Falk Stirkat

Der belogene Patient


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sich eine exponentiell verlaufende Funktion besser vorstellen zu können, sei hier an das alte Märchen vom König und dem Schachbrett erinnert.

      Als Belohnung für seine Dienste gewährte ein König seinem Höfling einen Wunsch – ganz egal was, er dürfe sich eine Sache aussuchen. Nun ging der Herrscher natürlich davon aus, der Untertan wolle Gold, Silber, Edelsteine oder die Prinzessin zur Frau. Aber all das war nicht sein Wunsch. Der Mann war »bescheiden« und wünschte sich lediglich ein paar Körner Reis. Als Menge gab er folgende Berechnung an: Er wolle, dass der König ein Reiskorn auf das erste Schachfeld lege. Daneben sollte er die doppelte Menge, also zwei platzieren, dann wieder die doppelte Menge – also 4, dann 8, dann 16 und so weiter und so fort. Der König lachte, schien ihm der Wunsch doch viel zu bescheiden. Doch schnell merkte er, was dahintersteckte. Als die Reiskörner ausgezählt waren, besaß der Untertan nicht nur das ganze Königreich, sondern alles, was der König jemals besessen hatte und je besitzen würde. Sie können ja selber mal ausrechnen, welch enorme Anzahl an Körnern da zusammenkommt. Der Knackpunkt ist, dass alles am Anfang ganz harmlos aussieht: 1, 2, 4, 8, 16 ... Da sich die Zahlen aber nicht linear vermehren, sondern immer im Vergleich zum Vorwert verdoppeln, baut sich eine derartige Funktion ganz plötzlich rapide auf – eben exponentiell – und ist nicht mehr zu kontrollieren.

      THERE IS NO GLORY IN PREVENTION

      Obwohl dieser Satz schon lange vor der Corona-Pandemie als wichtiger Leitsatz der Epidemiologie bekannt war, gibt es wohl niemanden, der enger mit der unangenehmen Wahrheit »There is no glory in prevention« verknüpft ist, als Prof. Christian Drosten (obgleich er nie Entscheidungen getroffen hat, das waren die Politiker). Bereits in einer seiner ersten Podcast-Sendungen machte der Wissenschaftler auf das Problem der fehlenden öffentlichen Anerkennung der Präventionsmedizin aufmerksam. Denn obwohl präventive Maßnahmen bei so gut wie allen Erkrankungen letzten Endes mehr Leben retten als jede Medizin, lässt sich deren Wirkung doch schlecht messen und noch viel schwieriger kommunizieren. Das Problem liegt in der Sache selbst. Wenn Prävention, also medizinische Vorbeugung, funktioniert, dann sorgen die damit verbundenen Maßnahmen hauptsächlich für Unmut in der Bevölkerung. Denn sie bedeuten mehr oder weniger große Einschränkungen für die Menschen, ohne dass diese einen offensichtlichen Nutzen sehen. Das beste Beispiel ist hier die zunehmende Impfmüdigkeit vieler. Funktioniert die Prävention aber nicht, dann werden sehr schnell Rufe nach Konsequenzen laut.

      Demos gegen Untätigkeit – Hauptsache auf die Straße rennen!

      Stellen Sie sich nur einmal vor, die Entscheidungsträger hätten die Situation im März 2020 anders bewertet, ihnen wäre die Freiheit des Einzelnen wichtiger gewesen als die Gesundheit vieler. Wer hätte sich für das Ergebnis rechtfertigen wollen? Die gleichen Leute, die heute als vermeintliche Grundrechtsaktivisten auf die Straße gehen und lautstark die Abschaffung der Maskenpflicht fordern, hätten in einem solchen Fall (Achtung, Wortwitz!) kein Blatt vor den Mund genommen und den Politikern vorgeworfen, wirtschaftshörig zu sein und große Konzerne zulasten der Gesundheit der Bevölkerung zu bevorzugen. Ach, was wäre dann losgewesen? Und das Problem ist, dass es immer dieselben sind, die schimpfen und sich betrogen fühlen – egal, ob zu viel oder zu wenig Vorsorge betrieben wird.

      Es lässt sich also festhalten: Funktioniert die Prävention, dann wird sie als unnötig wahrgenommen, geht sie schief, werden die Zuständigen als verantwortungslos hingestellt. Denken Sie an den Sicherheitsgurt im Auto. Wer würde den abschaffen wollen, weil die Zahl der Verkehrstoten stetig abnimmt? Ein anderes Beispiel wäre die Frage der Existenzberechtigung der Feuerwehr. Auch wenn es nicht brennt, ist man doch ganz froh, wenn die Männer und Frauen in Rot Wache halten. Kein Mensch käme auf die Idee, die Abschaffung der Feuerwehr zu fordern, weil es ja kaum brennt und die Feuerwehr nur Geld kostet.

      Interessant ist auch, dass wir, vergleichen wir unsere Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie mit anderen Ländern, direkt sehen können, was passiert, wenn bestimmte Dinge durchgeführt werden oder nicht. Ein Bick nach Schweden oder in die USA müsste jeden, der auch nur statistische Grundkenntnisse besitzt, doch läutern. Aber stattdessen werden diese Länder von den Coronaleugnern als glänzende Beispiele hingestellt und die Zahlen so verdreht, dass jedem Mathematiklehrer schlecht würde.

      Nichtsdestotrotz scheint laut repräsentativen Umfragen, durchgeführt zum Beispiel für den ARD-Deutschlandtrend, die Mehrzahl der Menschen hinter den Maßnahmen des Jahres 2020 gestanden zu haben. Die Gefahr, dass dem emotional und subjektiv wahrgenommenen Wegfall von Freiheiten kein klarer Gegenwert gegenüberzustehen scheint, ist aber groß und wird, je länger eine Krisensituation andauert, immer größer. Jeder einzelne Mensch muss zurückstehen und Einschränkungen in Kauf nehmen. Das Resultat ist aber nicht einmal, dass die Dinge zumindest bleiben, wie sie sind, nein, sie werden schlimmer. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft kränkelt. Und das trotz der verordneten Maßnahmen (oder gerade wegen ihnen?!). Dass sich die Dinge viel schlimmer entwickeln würden, wenn man gar nichts täte, ist schwer zu erklären und noch schwerer zu beweisen. Es ist also durchaus eine Kunst, Prävention über einen langen Zeitraum als effektives Mittel zu kommunizieren – gerade, wenn sie so viel Verzicht fordert.

      

Info

      WISSENSCHAFTLICHE DISKUSSION VERSUS MEINUNGSMACHE

      Im Zuge der Diskussion, die im Internet immer wieder geführt wurde, wurde wissenschaftlich argumentierenden Menschen vorgeworfen, ihren Universitätsabschluss vorzuschieben, um Kritiker mundtot zu machen. Dieses Argument lässt sich tatsächlich nur in Teilen entkräften, weil es schlicht einer gewissen naturwissenschaftlichen Basisausbildung bedarf, um komplizierte mathematisch-wissenschaftliche Denkmodelle in Ansätzen zu verstehen. Um sich als ernstzunehmender Gesprächspartner am Diskurs zu beteiligen, benötigt man eben die Fähigkeit, wissenschaftliche Publikationen zu lesen (häufig sind diese auf Englisch verfasst) und die Zahlen zu interpretieren. Natürlich gibt es auch »Nicht-Wissenschaftler«, die das können. Bei einem derartig komplexen Thema wie einer Pandemie lassen sich viele Zusammenhänge allerdings nicht von Laien erfassen. Dies wollen die meisten aggressiven Coronaleugner nicht einsehen. Sie vertrauen lieber auf Schlagzeilen von digitalen Meinungsmachern und glauben, die echten Wissenschaftler enthielten ihnen Wahrheiten vor.

      DIE NEUE NORMALITÄT

      Viele Menschen tun sich schwer, mit dem klarzukommen, was wir als »neue Normalität« bezeichnen und was im Zuge der Lockerungen oder während der Lockdown-Maßnahmen das öffentliche Leben bestimmt. Und obwohl man natürlich darüber diskutieren kann, inwiefern das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder das Meiden von Großveranstaltungen wirklich eine Einschränkung im Leben eines Menschen darstellt, sollte es in einer Demokratie schon gute Gründe für die Beschneidung von Freiheitsrechten geben. In diesem Zusammenhang war die Kommunikation einiger Wissenschaftler in den Anfangstagen des Infektionsgeschehens taktisch sicher nicht ganz klug. Etwas hochnäsig wurde behauptet, OP- oder gar die sogenannten Community-Masken (meist selbst produzierte Stoffmasken) hätten für die Eindämmung der Pandemie keinerlei Bedeutung und würden die Allgemeinheit nur verunsichern. Bei diesem Thema kommt wieder das alte Credo zum Tragen: Wissenschaft ist eine dynamische Angelegenheit. Noch nie hatte jemand die Auswirkungen einer Mund-Nase-Bedeckung auf die Ausbreitung einer weltweit grassierenden Infektion untersucht.

      AHA rettet Leben

      Im Gegensatz zu den Maßnahmen des social distancing, von denen wir aus Erfahrungen mit der Spanischen Grippe wussten, dass sie funktionieren können (wenn auch deren Nutzen in einer globalisierten Welt nicht gänzlich klar war), hatte niemand jemals den Effekt dieser neuen Mund-Nase-Bedeckung belegen können. Außerdem sah man die Sache von Anfang an aus der falschen Perspektive. Bis heute ist nämlich eines völlig klar: Eine einfache Gesichtsbedeckung schützt niemanden vor einer Infektion. Aber: Wenn alle den Mundschutz tragen, dann wird andersrum ein Schuh daraus, denn die Gesichtsmaske schützt andere vor dem Infizierten und bremst auf diese Weise die Ausbreitung des Virus signifikant ein. Dies konnte übrigens in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien