schlaft. „Feuer!“ Der Alarmschrei hat euch aufgeweckt. Ihr springt vom Bett auf und seht den roten Feuerschein. Ihr seid nicht von Todesangst gelähmt. Ihr rennt durch den Rauch, die Funken, die Flammen und seid in Sicherheit. Das ist Mut.
Vor einiger Zeit besuchte ich einen Kindergarten in England. Die kleinen Kinder waren zwischen drei und sieben Jahre alt. Jungen und Mädchen waren damit beschäftigt, zu sticken, zu malen, Geschichten zuzuhören und zu singen.
Der Lehrer meinte zu mir: „Wir üben heute den Feueralarm. Natürlich gibt es kein Feuer, aber die Kinder müssen lernen, sofort beim Alarmsignal aufzustehen und hinauszugehen.“
Er blies seine Pfeife. Unverzüglich ließen die Kinder ihre Bücher, Stifte und Stricknadeln liegen und standen auf. Nach einem zweiten Signal gingen sie in einer geordneten Reihe ins Freie. Innerhalb weniger Minuten war das Klassenzimmer leer. Die kleinen Kinder hatten gelernt, der Feuergefahr ins Auge zu blicken und tapfer zu sein.
Für wen seid ihr geschwommen? Um euretwillen.
Für wen seid ihr durch die Flammen gegangen? Für euch selbst.
Für wen haben die Kinder der Angst vor dem Feuer getrotzt? Für sich selbst.
Der Mut, der in jedem dieser Fälle bewiesen wurde, diente dem eigenen Wohl. War das falsch? Sicherlich nicht. Es ist richtig, auf sein Leben achtzugeben und es tapfer zu verteidigen. Doch es gibt noch einen größeren Mut, nämlich jenen, der für das Wohl anderer eintritt.
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Lasst mich euch die Geschichte von Madhava erzählen, wie sie uns von Bhavabhuti überliefert wurde.
Madhava kniet außerhalb eines Tempels und hört plötzlich einen Schrei höchster Not.
Er findet einen Eingang und schaut in das Heiligtum der Göttin Chamunda.
Ein Opfer soll gerade zu Ehren der schrecklichen Göttin erschlagen werden. Es ist die arme Malati. Das Mädchen ist im Schlaf verschleppt worden. Sie ist ganz allein mit dem Priester und der Priesterin, und der Priester hebt gerade sein Messer, als Malati an Madhava denkt, den sie liebt:
O Madhava, Herr meines Herzens,
Oh möge ich nach dem Tod in deiner Erinnerung fortleben.
Niemand stirbt, den die Liebe in langer und inniger Erinnerung fortleben lässt.
Mit einem Schrei stürzt der tapfere Madhava in die Opferkammer und kämpft mit dem Priester auf Leben und Tod. Malati wird gerettet.
Für wen zeigte Madhava diesen Mut? Kämpfte er für sich selbst? Ja, aber das war nicht der einzige Grund für seine Tapferkeit. Er kämpfte auch für das Wohl eines anderen Menschen. Er hatte einen Schrei der Verzweiflung gehört, und der hatte das mutige Herz in seiner Brust berührt.
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Wenn ihr darüber nachdenkt, werdet ihr euch erinnern, schon ähnliche Taten gesehen zu haben. Ihr habt bestimmt schon einmal gesehen, wie jemand auf einen Hilferuf hin einem Mann, einer Frau oder einem Kind zu Hilfe gekommen ist.
Ihr habt bestimmt auch schon in der Zeitung oder in Geschichtsbüchern von ähnlichen Heldentaten gelesen. Ihr habt von Feuerwehrmännern gehört, die Menschen aus brennenden Häusern retten; von Bergleuten, die in tiefe Schächte hinabsteigen, um ihre Kameraden herauszuholen, die von Überschwemmungen, Feuer oder giftigem Gas bedroht werden; von Männern, die sich bei Erdbeben in schwankende Häuser wagen und trotz der Gefahr von einstürzenden Wänden, hilflose Menschen heraustragen, die sonst unter den Trümmern gestorben wären; und von Bürgern, die für das Wohl ihrer Stadt oder ihres Landes dem Feind entgegentreten und Hunger, Durst, Verwundung und Tod erleiden.
Nun haben wir gesehen, dass man für sich selbst mutig sein kann und für andere.
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Ich möchte euch die Geschichte von dem Helden Vibhishan erzählen. Er begegnete mutig einer Gefahr, die schlimmer war als der Tod: Er stellte sich mutig dem Zorn eines Königs entgegen und gab ihm einen weisen Rat, den andere zu geben nicht gewagt hatten.
Der zehnköpfige Ravana war der König der Dämonen von Lanka.
Ravana hatte Sita ihrem Gatten geraubt und sie mit seinem Streitwagen in seinen Palast auf der Insel Lanka entführt.
Prächtig war der Palast und herrlich der Garten, in dem er die Prinzessin Sita gefangen hielt. Trotzdem war sie unglücklich und vergoss jeden Tag viele Tränen, da sie nicht wusste, ob sie ihren Gemahl Rama jemals wiedersehen würde.
Der ruhmreiche Rama erfuhr von Hanuman, dem Affenkönig, wo seine Gemahlin Sita gefangen gehalten wurde. Er machte sich mit Lakshman, seinem Bruder, und einem großen Heer von Helden auf, um die Gefangene zu retten.
Als der Dämon Ravana von der Ankunft Ramas erfuhr, zitterte er vor Angst.
Er erhielt Ratschläge von zweierlei Art. Viele Hofleute drängten sich um seinen Thron und sprachen:
„Alles ist gut, habt keine Furcht, O Ravana. Ihr habt Götter und Dämonen besiegt. Ihr werdet auch Rama und seine Gefährten, die Affen von Hanuman, ohne Schwierigkeit besiegen.“
Als die aufdringlichen Berater den König verlassen hatten, trat sein Bruder Vibhishan herein, kniete nieder und küsste seine Füße. Dann erhob er sich und setzte sich zur Rechten des Thrones.
„O mein Bruder“, sprach er, „wenn du glücklich leben willst und den Thron dieser schönen Insel Lanka behalten willst, gib die liebliche Sita zurück, denn sie ist die Gemahlin eines anderen. Geh zu Rama, bitte ihn um Vergebung, und er wird sein Gesicht von dir nicht abwenden. Sei nicht anmaßend und tollkühn.“
Malyavan, ein weiser Mann, vernahm diese Worte und war froh darüber. Er rief dem Dämonenkönig zu:
„Nehmt die Worte eures Bruders zu Herzen, denn er hat die Wahrheit gesprochen.“
„Ihr beiden führt Übles im Schilde“, erwiderte der König, „denn ihr stellt euch auf die Seite meiner Feinde.“
Und die Augen seiner zehn Köpfe blitzten vor solcher Wut, dass Malyavan mit Entsetzen aus dem Raum flüchtete. Der tapfere Vibhishan aber blieb.
„Herr“, sprach er, „im Herzen eines jeden Menschen gibt es sowohl Weisheit als auch Dummheit. Wenn Weisheit in seiner Brust wohnt, dann verläuft sein Leben gut; wenn es Dummheit ist, geht alles daneben. Ich fürchte, dass du Torheit in deiner Brust beherbergst, O mein Bruder, denn du leihst dein Ohr jenen, die dir einen schlechten Rat geben. Diese sind nicht deine wahren Freunde.“
Dann schwieg er und küsste die Füße des Königs.
„Elender!“ schrie Ravana. „Auch du bist einer meiner Feinde. Sprich nicht mehr solchen Unsinn zu mir. Rede mit den Einsiedlern in den Wäldern, aber nicht mit jemandem, der über alle Feinde siegreich blieb, mit denen er gefochten hat.“
Und während er schrie, versetzte er seinem tapferen Bruder Vibhishan einen Tritt.
Schweren Herzens erhob sich dieser und verließ den Palast des Königs.
Da er keine Angst kannte, hatte er offen zu Ravana gesprochen; weil der Zehnköpfige nicht zuhören wollte, hatte Vibhishan keine andere Wahl, als zu gehen.
Vibhishan Tat zeigte körperlichen Mut, denn er fürchtete nicht die Schläge seines Bruders. Aber es war auch eine Tat geistigen Mutes, denn er zögerte nicht, Worte auszusprechen, die die anderen Hofleute, die körperlich genauso tapfer wie er waren, nicht über ihre Lippen brachten. Diesen Mut des Verstandes nennt man moralischen Mut.
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Von solcher Art war der Mut von Moses, dem Führer Israels, der vom Pharao Ägyptens die Freiheit für das unterdrückte jüdische Volk verlangte.
Von solcher Art war der Mut von Mohammed, des Propheten, der seinen Glauben unter den Arabern verbreitete und sich selbst dann weigerte zu schweigen, als sie ihn mit dem Tod drohten.
Von solcher Art war der Mut von Siddhartha, des Erhabenen, der dem indischen Volk einen neuen und edlen Pfad lehrte