährt. Nasses Frauenhaar, das achtlos im Schmutz liegt, wickelt sich um seine Speichen, verklemmt die Gangschaltung, blockiert das Tretlager, sodass Steffen kaum vorwärtskommt. Wenn er stürzt, dann wird er in den offenen Mäulern landen, verschwinden im Schlund der Vergessenen.

      Ich pfeife auf euch, denkt Steffen, er will es laut herausschreien, auch wenn nur ein Gurgeln aus seiner Kehle kommt, ein heiseres Krächzen. Mich kriegt ihr nicht, nicht mich und nicht mein rotes Fahrrad, das feuerrot und nicht blutrot ist.

      Ein himmelweiter Unterschied, den Männer oft nicht kennen,