Norman Davies

Verschwundene Reiche


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Mythen ein. Es hallt wider in zahlreichen nordischen Sagen; es liegt auch der Sage der Nibelungen zugrunde, oder wie die Nordmänner sie nannten, der Niflungar, der Nachfahren der Nefi und Verwalter eines legendären Burgunderschatzes. Gundahar kehrt hier wieder als Gunnar, und Gunnars Schwester Gudrun wird nach ihrer Heirat mit Atli (Attila) die Stammmutter eines berühmten Geschlechts.

      In dem zur Lieder-Edda zählenden Atlilied (Atlaqviða) werden zahlreiche Ereignisse und Namen erwähnt, die charakteristisch sind für das 5. und 6. Jahrhundert, unter anderem auch Gunnar und Gudrun.21 In der germanischen Tradition dagegen ist das Niflheim (»Dunkle Welt«) von kriegerischen Riesen und Kleinwüchsigen bevölkert. Nybling ist der ursprüngliche Hüter des Schatzes; Gundahar wird zu Günter, Gudrun zu Kriemhild, und Kriemhild heiratet Siegfried (»Sieg des Friedens«), den Sohn von Sigmund und Sieglind. In diesen später entstandenen Mythen und Sagen werden die Burgunder oft noch als Franken bezeichnet. Das Nibelungenlied aus dem späten Mittelalter ist durch eine Mischung aus Fakten und Fantasie geprägt, doch der grundlegende historische Zusammenhang wird in der modernen Geschichtswissenschaft kaum noch bestritten:

      Viel Wunderdinge melden die Mären alter Zeit

      Von preiswerthen Helden, von großer Kühnheit,

      Von Freund und Festlichkeiten, von Weinen und von Klagen,

      Von kühner Recken Streiten mögt ihr nun Wunder hören sagen.22

      Nach dem Massaker bei Borbetomagos verliert sich die Spur der Burgunder vorübergehend, doch bald taucht sie wieder auf in Berichten über die Schlachten zwischen Aetius und den Hunnen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Gruppe von burgundischen Kriegern von den Hunnen gefangen genommen und zum Kriegsdienst gezwungen wurde, während andere unter dem neuen König Gundioch (reg. 437–474) in römische Dienste traten. Burgunder kämpften somit auf beiden Seiten in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Juni 451 (siehe dazu S. 31) zwischen dem römischen General Aetius und den Hunnen, wo Gibbon zufolge »das Schicksal der gesamten westlichen Zivilisation auf dem Spiel stand«. Nach seinem Sieg versprach Aetius Gundioch ein Reich in der Provinz Sabaudia (eine alte Form des heutigen Savoyen, siehe dazu Kapitel 8). Dieses Mal ließen sich die Burgunder mit offizieller Erlaubnis im Römischen Reich nieder, wenn vielleicht auch eine größere Zahl der Überlebenden von Borbetomagus ungeordnet nach Süden floh und die kaiserliche Zusage nur den vollendeten Tatsachen Rechnung trug. Sabaudia erscheint nicht auf der Liste von Bryce, und es stellt sich die Frage, warum er die Gebiete von Gundahar und Gundioch nicht als eigenständige Reiche erwähnte. Sie genügen seiner Definition eines geografischen oder politischen Namens, der »zu bestimmten Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten« verwendet wird. Die Kenngrößen im Falle von Gundahar lauteten »Anfang des 5. Jahrhunderts, Niederrhein«, bei Gundioch »Mitte des 5. Jahrhunderts, Oberrhein und Saône«. Es gab keine Überschneidungen. Gundiochs Herrschaftsgebiet wird heute entweder als das »zweite föderierte Königreich« oder als das »letzte unabhängige burgundische Königreich« bezeichnet.23

      Die Grenzen des zweiten burgundischen Reiches dehnten sich rasch aus. Das ursprüngliche Zentrum war Genava (Genf) am Lacus Lemanus (Genfer See), wo die Burgunder in ein Gebiet einwanderten, das kurz vorher durch die Vertreibung eines helvetischen Stammes frei geworden war. Kurze Zeit später wandten sie sich der Region am Zusammenfluss der Flüsse Arus (Saône) und Rhodanus (Rhône) im Herzen Galliens zu. Im Verlauf eines Jahrzehnts hatten sie sich in Lugdunum (Lyon), Divio (Dijon), Vesontio (Besançon), Augustodunum (Autun), Andemantunum (Langres) und Colonia Julia Vienna (Vienne) angesiedelt. Grenzfestungen in Avenio (Avignon) und in der Nähe des Rhône-Deltas sowie bei Eburodunum (Embrun) in den Bergen sicherten eine geschlossene territoriale Einheit mit herausragenden Verkehrsverbindungen.

      Das wenige, was über die Burgunder zur Zeit ihrer Ankunft bekannt ist, stammt von einem gallisch-römischen Schriftsteller, der verfolgte, wie sie sich in seinem Heimatort Lugdunum niederließen. Sidonius Apollinaris dürfte 452, als er sie kennenlernte, ungefähr 20 Jahre alt gewesen sein. In seinen Briefen erwähnt er die »haarigen Riesen«, die »sieben Fuß groß« waren und die »in einer unverständlichen Sprache reden«.24 über diese burgundische Sprache wissen wir noch weniger. Einige Worte wurden in Gesetzestexten festgehalten (siehe unten), und die Bedeutung der überlieferten Namen der burgundischen Herrscher ist entschlüsselbar. Gundoband bedeutet »Tapfer in der Schlacht«, Godomar heißt »Berühmt in der Schlacht«. Einige heutige Ortsnamen lassen sich auf einen Personennamen zurückführen, an den die skandinavische Nachsilbe -ingos angehängt ist. Das Dorf Vufflens im Waadt beispielsweise wurde als »Vaffels Ort« übersetzt.25 Das ist nicht viel, an das man anknüpfen kann.

      In dem Jahrhundert, das zwischen dem Ende des ersten und dem Ende des zweiten Reiches lag, sind fünf Könige überliefert, die alle der alten Linie von Gibica entstammen:

      Gundioch/Gundowech (reg. 437–474)

      Chilperich I. (reg. 474–480)

      Gundobad (reg. 480–516)

      Sigismund (reg. 516–523)

      Gundimar/Godomar II. (reg. 523–534)

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      In hoc tumulo requiescat bonae memoriae errovaccus qui vixit anns XIII et mensis III et transit X KL septembris mavurtio viro clr conss sub unc conss brandobrigi redimitionem a dnmo gudonaro rege acceperunt.27

      Der erste Teil der Inschrift ist klar. Ein Junge namens Ebrovaccus, 13 Jahre und vier Monate alt, der »in diesem Hügel liegt«, starb, als Mavortius Konsul war. Der zweite Teil hat zu vielerlei Spekulationen angeregt. »Godomar war König«, ein Stamm mit keltisch klingendem Namen, die Brandobrigen, wurde entweder freigelassen oder freigekauft. Die frühesten burgundischen Münzen wurden Anfang des 6. Jahrhunderts mit kaiserlicher Lizenz in Ravenna geprägt; sie zeigen Gundobads Monogramm und den Kopf des römischen (byzantinischen) Kaisers. Somit bringen sie sehr anschaulich den Status eines rex als eines anerkannten kaiserlichen Stellvertreters zum Ausdruck.28

      Die Burgunderkönige betrieben eine geschickte Heiratspolitik. Gundioch verheiratete seine Schwester mit Ricimer (405–472), der zeitweilig Gehilfe von Flavius Aetius und de facto Gebieter des sterbenden Reiches war. In der folgenden Generation wurde Chilperichs Tochter Clothilda (474–545) mit Chlodwig verheiratet, dem König der Franken, zwölf Jahre bevor dieser bei Vouillé die Westgoten besiegte (siehe dazu S. 25ff.) Clothilda wurde später heilig gesprochen, weil sie ihren Gemahl dazu gebracht hatte, das Christentum anzunehmen. Sie ist in der Kirche St. Geneviève in Paris bestattet.29

      Chlothildas Onkel Gundobad, der sich mit dem Titel eines römischen Patriziers schmückte, erlangte die volle Kontrolle über sein Erbe erst nach einem dreißigjährigen Familienstreit, im Zuge dessen das burgundische Königreich aufgeteilt wurde und drei Zentren – Lugdunum, Julia Vienna und Genava – die Regierungsgewalt beanspruchten. Dieser Bürgerkrieg schwächte den jungen Staat, mit dem die Franken und die Westgoten daher leichtes Spiel hatten.30 Gundoband verdankte seine römische Laufbahn seinem Verwandten Ricimer. Ihm wurde die kurzlebige Ehre zuteil, einen Kaiser, Glycerius, auf den Thron in Ravenna zu setzen. Doch später war er die meiste Zeit damit beschäftigt, sich mit seinen Verwandten zu streiten. Immerhin konnte er sich durch Tributzahlungen die Franken vom Hals halten. Sein Bruder Godegisel konnte sich, mit Chlothildas Mutter Caretana an seiner Seite, bis zum Ende des Jahrhunderts in Genava behaupten. Danach stellte er die Tributzahlungen an die Franken ein und konzentrierte sich auf den Aufbau der Kirche und die Gesetzgebung. Zwei Gesetzesbücher werden ihm zugeschrieben, das Lex Romana Burgundiorum und das Lex Gundobada.

      Der Burgundische Codex (oder die Codices), der in 13 Manuskripten erhalten geblieben ist, ist bezeichnend für diese Zeit, in der die germanischen Stämme das Christentum annahmen, schriftkundig wurden und Gesetze kodifizierten.31 Anders