Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter

Zeitlose Geschichten aus aller Welt


Скачать книгу

Tai gegeben wurden. Er antworte mir folgendes: Wer sich seinen Lebensunterhalt verdient, braucht keine Gaben von Hatim Tai.“

      Warum also behauptete Hatim Tai, dass der Holzfäller ein besserer Mensch war als er selbst?

      Weil er dachte, es sei edler, zu arbeiten und für sich selbst zu sorgen, als an andere Geschenke zu verteilen, die weder Mühe noch Opfer kosten, und die Beschenkten überdies auch noch den Mut nehmen, ihren eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.

      Natürlich ist es ganz selbstverständlich, dass Freunde einander Geschenke machen; es ist auch richtig, dass starke Hände den Armen und Bedürftigen zur Hilfe kommen; aber ein gesunder Mensch sollte mit seinen eigenen Händen arbeiten und sie nicht für Almosen aufhalten. Das gilt natürlich nicht für diejenigen, die sich einem Leben in innerer Einkehr und der Suche nach Weisheit verschrieben haben.

      *

      Obwohl die Haltung des Holzfällers edel war, war sie doch weniger bewundernswert als die des persischen Prinzen, von dem ich euch erzählen möchte.

      Dieser Prinz lebte in alten Zeiten, und sein Name war Gushtasp.

      Er ärgerte sich sehr darüber, dass sein Vater ihn nicht so behandelte, wie es einem Thronerben zugestanden wäre, und verließ deshalb sein Heimatland und wanderte gen Westen. Einsam und hungrig, wie er war, erkannte er, dass er von nun an für sein Überleben arbeiten musste. Daher ging er zum Herrscher dieses Landes und sprach zu ihm:

      „Ich verstehe die Kunst des Lesens und des Schreibens und ich würde gerne als Schreiber für dich arbeiten.“

      Es wurde ihm gesagt, dass er einige Tage warten müsse, da zu diesem Zeitpunkt keine Schreiber gebraucht würden. Aber er war zu hungrig, um zu warten, und so ging er zu den Kameltreibern und fragte dort nach Arbeit. Jedoch brauchten auch sie keinen neuen Gehilfen, da sie aber seine Not erkannten, gaben sie ihm etwas zu essen.

      Ein wenig später hielt Gushtasp an der Tür eines Schmiedes und bot ihm seine Dienste an.

      „Hier“, sagte der Mann zu ihm, „du kannst mir helfen, dieses Eisenstück zu formen.“ Und er gab Gushtasp einen Hammer in die Hand.

      Der Prinz verfügte über eine enorme Kraft. Er hob den schweren Hammer, schlug ihn nieder auf den Amboss und zerschmetterte diesen beim ersten Schlag. Der Schmied raste vor Zorn und warf den Prinzen sofort hinaus.

      Und so wanderte Gushtasp in großer Not weiter umher.

      Wohin auch immer er sich wandte, nirgends konnte er sich nützlich machen.

      Schließlich traf er einen Bauern, der auf einem Kornfeld arbeitete. Dieser hatte Mitleid mit Gushtasp und gewährte ihm Essen und Obdach.

      Eines Tages verbreitete sich die Neuigkeit, dass die Tochter des Königs von Rum im heiratsfähigen Alter sei und alle jungen Männer von königlichem Geblüt zu einem Festmahl am Hofe des Königs eingeladen seien. Gushtasp entschloss sich, ebenfalls hinzugehen, und saß mit all den anderen zu Tisch. Die Prinzessin Kitaban verliebte sich auf den ersten Blick in ihn und gab ihm als Zeichen ihrer Gunst einen Strauß Rosen.

      Der König empfand eine heftige Abneigung gegen den armen Gushtasp. Er wagte zwar nicht, seiner Tochter die Heirat mit ihm zu verbieten, kaum, dass die beiden jedoch verheiratet waren, vertrieb er sie aus seinem Palast. So kam es, dass die beiden in den tiefen Wald zogen und sich eine Hütte nicht weit von einem Fluss erbauten.

      Gushtasp war ein großer Jäger. Jeden Tag überquerte er den Fluss mit einem Boot, erlegte einen Hirsch oder einen wilden Esel, gab die Hälfte der Jagdbeute dem Fährmann und brachte die andere Hälfte nach Hause zu seiner Frau.

      Eines Tages brachte der Fährmann einen jungen Mann namens Mabrin, der Gushtasp sprechen wollte.

      „Mein Herr“, sprach Mabrin, „ich möchte die zweite Tochter des Königs, die Schwester deiner Gemahlin, heiraten. Ich bekomme sie aber erst zur Frau, wenn ich den Wolf getötet habe, der die Ländereien des Königs heimsucht. Und ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll.“

      „Ich werde es für dich tun“, sprach Gushtasp, der Jäger.

      Er zog in die Wüste hinaus, und als er das Untier fand, erlegte er es mit zwei Pfeilen und schnitt ihm mit seinem Jagdmesser den Kopf ab.

      Der König kam, um die tote Bestie zu sehen, und in seiner Freude gab er Mabrin seine zweite Tochter zur Frau.

      Einige Zeit später brachte der Fährmann wieder einen jungen Mann, genannt Ahrun, der Gushtasp sehen wollte. Ahrun wollte die dritte Tochter des Königs heiraten, musste jedoch zuerst einen Drachen töten. Gushtasp versprach, auch diese neue Heldentat zu vollbringen.

      Er nahm einige Messer und band sie so zusammen, dass die Klingen wie ein Ball mit Stacheln nach allen Richtungen zeigten. Dann ging er auf die Suche und fand den feuerspeienden Drachen. Er schoss viele Pfeile auf das Ungeheuer ab, wobei er hin und her sprang, um den Klauen zu entgehen. Dann befestigte er die Kugel aus Messern an einem Speer und stieß sie dem Drachen in den Schlund. Der Drache schloss sein Maul und stürzte zu Boden, wo ihn der Prinz mit seinem Schwert erlegte.

      So konnte Ahrun die dritte Tochter des Königs heiraten.

      Es wird euch nicht überraschen zu hören, dass solch ein tapferer Prinz wie Gushtasp schließlich seinem Vater, dem König von Persien, auf den Thron folgte. Und es war während der Regierungszeit von Gushtasp, dass der heilige Prophet Zarathustra kam und den Persern den Glauben an Ormazd lehrte, den Herrn des Lichts, der Sonne und des Feuers sowie der Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit.

      *

      Ihr seht, dass Gushtasp nicht sofort seinen Platz und seine Bestimmung in der Welt gefunden hat.

      Er versuchte sich ohne Erfolg in vielen Dingen und erfuhr sogar die Feindseligkeit vieler Menschen, wie zum Beispiel die des guten Schmiedes.

      Schließlich erwarb er sich jedoch seinen rechten Platz im Leben und war in der Lage, anderen zu helfen, bis die Zeit für ihn kam, weise zu regieren. Und eben in der Hilfe, die er anderen zuteil werden ließ, zeigte er einen edleren Charakter als der Holzfäller, von dem wir vorhin hörten; der Holzfäller nämlich war damit zufrieden, nur für sich selbst zu arbeiten. Gushtasp war auch besser als der großzügige Hatim Tai, denn statt vom Übermaß seines Reichtums abzugeben, setzte der persische Prinz die Stärke seiner Arme ein und riskierte sogar für andere sein Leben.

      Niemand verdient mehr Hochachtung als jemand, der durch eigene Kraft nicht nur für seine eigenen Bedürfnisse, sondern auch für das Wohlergehen und das Glück derer sorgt, die um in sind.

      Achtet den Vater, ob Ingenieur oder Holzfäller, Schriftsteller oder Arbeiter, Händler, Schmied oder Forscher, der durch seiner Hände Arbeit, welche es auch immer sein mag, seinen Lebensunterhalt verdient und für das Wohlergehen seiner Familie sorgt.

      Achtet den Arbeiter, der sowohl seinen Interessen als auch denen seiner Kollegen dient, indem er sich mit ihnen zu Arbeitsgemeinschaften oder Gewerkschaften zusammenschließt, die dem Einzelnen ermöglichen, sein Recht zu wahren, indem nicht die einsame schwache und hilflose Stimme eines Einzelnen sich erhebt, sondern der mächtige Chor von Vielen.

      Diese Arbeitnehmervereinigungen lehren die Werktätigen, sich auf ihre eigene Stärke zu verlassen und einander zu helfen.

      Auch ihr, liebe Schulkinder, bereichert euren Verstand, indem ihr euch auf die Aufgaben konzentriert, die euch euer Lehrer stellt. Und während ihr nach besten Kräften die Stufen des Wissens erklimmt, lernt auch, dem Freund zu helfen, der weniger flink und geschickt ist als ihr.

      Im Märchen braucht man nur ein Zauberwort auszusprechen oder an einer Lampe zu reiben oder mit einem Zauberstab zu schwingen, um gute Geister herbeizurufen, die Menschen durch die Lüfte tragen, mit einem Augenzwinkern Paläste bauen und Armeen von Elefanten und Reitern aus dem Boden wachsen lassen.

      Aber unsere eigenen Bemühungen vollbringen noch viel größere Wunder: Sie schenken dem Boden reiche Ernten, zähmen wilde Tiere, graben Tunnel durch Berge, bauen Deiche und Brücken, errichten Städte, lassen Schiffe die Meere durchqueren und Flugzeuge den Himmel durchfliegen; kurz,